Schikane Nothilfesystem – oder wie ein Zürcher Projekt abgewiesenen Asylsuchenden helfen will
Im Kanton Zürich leben gut 600 Menschen mit einem negativen Asylentscheid. Unter sehr prekären Verhältnissen, wie eine aktuelle Untersuchung aus dem Kanton Bern vermuten lässt. Das Projekt «Kombi» des Zürcher Solinetz versucht, diesen Missständen entgegenzuwirken, indem es abgewiesene Asylsuchende mit Freiwilligen zusammenbringt. Weshalb das hochpolitisch ist.
Neugierig schauen sich die Menschen im Raum um. Einige sitzen still auf ihrem Stuhl, trinken einen Schluck afghanischen Tee, andere wechseln ein paar Worte mit der Sitznachbarin oder lächeln die Person gegenüber an. Ich setze mich neben eine junge Frau. In der Hand hält sie ein weisses Couvert, ihr Name steht darauf geschrieben. «Hier drin steht, wer mein:e Tandem-Partner:in wird», antwortet sie auf meinen fragenden Blick. Und ja, sie habe sich nicht zurückhalten können, lacht sie. Sie streckt mir ein Memorykärtchen mit einem Huhn entgegen. Was das bedeutet, werden wir erst später an diesem Abend erfahren.
Die Stimmung hat etwas von einem Speeddating. Doch heute geht es im Saal an der Stauffacherstrasse um etwas anderes als um die Liebe. Mitten ins Herz wird mich deshalb nicht der Beginn einer romantischen Geschichte, sondern die Schicksale der hier anwesenden Menschen treffen. Denn der Grund, weshalb sich die junge Frau neben mir und ungefähr 80 weitere Personen hier eingefunden haben, sorgt in der Regel eher für Herzschmerz statt für Hochgefühle.
Integriert statt isoliert
«Menschen mit einem negativen Asylentscheid leben in sehr prekären Verhältnissen, sie sind sozial isoliert und haben wenig Perspektiven», sagt Hanna Gerig von Solinetz. Der Verein aus Zürich setzt sich für geflüchtete Menschen ein und ist Mitinitiant des Projekts «Kombi», das abgewiesene Asylbewerber:innen und Freiwillige zusammenbringen will. Es gehe zuerst einmal einfach ums gegenseitige Kennenlernen und um Gemeinschaftsbildung, so Gerig. «Uns beschäftigt die Situation von abgewiesenen Asylsuchenden in Zürich schon sehr lange.»
«Wenn das einer Schweizerin oder einem Schweizer passieren würde, würden alle von Folter sprechen.»
Daniel Gmür, Jurist und Rechtsberater bei AsyLex
Die Erfahrung beim Tandemprojekt habe gezeigt, dass «Tandems» mit Personen ohne Aufenthaltsrecht für die Freiwilligen sehr herausfordernd seien und enger begleitet werden müssten, erklärt die Co-Geschäftsleiterin von Solinetz, denn das Nothilfesystem könne ganz schön viele Tücken haben: «Es gibt viele rechtliche Fragen und unauflösbare Probleme, die bei den Betroffenen zum Teil seit Jahren drängend sind und welche die Freiwilligen überfordern: Was machen mit unbezahlbaren Bussen wegen illegalem Aufenthalt? Was braucht man für ein gutes Härtefallgesuch?»
Mit dem Projekt «Kombi», das Anfang März 2022 startete, habe man sich deshalb zum Ziel gesetzt, nicht nur die Menschen zusammenzubringen, sondern auch wichtige Informationen zu vermitteln. Ausserdem gibt es ein Team von angehenden Sozialarbeiter:innen, an welche sich sowohl die Asylsuchenden als auch ihre Tandempartner:innen jederzeit wenden können. «Wir kombinieren verschiedene Unterstützungsformen von Solinetz, die sich bewährt haben», fasst die Mitinitiatorin zusammen.
«Menschenunwürdige» Verhältnisse
Das Solinetz übernimmt damit eine Aufgabe, die dem Gegenteil dessen entspricht, was der Bund von den Menschen mit negativem Asylentscheid erwartet – nämlich, dass diese so schnell wie möglich die Schweiz verlassen. Oder in den Worten der Nothilfeempfehlungen der Konferenz der kantonalen Sozialdirektor:innen (SODK): «Ziel aller Behörden muss die schnelle Rückreise dieser Personen in ihr Herkunftsland sein.» Diese Empfehlung kommt nicht von den Migrationsbehörden sondern von den Sozialdirektor:innen, welche damit die Einschränkung der Menschenwürde empfehlen, um den Betroffenen einen Anreiz zur Ausreise zu setzen. «Wenn das einer Schweizerin oder einem Schweizer passieren würde, zum Beispiel um einen Anreiz für eine Aussage im Strafverfahren zu setzen, wäre der Aufschrei gross und alle würden von Folter sprechen», sagt der Jurist Daniel Gmür von der Rechtsberatungsstelle AsyLex.
Das Problem scheint jedoch bereits dort zu beginnen, wo über das Aufenthaltsrecht entschieden wird: In den vergangenen zwölf Monaten fielen durchschnittlich 36 Prozent aller Asylprozssentscheide im Kanton Zürich negativ aus. Im Jahr 2020 lebten rund 6500 abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz – ungefähr 1000 davon im Kanton Zürich. Trifft ein negativer Entscheid ein, fühlten sich weder Bund noch Kanton oder die Gemeinden für die Geflüchteten, sondern nur noch für deren Wegweisung verantwortlich, so Gmür.
«Wir wollen nicht, dass die Freiwilligen sich den Druck machen, gleich alle Probleme anzugehen.»
Hanna Gerig, Mitinitiantin des Projekts «Kombi»
Weil dann das Sozialhilfesystem nicht mehr greift, erhält die betroffene Person oder Familie in der Schweiz sogenannte Nothilfe – in Zürich sind das 60 Franken pro Person und Woche. Da damit auch der Anspruch auf eine eigene Wohnung entfällt, wird sie in sogenannten Rückkehrzentren untergebracht. Gesetzlich schreibt die Nothilfeverordnung über Personen ohne Aufenthaltsrecht «Unterkunft, Nahrung, Kleidung, die Möglichkeit zur Körperpflege sowie die medizinische Versorgung» vor.
Die Unterkünfte befinden sich oft in Luftschutzbunkern unter der Erde oder an Orten, die schlecht angebunden sind. Weder Hanna Gerig noch Daniel Gmür erstaunt es deshalb, dass die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter die Zustände in den Notunterkünften in ihrem erst kürzlich veröffentlichten Bericht als «kritisch» bis «menschenunwürdig» bezeichnet. Die Untersuchung aus Bern könne man im Grundsatz auf Zürich adaptieren, so Gmür.
«Die Nothilfe ist eine Schikane»
Der Jurist begrüsst deshalb die Arbeit von Solinetz. Gerade die Perspektivlosigkeit für Menschen mit negativem Asylentscheid beschreibt er als «extrem belastend». Zudem brauche es dringend eine Sensibilisierung der Gesellschaft dafür, dass auch Abgewiesene noch immer Menschen mit Rechten sind. «Nur weil sie kein Aufenthaltsrecht haben, kann man ihnen nicht einfach ihre Menschenrechte absprechen», sagt Gmür.
Und im Nothilfesystem würden diese zwangsläufig immer wieder verletzt werden; beispielsweise mit der Meldepflicht in den Unterkünften. So sei es in den Rückkehrzentren unter anderem im Kanton Zürich üblich, dass die Bewohner:innen zweimal am Tag ihre Anwesenheit mit einer Unterschrift bezeugen müssen oder sich allgemein in der Unterkunft aufhalten müssen. Bei Fehlen kommt es zu Restriktionen bis hin zu einer Einstellung der Nothilfe. Für den Rechtsberater von AsyLex eine menschenverachtende Handhabung: «Damit wird umgangen, dass die Behörden eine solche Einschränkung eigentlich in einem rechtsstaatlichen Verfahren zum Beispiel als Eingrenzung oder Haft verfügen und gerichtlich überprüfen lassen müssten.»
Die einzige Möglichkeit für Betroffene, ihre Situation zu verändern, ist das Härtefallgesuch. Gemäss den Zahlen des Staatssekretariat für Migration (SEM) wurden im Jahr 2020 im Kanton Zürich 72 Gesuche aus dem Asylbereich gestellt – sieben davon abgelehnt, der Rest bewilligt. Doch diese Zahlen sind nicht vollständig, denn viele Gesuche schaffen es laut Gmür gar nicht bis ans SEM, sondern werden schon von den kantonalen Behörden abgelehnt. Diese Statistiken sind weder öffentlich zugänglich, noch konnte das Migrationsamt des Kantons Zürich auf Anfrage von Tsüri.ch sagen, ob darüber Buch geführt wird.
Grundsätzlich sind die Hürden für ein bewilligtes Härtefallgesuch hoch, zu hoch, findet Gmür: «Menschen ohne Aufenthaltsrecht dürfen in der Schweiz nicht arbeiten, gleichzeitig wird für die Bewilligung ihres Härtefallgesuchs die künftige finanzielle Selbstständigkeit vorausgesetzt.» Und auch sonst werde von den Behörden etwas erwartet, das die Ausgestaltung des Nothilfesystems kaum zulässt beziehungsweise aktiv verhindern will: nämlich, dass man als Asylsuchende:r in der Gesellschaft integriert ist. «Das ist doch Schikane», so der Rechtsberater. Das Projekt von Solinetz würde deshalb eigentlich «eine Lücke schliessen, die durch das System eigens geschaffen worden ist».
Der Mensch im Fokus
Hanna Gerig betont gegenüber den Freiwilligen, dass es mit «Kombi» leider nicht möglich sei, die Probleme von abgewiesenen Asylsuchenden im Grundsatz zu lösen: «Wenn die Tandems einfach zusammen Kaffee trinken oder spazieren gehen, ist das schon viel. Wir wollen nicht, dass die Freiwilligen sich den Druck machen, gleich alle Probleme anzugehen. Wenn es mit Kombi gelinge, eine grosse Gruppe von Geflüchteten während einem halben Jahr massgeblich zu unterstützen, wichtige Infos zu vermitteln und den Kreis der Menschen zu vergrössern, die mit abgewiesenen Asylsuchenden solidarisch sind, dann ist schon viel erreicht.»
Das Projekt sei gut angelaufen, erzählt Gerig einen Monat nach dem Abend im Saal der Reformierten Kirchgemeinde. Einige hätten sich bereits zum ersten Mal getroffen. Auch die junge Frau mit dem Huhn auf der Memorykärtchen hat ihren Tandempartner schon einmal wiedergesehen. Er hatte am Abend des Kennenlernens das passende Gegenstück.
Anm. d. Red.: Ursprünglich war im Lead von «knapp 1000 Menschen mit einem negativen Asylentscheid» die Rede. Diese Zahl stammte noch aus dem Jahre 2020 und wurde deshalb durch die aktuellste ersetzt. Die jetzige Angabe ist von Anfang April 2022.