«Es ist wichtig zu lernen, alleine sein zu können»
Wir wollten wissen: Wie geht es den Zürcher:innen wirklich? Ein Gespräch mit Psychotherapeutin Sabina Pedroli über den Umgang mit dem Alleinsein, Vorurteile gegenüber der Generation Z und die Frage, wie Angehörige von psychisch Erkrankten sich richtig verhalten.
Am kommenden Dienstag, 14. Februar, findet die Pitch Night unseres Fokus «Psychische Gesundheit» statt. Davor wollten wir von der Psychotherapeutin Sabina Pedroli vom Kantonalverband der Zürcher Psychologinnen und Psychologen (ZüPP) wissen, wie es um die mentale Gesundheit der Zürcher:innen bestellt ist. Grundlage ist eine Umfrage, die wir während der vergangenen Wochen in der Tsüri-Community durchgeführt haben.
Rahel Bains: Wenn Sie Bekannte auf der Strasse treffen und diese sich nach Ihrem Befinden erkundigen – antworten Sie jeweils ehrlich darauf?
Sabina Pedroli: Es kommt darauf an, wie nahe mir die Person steht. Meinen Arbeitskolleg:innen kann ich zum Beispiel gut sagen, wenn es mir nicht gut geht, ich schlecht schlafe und so weiter. Wenn es sich um einen Nachbarn aus einem 20-Parteien-Haus handeln würde, wäre ich wohl nicht so offen.
Hört man sich in der Stadt unter Bekannten um, stellt man schnell fest: Die Einnahme von Antidepressiva ist keine Seltenheit, im Gegenteil. Auch in unserer Umfrage sagten auf die Frage «Wie oft hast du dich im letzten Monat deprimiert oder niedergeschlagen gefühlt?» 50 Prozent «manchmal», 20,5 Prozent «meistens» und nur 4 Prozent «nie». Auf das Nachhaken: «Anhand deiner vorherigen Antworten scheint es dir aktuell nicht besonders gut zu gehen. Stimmt das? Wie geht es dir «wirklich»?», sagten 83 Prozent: «Stimmt, mir geht es nicht gut!». Ist es um die mentale Gesundheit der Zürcher:innen derzeit wirklich so schlecht bestellt? Und falls ja, weshalb?
Es ist wichtig zu definieren, was es heisst, Antidepressiva zu nehmen. Das bedeutet nämlich nicht, dass man sich zudröhnt oder nach der Einnahme im 7. Himmel schwebt. Das Medikament gibt lediglich ein wenig «Boden» und hilft dabei, Stimmungsschwankungen besser auszubalancieren. Es ist zudem immer eine Frage der Dosierung.
Und ja, wenn man Studien liest, auch aus Deutschland, stellt man fest: Die Menschen fühlen sich gesamthaft mehr belastet und sind verunsicherter. Das ist ein Problem. Hinzu kommt, dass das Thema der psychischen Gesundheit immer mehr enttabuisiert wird und die Leute mehr darüber sprechen. Die Pandemie hatte zudem vor allem bei Kindern und Jugendlichen einen grossen Einfluss auf die psychische Gesundheit. Es werden immer mehr Angststörungen diagnostiziert und die Nachfrage nach Therapieplätzen ist riesig. Was es dringend braucht, sind mehr ambulante Anlaufstellen. Wie und wie schnell dieses Angebot erweitert werden kann, ist jedoch die grosse Frage – auf bundes- wie auch auf kantonaler Ebene.
In unserer Umfrage wollten wir von der Community zudem wissen, wie oft sie sich im letzten Monat allein gefühlt haben. Ganze 42 Prozent antworteten mit «manchmal» und nur 9 Prozent fühlten sich «nie» alleine. Leben wir in Zürich zu anonym und isoliert – anders als zum Beispiel auf dem Land?
Es wäre spannend gewesen, diese Frage vor der Pandemie zu stellen. Viele meiner Patient:innen, die zu jener Zeit studierten, haben sehr unter der damit verbundenen Einsamkeit gelitten. Das ständige alleine vor dem Bildschirm sitzen war einschneidend. Vieles ist hybrid geblieben, auch in der Berufswelt. Das schafft Abstand, den man auf dem Land wahrscheinlich weniger hat. Dort trifft man beim Rausgehen eher auf Menschen, die man kennt, man sagt sich auf der Strasse «Grüezi». Eine Anekdote: Eine 80-jährige Patientin ging während der Pandemie jeden Tag spazieren. Irgendwann erzählte sie mir: «Gestern sagte mir jemand richtig Grüezi. Wie schön!». So ein Gruss ist nicht zu unterschätzen, er löst ein Zugehörigkeitsgefühl und eine Verbundenheit aus.
Nicht alle können gleich gut mit dem Alleinsein umgehen. Die einen packen ihre Freizeit mit Verabredungen voll, die anderen wiederum geniessen die Zeit mit sich alleine ganz bewusst. Und manche haben grosse Mühe damit, alleine zu sein.
Das Vollpacken der freien Tage mit Verabredungen kann eine Flucht sein. Aber nur schon zwei fixe Termine in der Woche können gegen das Einsamkeitsgefühl helfen. Einmal Volleyball spielen, einmal ein Abendessen mit einer Freundin zum Beispiel. Wichtig ist aber auch zu lernen, alleine mit sich selbst sein zu können. Sich selbst genug wertvoll zu sein ist Lebensqualität und hat auch mit Selbstfürsorge zu tun.
«Jede:r Fünfte leidet einmal im Leben an Depressionen, jede:r Zehnte an Angststörungen.»
Sabina Pedroli, Psychotherapeutin
Auf die Frage «Anhand deiner vorherigen Antworten scheint es dir ziemlich gut zu gehen. Stimmt das? Wie geht es dir «wirklich»?» sagten 17 Prozent «Stimmt nicht… aber will nicht drüber sprechen!». Offenbar sprechen zwar immer mehr Menschen über die eigene mentale Verfassung, aber noch nicht alle.
Es ist etwas am Aufbrechen, das Thema wird enttabuisiert und auch Männer sprechen immer öfter über ihre Grenzen und Ängste. Im Vergleich zu früher wird also schon viel mehr auf die psychische Gesundheit geachtet, aber noch immer nicht genug. Immerhin: Die Jüngeren, also die Generation Z, sind sich dessen mehr bewusst. So verlangen sie zum Beispiel auch Arbeitsbedingungen, die dem Rechnung tragen.
Generation Z wird oft auch als «Generation Snowflake» bezeichnet. Ihr wird nachgesagt, extrem sensibel und emotional verletzlich zu sein. Was sagen Sie dazu?
Dieser Begriff ist sehr wertend, als seien sie Mimosen, die an der Sonne schmelzen. Es ist gut, wenn man sich mit dem Thema «Psychische Gesundheit» auseinandersetzt, denn: Jede:r Fünfte leidet einmal im Leben an Depressionen, jede:r Zehnte an Angststörungen.
Sie sind seit fast 30 Jahren als Psychotherapeutin tätig. Sind die Probleme noch die gleichen oder haben einige Erkrankungen abgenommen beziehungsweise andere zugenommen?
Es sind mehr Existenzängste vorhanden. Stichworte Corona, Klimawandel, Krieg. Diese Verunsicherung hinterlässt Spuren. Die Veränderungen kommen viel schneller, als sich unser Gehirn daran anpassen kann. Was in den letzten Jahren sicher zugenommen hat, sind die sozialen Ängste, die mit der Frage verbunden sind, was andere von einem denken. Zum Beispiel ist es für viele wichtig, wieviele Likes man in den sozialen Medien erhält. Diese Selbstoptimierung nimmt sehr viel Energie in Anspruch. Und apropos Pandemie: Seit Beginn der Coronamassnahmen habe ich begonnen, Online-Therapien anzubieten.
Wie haben sich diese bewährt?
Ich arbeite nicht nur im Gespräch, sondern auch mit Körpertherapien. Und weil ich auf dem Bildschirm die Körpersprache der Patient:innen nur schwer erkennen kann, ziehe ich die Arbeit vor Ort vor. Trotzdem können Online-Therapien eine gute Ergänzung sein. Etwa dann, wenn Patient:innen krank sind oder unter einer sozialen Phobie leiden, aufgrund derer sie nicht aus dem Haus gehen können. In diesem Fall kann die Online-Therapie eine Vorbereitung darauf sein, um später in die Praxis zu kommen.
Die Umfrageteilnehmenden mussten meist nur wenige Wochen auf einen Therapieplatz warten. Müssen Sie viele Anfragen ablehnen? Und was kann das für Betroffene einer psychischen Erkrankung bedeuten?
Seit Beginn der Pandemie erhalte ich fast täglich Anfragen, also viel mehr als zuvor. Die meisten muss ich auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten, ich bin ausgebucht. So wie die meisten Therapeut:innen im Kanton Zürich. Es gibt jedoch Ambulatorien, die Patient:innen, denen es sehr schlecht geht, aufnehmen müssen. Was viele zum Beispiel nicht wissen: Auch das Universitätsspital Zürich ist bei akuten dringenden psychiatrischen Notfällen eine Anlaufstelle oder das Ärztefon, das mit der:dem diensthabenden Psychiater:in verbindet. Zudem ist das Angebot der Dargebotenen Hand oder der Kinder- und Jugendberatung von Pro Juventute zu empfehlen. Oft hilft es ja bereits, wenn man mit jemandem sprechen kann. Das beruhigt und schafft Verbundenheit.
«Als Therapeutin lernt man, mit den Energien der Patient:innen umzugehen und die schweren Geschichten nicht zu nahe an sich heranzulassen.»
Sabina Pedroli
Was können Angehörige von psychisch Erkrankten tun? Eine Betroffene sagte in der Umfrage, sie fühle sich «überfordert, alleine und isoliert».
Man kann kommunizieren, dass man sich ernsthafte Sorgen macht, zum Beispiel so: «Mir fällt auf, dass du mehr Alkohol trinkst als sonst, das macht mir Sorgen.» Wichtig ist hierbei, nicht auf eine therapeutische Schiene zu geraten und das Gefühl zu haben, die Person behandeln zu können. Man kann zwar unterstützen, wenn aber die eigenen Kompetenzen überschritten werden, muss man zurücktreten. Auch um sich selbst zu entlasten.
Um die Work-Life-Balance steht es bei den Umfrageteilnehmenden «mittel gut». Stress auf der Arbeit oder in der Schule ist mit 65,8 Prozent an oberster Stelle der Stimmungskiller. Wie kann man selber testen, wie belastet man derzeit ist?
Mit Internet-Fragebögen kann man gut abklären, ob die Gefahr besteht, ein Burnout zu erleiden. Zeichen können sein: Man macht mehr Fehler, ist weniger effizient, schläft schlecht und ist am Morgen nicht erholt. Man fühlt sich ausgelaugt, zieht sich sozial zurück – es ist ein Teufelskreislauf. Die Unternehmen bieten diesbezüglich noch immer viel zu wenig Anlaufstellen oder Informationsveranstaltungen an.
Ihr beruflicher Alltag ist bestimmt ebenfalls herausfordernd. Wie finden Sie einen Ausgleich?
Als Therapeutin lernt man, mit den Energien der Patient:innen umzugehen und die schweren Geschichten nicht zu nahe an sich heranzulassen. Ich achte auf eine gute Psychohygiene. Für mich bedeutet das, über den Mittag Sport zu treiben, um das Gehirn durchzulüften. Und dann ist da auch noch meine Familie oder Freund:innen, die mir neue Energie geben.
Wie schwierig ist es für Sie, abends nach einem Tag voller Therapiestunden diesen Wechsel ins Familienleben hinzukriegen?
Ich habe kein Problem damit. Wie Ärzt:innen, die nach einem Tag auf der Notfallstation nach Hause kommen, muss auch ich die Patient:innen jeweils zurücklassen. Das heisst nicht, dass man gleichgültig und unempathisch ist. Es ist mehr ein Selbstschutz, damit man weiter funktionieren kann.