«Antidepressiva helfen mir dabei, mich selbst zu sein»
Antidepressiva gelten als Wunderpillen: Sie gehören zu den meist verschriebenen Medikamenten in der Schweiz. Auch für die 24-jährige Zürcherin Olivia gehören die Tabletten zum Alltag – und das seit fast zehn Jahren.
Auf der Werdinsel in Zürich, jenem Landstück, das die Limmat für eine kurze Zeit in zwei Teile trennt, fühlt sich Olivia* wohl. Sie sei oft hier, alleine, mit Freund:innen, ihrem Partner. An diesem Morgen sind nur wenige Menschen unterwegs, ein Dalmatiner schnüffelt an einem Grasbüschel, eine Frau kauert auf einem Stein neben dem Wasser. Olivia stellt ihr Fahrrad ab und wir schlendern am kahlen Ufer entlang. Die Landschaft erwacht allmählich aus dem Winterschlaf.
Im Frühling lebt es sich leichter, findet Olivia. Doch sie benötigt nicht nur wärmere Temperaturen und längere Tage, um ihren Alltag zu bewältigen. Die 24-Jährige nimmt zusätzlich jeden Morgen eine Tablette ein, die ihr helfen soll, ihre Gefühle besser zu ordnen. Egal, ob Winter oder Sommer, Sonne oder Sturm.
Glück im Unglück
Fast zehn Jahre ist es her, als Olivia zum ersten Mal Antidepressiva verschrieben bekam. Damals war sie noch ein Teenager, besuchte aber bereits seit einiger Zeit eine Psychotherapie. Der Wunsch nach medikamentöser Unterstützung sei von ihr aus gekommen, sagt sie. «Eine Freundin erzählte mir von ihren Erfahrungen mit Antidepressiva. Ich dachte, das könnte mir vielleicht auch helfen.» Ihre Therapeutin habe ihr Anliegen sehr ernst genommen. Ein Umstand, den Olivia heute als «unglaubliches Glück» beschreibt: «Ich kenne viele, die grosse Mühe haben, eine Fachperson zu finden, die zu ihnen passt.»
«Mir wurde plötzlich bewusst, dass das Medikament tatsächlich etwas in meinem Körper verändert.»
Olivia über ihren Absetzversuch
Trotzdem lief auch bei ihr nicht alles so rund, wie sie sich das zu Beginn vorgestellt hatte: Weil ihre Therapeutin nicht Medizin, sondern lediglich Psychologie studiert hatte, wurde Olivia an eine Psychiaterin überwiesen, wo sie ihre Beschwerden ein weiteres Mal erklären musste. Was in dem Teenager damals viel Unverständnis auslöste, ist in Schweizer Praxen nicht unüblich. Hierzulande ist es nur Ärzt:innen erlaubt, Medikamente zu verschreiben, weshalb Psychotherapeut:innen oft mit Psychiaterinnen oder Hausärzten zusammenarbeiten. Delegierte Psychotherapie nennt man das Modell im Fachjargon.
Als Olivia endlich das entsprechende Rezept in den Händen hielt, habe sich eine grosse Erleichterung eingestellt, erinnert sie sich. Dabei kamen die wirklichen Probleme erst danach.
Keine Wirkung ohne Nebenwirkung
Die ersten Nebenwirkungen spürte sie schnell: «Am meisten zu schaffen, machte mir die Übelkeit», erzählt Olivia. Ihre ganze Verdauung habe verrückt gespielt. In einer Situation, in der man sich eigentlich Besserung wünscht, ein denkbar schlechter Kompromiss. Die Psychiaterin habe sie darüber aufgeklärt, dass es zu unerwünschten Reaktionen kommen könne, dass diese jedoch so heftig sein würden, hätte sie nicht gedacht. Eine Erfahrung, die viele Menschen machen, die in psychischen Krisen mit Antidepressiva beginnen. Und wie bei ihnen, brauchte auch Olivia mehrere Anläufe, bis sie ein Präparat mit weniger Nebenwirkungen gefunden hat. Das «Trial-and-Error»-Prinzip hat auch in der Medizin Anwendung. «Es rechts Züg» sei das gewesen.
Auch die Psychopharmaka, die sie heute einnimmt, haben einen negativen Einfluss auf ihren Körper. Doch mit den gelegentlichen Kopfschmerzen, der Gewichtszunahme und Müdigkeit habe sie sich abfinden können. Sie hat nicht das Gefühl, dass Antidepressiva ihre Persönlichkeit verändert haben, trotzdem sagt sie auch: «Ich nehme schon mein halbes Leben lang Antidepressiva. Deshalb weiss ich gar nicht, wie ich ohne sie wäre.» Was in einigen Ohren traurig wirken mag, wertet die junge Frau keinesfalls negativ. «Das Medikament hilft mir, mich selbst zu sein», so Olivia. Dank den Antidepressiva sei sie «psychisch recht stabil», ihre Gedanken geordnet und ihre Stimmung ausgeglichen. Die kleine Pille am Morgen gebe ihr viel Sicherheit. Keine schlechte Eigenschaft in einer Welt, die kriselt.
Absetzen? Lieber morgen statt heute
Sie habe nicht geplant, für immer Antidepressiva zu schlucken. Im Gegenteil: Im Leben von Olivia hat es auch Phasen gegeben, in denen sie die Medikamente unbedingt loswerden wollte. 2019 versuchte sie einen ersten Absetzversuch. Damals sei sie zwar nach wie vor in Psychotherapie gewesen, musste jedoch von der Psychiaterin zu ihrer Hausärztin wechseln, da erstere ihre Praxis auflöste. Einer der Nachteile bei der delegierten Psychotherapie. Der Wechsel hat laut Olivia vieles verändert: «Die medizinische Begleitung beschränkte sich damals auf ein Telefonat alle sechs Monate, um mir ein neues Rezept holen zu können.» Mit ihrer Psychotherapeutin sprach sie kaum über das Thema, weil diese sich nicht gut in der Welt der Antidepressiva ausgekannt habe, so Olivia.
Als sich die damals 20-Jährige in dieser Zeit dazu entschliesst, das Medikament abzusetzen, will sie das so schnell wie möglich hinter sich bringen – und halbiert auf einen Schlag die Dosis. Ein fataler Fehler, wie sie am eigenen Leib erfahren sollte. «Es ging mir sehr schnell sehr schlecht: Die Depression kam wie aus dem Nichts zurück und auch mein Körper reagierte sehr stark auf die Reduktion der Dosis.» Schüttelfrost, Erschöpfung, Kopfschmerzen: Reaktionen, die an einen kalten Entzug erinnern. Nach wenigen Tagen entschied sich Olivia, die Pille am Morgen wieder einzunehmen. Heute weiss sie, dass sie die Antidepressiva hätte langsam absetzen müssen. Im Nachhinein sei man immer schlauer.
Trotzdem habe ihr die Erfahrung auch ein Stück weit die Augen geöffnet: «Mir wurde plötzlich bewusst, dass das Medikament tatsächlich etwas in meinem Körper verändert. Als Teenie machte ich mir nie gross Sorgen darüber», sagt Olivia. Die Erfahrung habe sie aber auch anderweitig geprägt. So sei die Angst davor entstanden, dass ein erneuter Absetzversuch ein zweites Mal im Desaster enden könnte: Die Gedanken plötzlich wieder wirr und die Grundstimmung gedrückt werden.
Irgendwann werde der Zeitpunkt kommen, an dem sie es versuchen wird, ist sich Olivia sicher. Heute oder morgen werde das aber nicht sein, denn: «Ich habe lieber ein gutes Leben mit Antidepressiva, als ein schlechtes ohne.»