Antidepressiva – und die Angst vor dem Absetzen
In der Schweiz werden so viele Antidepressiva verschrieben wie noch nie. Für Menschen in psychischen Krisen ist das Medikament oft der rettende Hafen. Doch nicht alle kommen ohne Probleme wieder davon los. Ein Erfahrungsbericht.
Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um Depressionen, Angststörungen und Suizid.
Die verschwommene Sicht, der plötzlich auftretende Schwindel, die Konzentrationsschwierigkeiten. Damit könnte ich mich abfinden. Den Kontrollverlust aushalten, durchstehen. Viel schlimmer ist die Traurigkeit, die sich wie eine schwarze Decke auf mich legt. Aus dem Nichts, ohne erkennbaren Anlass, ohne Einfluss von aussen. Es ist alles nur in meinem Kopf, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Und noch wichtiger: Es geht vorbei. Das sagt zumindest meine Therapeutin.
Vier Monate ist es her, seit ich begonnen habe, das Medikament abzusetzen, das mir vor über eineinhalb Jahren durch eine psychische Krise half. Nie hätte ich damals gedacht, dass es schwierig werden könnte, wieder ohne diese Wunderpillen auszukommen. Antidepressiva; es ist erst zu meinem Segen und danach zu meinem Fluch geworden. Damit bin ich nicht alleine.
Antidepressiva für alle
Im Jahr 2020 wurden in der Schweiz 197 Millionen definierte Tagesdosen Antidepressiva verabreicht. Das zeigt eine Untersuchung des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). Wie viele Menschen genau hierzulande die mit Abstand meistverschriebene Psychopharmakagruppe einnehmen, dazu gibt es keine aktuellen Studien. Eine Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik (BFS) zeigt aber: Fünf Prozent der über 22’000 Teilnehmenden nahmen in den sieben Tagen vor dem Befragungszeitpunkt Schlaf-, Beruhigungsmittel und Antidepressiva ein. Das war 2017.
Ein Blick nach Deutschland lässt vermuten, dass diese Zahl seither eher gestiegen als gesunken ist: Laut dem deutschen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Tom Bschor schlucken in unserem Nachbarland fast doppelt so viele Menschen Antidepressiva wie noch 2007. Eine Entwicklung, die laut verschiedenen Studien auf der ganzen Welt zu beobachten ist.
«Bei schwer depressiven Patient:innen können Antidepressiva dabei helfen, überhaupt empfänglich für eine Psychotherapie zu werden.»
Erich Seifritz, Direktor an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich
Die Entstigmatisierung von Depressionen oder Angstzuständen habe zu einer Zunahme von Verschreibungen geführt, versuchen Expert:innen den massiv wachsenden Konsum zu erklären. Die Rechnung scheint einfach: Nimmt die Gesellschaft psychische Erkrankungen ernst, machen auch mehr Menschen in Krisen eine Therapie, was dazu führt, dass mehr Psychopharmaka verschrieben werden.
Bschor will seinen Berufskolleg:innen nicht widersprechen: Es sei richtig und wichtig, psychische Erkrankungen zu entstigmatisieren. Trotzdem ist er der Meinung, dass Antidepressiva heute zu leichtfertig verschrieben werden. Als «einfache» Lösung – auch gegen leichte Depressionen, die in der Regel gut auf Psychotherapie ansprechen. Für die hohe Anzahl Patient:innen, die Antidepressiva einnehmen, hat er aber noch eine andere Erklärung: «Viele haben Schwierigkeiten, wieder davon wegzukommen.» Folglich gäbe es zwar immer mehr Menschen, die mit dem Medikament beginnen, aber kaum mehr Menschen, die wieder damit aufhören.
Das bessere Übel
Dass ich irgendwann wieder ohne die Pillen leben möchte, war mir bereits kurz nach meiner Diagnose klar. Zwar führten, wie so oft bei psychischen Erkrankungen, mehrere Faktoren dazu, dass meine Welt ins Wanken geriet, doch Hauptauslöser war ein spezifisches Ereignis. Ich kann mich noch gut an die Zeit nach dem Crash und vor dem Leben mit Therapie und Antidepressiva erinnern, als ich einfach nur noch existierte. Ich glich einer Fahne, die teilnahmslos in der Luft hängt. Schlaf hielt ich damals für meine Rettung – bis auch das nicht mehr ging.
An die ersten Wochen in Therapie kann ich mich kaum noch erinnern. In den Unterlagen meines damaligen Psychiaters ist von Schlafproblemen, einer Angststörung und mittelgradig bis schweren Depression die Rede. Für ersteres verschrieb er mir ein pflanzliches Schlafmittel, gegen die Panikattacken erhielt ich Temesta-Tabletten, ein starkes Beruhigungsmittel. Das Antidepressivum mit dem Wirkstoff Escitalopram sollte mir aus meiner Depression helfen. Auf meine Frage, ob Letzteres süchtig mache, verneinte mein Therapeut.
Der Gedanke daran, dass es ein Medikament gibt, das mich wieder «normal» und nicht abhängig macht, erleichterte mich. Skepsis hatte ich keine – Hauptsache es hilft.
Ein Allheilmittel
Bei Sophie* brauchte es mehr Überzeugungsarbeit, bis sie sich dazu durchrang, Antidepressiva gegen ihre Schlafstörungen einzunehmen. «Ich habe nachts praktisch kein Auge mehr zugetan. Dadurch wurde es unmöglich, meinen Alltag zu bewältigen», so die Primarlehrerin, die lieber anonym über ihre Erfahrungen erzählen möchte. Sophies Therapeutin empfahl ihr daraufhin ein gängiges Antidepressivum, das stark schlafanstossend wirkt. Eigentlich eine Nebenwirkung des Medikaments; aber Sophie hat es geholfen und hilft es noch immer.
Off-Label-Use nennen Fachpersonen die Praxis, Arzneimittel für Erkrankungen zu nutzen, bei denen diese zwar nicht von den Behörden zugelassen sind, aber einen erwiesenen Nutzen haben. Und weil Antidepressiva anders als zum Beispiel die meisten Schlafmittel nicht abhängig machen, werden sie auch bei Beschwerden verschrieben, die nichts mit Depressionen am Hut haben. Dazu gehören neben Schlaf- auch Essstörungen, auch Migräne und chronische Schmerzen. Sogar bei Menschen, die mit dem Rauchen aufhören wollen, werden die Psychopharmaka eingesetzt.
Wie oft das von Schweizer Ärzt:innen gemacht wird, dazu gebe es keine Zahlen, so der Chefarzt und Direktor an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, Erich Seifritz. In einer Studie aus Kanada aus dem Jahr 2017 sprechen die Autor:innen von rund einem Drittel, wobei dort andere Bestimmungen gelten als in der Schweiz. Seifritz sieht in den Psychopharmaka grundsätzlich viel Potential – in der Off-Label Anwendung, aber vor allem zur Therapie von Depressionen.
Es sei ein gutes Zeichen, dass sich Antidepressiva als wirksam erweisen würden. «Gerade schwer depressiven Patient:innen können sie dabei helfen, überhaupt empfänglich für eine Psychotherapie zu werden», sagt Seifritz. Antidepressiva, ohne gleichzeitige Therapie zu verschreiben, empfehle er nicht. Auch, weil es zu Beginn der Einnahme zu einer gefährlichen Kombination aus mehr Antrieb und gleich bleibender negativer Stimmung kommen könne, «was wiederum das Risiko für Suizidgedanken erhöht», erklärt der Psychiater. Ein gefährliches Paradoxon.
Nebenwirkungen inklusive
Ich wollte immer leben. Als mich mein Psychiater vor seiner ersten Verschreibung über die Nebenwirkungen des Antidepressivums aufklärte, sprach er von Übelkeit, Verdauungsproblemen, Fieber und Unruhe. Dass es auch zu Reaktionen wie Selbstmordgedanken oder noch stärkeren Angstzuständen hätte kommen können, erfuhr ich erst in meinen Recherchen für diesen Text. Ich hatte Glück; meine Nebenwirkungen entwickelten sich im späteren Verlauf der Einnahme – und sie waren erträglich. Doch es gibt auch Patient:innen, die während der ersten Tage mit Antidepressiva durch die Hölle gehen.
Nach seiner ersten Tabletteneinnahme ass Nik Petronijevic über zwei Tage nichts, und danach nur Zwieback, so sehr fürchtete sich der 30-Jährige davor, erbrechen zu müssen. Das Erlebnis ist fast acht Jahre her, doch es hat sich eingebrannt. «Das Antidepressivum verstärkte meine Angstsymptome derart, dass ich wegen Herzrasen und Druck in der Brust auf die Notfallnummer der Psychiatrie anrief», so Petronijevic. Dort habe man ihn darüber aufgeklärt, dass das Medikament, das ihm eigentlich seine Angst nehmen sollte, für die Beschwerden verantwortlich ist. Dabei habe er seinen damaligen Therapeuten explizit danach gefragt. «Mach dir keine Gedanken, auch ein Aspirin hat Nebenwirkungen», lautete seine Antwort.
Dass praktisch alle wirksamen Medikamente unerwünschte Nebenwirkungen haben, werde oft vergessen, sagt Seifritz. Die ärztliche Kunst sei es, «das Wirk- und Nebenwirkungsprofil so auszuwählen, dass man die bestmögliche Kombination für ein Individuum findet», so der Spitaldirektor. Bedeutet auch: Eine gute Aufklärung und enge Betreuung ist unabdingbar.
Das Märchen des Serotoninmangels
Petronijevic überstand die Anfangszeit mit seinen verschriebenen Antidepressiva – die Suizidgedanken nahmen nach einigen Tagen ab und auch das Herzrasen wurde weniger.
Warum Psychopharmaka überhaupt solche Nebenwirkungen auslösen können, weiss man nicht genau. Auch wie genau sie wirken, konnten Forschende lange nicht eruieren. Als das erste Antidepressivum 1957 am Weltkongress der Psychiatrie in Zürich vorgestellt wurde, dachte man, die Wunderpille gefunden zu haben. Imipramin half vielen depressiven Patient:innen aus ihrem Loch.
Das Medikament wird zwar auch heute noch verschrieben, es gibt mittlerweile jedoch bessere Präparate: Das Obsan spricht von 20 Wirkstoffen, die in der Schweiz als Antidepressiva zugelassen sind und in fünf verschiedene Untergruppen eingeteilt werden können. Mit Abstand am häufigsten verwendet werden sogenannte Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, kurz SSRI. Sie gelten als nebenwirkungsarm und gut verträglich.
«Das Gehirn reagiert nach dem Absetzen sensibler auf Trigger als vor einer längeren Einnahme.»
Tom Bschor, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin
Auch Escitalopram ist ein SSRI. Der Wirkstoff führt dazu, dass der Botenstoff Serotonin zwischen den Nervenzellen im Gehirn weniger schnell wieder entfernt wird. Anders als oft beschrieben, wird also nicht mehr Serotonin produziert, aber zwischen den Nervenzellenist Serotonin länger und in höherer Konzentration vorhanden. Das wiederum hat möglicherweise einen positiven Einfluss auf die Fähigkeit des Gehirns, sich selbst zu regenerieren und neu zu strukturieren. Expert:innen sprechen dabei von «Neuroplastizität». Sei diese eingeschränkt – beispielsweise durch Stress oder Trauer – steige das Risiko, an einer Depression zu erkranken, so aktuelle Studien.
Tatsächlich haben Forschende der Universität London in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) erst vergangenen Sommer die Annahme widerlegt, dass Serotoninmangel der Grund für Depressionen ist.
Im Nacken sitzt der Rückfall
Ich sitze im Tram auf dem Weg zur Arbeit. Am liebsten hätte ich mich in den Schlaf gerettet. Die Tränen stehen mir in den Augen, in meiner Brust klopft mein Herz wie wild, meine Hände sind eiskalt. Warum fühle ich mich so schlecht? Ist es wegen des Absetzens oder schlittere ich wieder in eine Depression? Spielt mir mein Körper etwas vor? Es sind Fragen, die ich mir in den letzten Wochen häufig gestellt habe. Ich solle weitermachen, rät mir meine Therapeutin: Zeit an der frischen Luft verbringen, Dinge machen, die mir Freude bereiten und vor allem Verabredungen nicht absagen. In den guten Phasen fällt mir das leicht, in den schlechten Phasen hingegen überkommt mich die Angst, dass ich es nicht schaffen könnte, die schwarze Decke wieder abzulegen. Weil alles so unglaublich anstrengend ist.
Diese Angst würden viele Menschen kennen, die einen Absetzversuch wagen, sagt Bschor. Sie sei gar dafür verantwortlich, dass einige ein Leben lang Antidepressiva einnehmen, «obwohl sie es gar nicht mehr brauchen». Wie auch bei den Nebenwirkungen, müssten Therapeut:innen deshalb während des Absetzens ihre Patient:innen eng betreuen und sie in schwierigen Momenten unterstützen. «In der Regel verschwinden die Entzugserscheinungen nach einigen Wochen wieder», so Bschor. Durchhalten lautet die Devise.
Macht Antidepressiva also doch süchtig?
«Nein», erklärt der Psychiatrieprofessor das Phänomen: «Nehmen Patient:innen über mehr als acht Wochen ein Antidepressivum ein, beginnt der Körper, eine Gegenregulation gegen den Eingriff in den Serotoninstoffwechsel zu entwickeln.» Werde das Medikament abgesetzt, entfalle kurzfristig die pharmakologisch verursachte Veränderung, die Gegenregulation des Körpers bestehe aber fort. Bschor vergleicht Antidepressiva gerne mit Magensäureblocker: «Auch hier kämpft der Körper gegen die medikamentös unterdrückte Säureproduktion an. Wird der Säureblocker abgesetzt, kommt es daher sogar zu einer stärkeren Magensäureproduktion als vor der Pharmakotherapie.» Abhängig würden die Medikamente einen trotzdem nicht machen. Dafür würde das «Craving» danach fehlen.
Wenn die Depression doppelt zurückschlägt
Gründe, weshalb Patient:innen nicht mehr ohne das Medikament können, gibt es aber durchaus, auch wenn Sucht keiner davon ist. Bschor ist es wichtig, über den sogenannten Rebound-Effekt aufzuklären. Denn es gibt Betroffene, bei denen eine Depression mit Antidepressiva zwar erfolgreich therapiert werden kann, sie nach dem Absetzen aber sofort und besonders heftig zurückkommt. Wie ein Ball, der unter Wasser gedrückt wird und nicht nur an die Oberfläche zurückkehrt, sondern über das Wasser hinaus springt, wenn er losgelassen wird – und das sofort.
Dass Menschen, die bereits eine depressive Episode erlebt haben, grundsätzlich einem höheren Risiko ausgesetzt sind, erneut zu erkranken, haben schon etliche Studien gezeigt. Das betrifft auch Patient:innen, die ohne Antidepressiva auskommen. Es gibt aber Hinweise dafür, dass das Medikament auch Schuld daran sein könnte: Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent schon in den ersten sechs Monaten nach dem Absetzen der Psychopharmaka einen Rückfall erleiden.
Warum das so ist, sei nicht vollständig geklärt, sagt Bschor, «man geht aber davon aus, dass das Gehirn nach dem Absetzen sensibler auf Trigger wie emotionalen Stress reagiert als vor einer längeren Einnahme». Ihm zufolge wäre es wünschenswert, wenn die Forschung versuchen würde, mehr über die exakten Mechanismen im Gehirn in Erfahrung zu bringen.
Ob auch ich einen Rebound-Effekt erfahren werde, kann meine Therapeutin nicht ausschliessen. Da ich erst einmal in meinem Leben an einer Depression erkrankt bin, räumt sie meiner Genesung jedoch gute Chancen ein. Aus Untersuchungen weiss man, dass sich das Risiko eines Rückfalls mit jeder depressiven Episode erhöht.
Noch immer ist es mir ein Rätsel, wie etwas, das sich nur in meinem Kopf abspielt, mich derart aus der Bahn werfen kann. Doch ich habe damit zu leben gelernt, auch wenn es anstrengend ist, in eine schwarze Decke gehüllt durch die Stadt zu gehen. Die Depression, sie gehört zu meinem Leben, auch wenn sie der Vergangenheit angehört. Die Wunderpillen hingegen werden hoffentlich bald Geschichte sein. Denn nichts ist für immer, auch wenn es sich manchmal nicht so anfühlt.
*Name der Redaktion bekannt
Anm. d. Red.: Gemäss einer Recherche der Blick-Zeitung aus dem Jahr 2020 hat Erich Seifritz in der Vergangenheit immer wieder Beratungshonorare von Pharmaunternehmen angenommen. Auf Anfrage des Blick sagte Seifritz damals: «Für jede honorierte Tätigkeit besteht ein Vertrag. Dieser beinhaltet das ‹Trennungsprinzip› und schliesst explizit eine Vorteilsnahme des Vertragspartners aus. Im Vertrag ist auch geregelt, dass mit der Tätigkeit als Referent oder Berater keinerlei Erwartung der Firma hinsichtlich Empfehlung oder Verschreibung von bestimmten Medikamenten verbunden ist.»
Über die Interviewpartner |
Erich Seifritz (61) ist Direktor und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Ausserdem lehrt und forscht er an der Universität Zürich. Als Vizepräsident der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression setzt sich der Psychiater für die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen ein. Tom Bschor (55) ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin. Er lehrt am Uniklinikum Carl Gustav Carus in Dresden. Als Vorstandsmitglied der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie (BGPN) beschäftigt sich der Psychiater seit vielen Jahren mit dem Thema Antidepressiva und hat im Jahr 2018 ein Handbuch zur richtigen Anwendung von Antidepressiva veröffentlicht. |
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