Katerina Sergatskova: «Ich will verstehen, warum Menschen böse werden»

Katerina Sergatskova ist Gründerin des ukrainischen Onlinemagazins Zaborona, das sich an ein junges Publikum richtet. Im Rahmen des Fokus Journalismus haben wir mit ihr über «böse» Menschen, westliche Medien und Journalismus zu Kriegszeiten gesprochen.

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Katerina Sergatskova will mit dem Onlinemagazin Zaborona Tabus in der ukrainischen Gesellschaft aufbrechen. (Bild: zvg)

Kürzlich hat Katerina Sergatskova mit einem Mann gesprochen, der Mariupol überlebt hat – eine ukrainische Stadt, die besonders unter Beschuss der russischen Armee steht. Das Gespräch hat die 34-Jährige sehr berührt. «Er wurde nicht gefoltert oder so. Aber die Art und Weise, wie er sein jetziges Leben beschreibt, die Bombenanschläge und den Krieg – das war bewegend.»

Sergatskova wurde in Russland geboren, war dort mit 18 Jahren Chefredaktorin einer regimekritischen Zeitung. Seit 14 Jahren lebt sie in der Ukraine. Nach Ausbruch des Krieges in der Ostukraine 2014 veröffentlichte sie vom Donbass und von der Krim aus diverse Reportagen und Artikel. 2018 hat sie das Onlinemagazin Zaborona gegründet. Nebenbei schreibt sie als freie Journalistin auch für andere Medien, wie kürzlich für die New York Times

Vergangenen Herbst ist ihr Buch «Goodbye, ISIS: What Remains is Future» erschienen. Darin geht sie der Rolle von ausländischen IS-Kämpfern aus der Ex-UdSSR nach. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf Themen wie Migration, politische Gewalt und Radikalisierung. «Ich interessiere mich für die dunkle Seite der Menschen», sagt sie. 

Lara Blatter: Was fasziniert dich an dieser dunklen Seite?

Katerina Sergatskova: Für mich ist es unverständlich, dass Menschen ihr ganzes Leben damit verbringen wollen, anderen zu schaden. Tausende von Menschen entscheiden sich täglich dafür, Dinge zu zerstören. Ich will mit meiner Arbeit verstehen, warum Menschen sich für die dunkle Seite entscheiden, warum sie böse werden. 

Hast du schon herausgefunden wieso?

Nein. Aber die sozialen Medien spielen beispielsweise eine wichtige Rolle. Ich sehe, wie einfach es ist, Menschen mit wenigen Worten in den Wahnsinn zu treiben. Sie werden so schnell wütend, nur wegen eines Triggers. Und das wiederum macht es einfach, die Gesellschaft zu manipulieren. Das ist vielleicht ein kleiner Teil des Problems. 

Glaubst du auch an das Gute in Menschen?

Natürlich. Das ist das Wichtigste, auch wenn momentan stündlich Menschen im Krieg sterben.

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Im Gespräch erzählte Katerina Sergatskova wie sie 2020 nach einer Recherche zu einer NGO untertauchen musste, weil sie bedroht wurde.

Seit dem Ausbruch des Krieges im Februar seien Medienschaffende in der Ukraine stark gefährdet, schreibt Reporter ohne Grenzen. 18 Medienschaffende seien seit Kriegsbeginn getötet, 13 verletzt und acht verschleppt oder gefangen genommen worden, hiess es Anfang April. Hast du auch schon daran gedacht, die Ukraine zu verlassen?

Als Frau gehöre ich ausnahmsweise zu den privilegierten Menschen in der Ukraine. Im Gegensatz zu meinem Mann, darf ich das Land verlassen. So konnte ich etwa unsere zwei Kinder ausser Landes bringen. Ich kann hin- und herreisen. Aber die meiste Zeit bin ich hier, lebe und berichte. Eigentlich haben wir unser Büro in Kyiv, aus Sicherheitsgründen sind wir momentan aber auch oft in Lwiw. Russland sieht die Medien als eine grosse Gefahr. Sie wollen uns zerstören. 

Mehr als 70 Medienhäuser hätten seit Ende Februar aufgrund der militärischen Aus­einandersetzungen mit Russland oder aus wirtschaftlichen Gründen schliessen müssen, erzählt Sergatskova weiter. Um Geld zu verdienen, würden viele Journalist:innen als Fixer:innen arbeiten. Fixer:innen sind lokale Medienschaffende, die für internationale Journalist:innen arbeiten – etwa als Übersetzer:innen, Guides oder Kontaktvermittler:innen.

Vor dem Angriff von Russland sei die Medienlandschaft in der Ukraine vielfältig gewesen, heisst es auf Reporter ohne Grenzen (RSF). Dennoch sei zu beachten, dass vor allem die landesweiten Fernsehsender einflussreichen Politiker:innen und Oligarchen gehören und diese die Medien im Kampf um wirtschaftliche und politische Macht nutzen. Jährlich veröffentlicht RSF eine Rangliste der Pressefreiheit von 180 Ländern – die Ukraine liegt da auf Rang 106, die Schweiz auf Rang 14.

Entgegen vielen anderen Medien ist Zaborona unabhängig und nicht von Oligarchen finanziert, sondern durch Spenden und via der Crowdfunding Plattform Patreon. Gut 20 Menschen stehen hinter dem jungen Medien-Start-up, darunter Redaktor:innen, Journalist:innen, Künstler:innen. Die Plattform kommt frisch daher, die Inhalte setzen sich mit gesellschaftlichen, persönlichen und sozialen Themen auseinander. 

Warum hast du Zaborona 2018 gegründet? 

Nach 2014 wurde es rund um den Donbass ruhiger. Die Menschen begannen, zum normalen Leben zurückzukehren. Kolleg:innen und ich bemerkten aber einige konservative Tendenzen in der Gesellschaft. Eigentlich waren wir auf einem guten, demokratischen Weg. Aber der Krieg im Donbass kreierte unsere eigenen Monster. So haben wir Zaborona gegründet. «Zaborona» heisst Tabu. Wir wollen keine Tabus. Wir wollen eine offene Diskussion über alles, was die Gesellschaft beschäftigt. 

Was heisst konservative Tendenzen?

Radikale Gruppierungen griffen beispielsweise Menschenrechtsaktivist:innen oder queere Menschen an – manchmal online, manchmal auf offener Strasse. Sie verprügelten sie. Da war uns klar, wir müssen das Bewusstsein für Menschenrechte schärfen. 

Vor dem Krieg habt ihr euch mit urbanen Geschichten oder sozialen Ungleichheiten beschäftigt – und auf einmal seid ihr Kriegsberichterstatter:innen. Wie geht man mit diesem Rollenwandel um? 

Wir haben unsere Rolle nicht gewechselt. Sie ist die gleiche. Klar, seit dem 24. Februar will Russland offiziell die Idee der Ukraine als einen demokratischen Staat zerstören. Und so berichten wir jetzt nur noch über den Krieg. Aber im Kern hat sich nicht viel geändert: Wir wollen das Bewusstsein für die Menschenrechte schärfen. Das ist es, was wir jetzt tun – und das war es, was wir zuvor taten. 

«Nie werde ich meinen Beruf aufgeben. Haters gonna hate.»

Katerina Sergatskova

Ich habe mir eure multimediale Geschichte «Generation trapped» aus dem Jahr 2020 angeschaut. Es geht um Ängste und Scham von Millenials, Drogen, Beziehungen, Geschlechtsidentität, Suizid. Brecht ihr mit solchen Geschichten ein Tabu?

Die Geschichte von Pasha hat viele Dinge angesprochen, die tabuisiert sind. Klar, seine Geschichte repräsentiert nicht eine ganze Generation, aber sie hat unser Publikum, das zwischen 25 und 40 Jahre alt ist, abgeholt. Wir sind eine komplizierte Generation. Wir haben viele Möglichkeiten, die unsere Eltern in der Sowjetunion nicht hatten. Dennoch sind wir gefangen – «Generation trapped». Unsere Hoffnung steckt in unseren Kindern, der nächsten Generation. Obwohl, oft vergessen wir die Klimakrise und diese wird uns, wenn wir nichts unternehmen, auch umbringen. 

Ein Tabu gebrochen hat Katerina Sergatskova im Sommer 2020, als sie eine Recherche veröffentlichte, die Verbindungen zwischen der ukrainischen NGO Stop Fake und Neonazis offenlegte. Stop Fake will die Verbreitung von falschen Informationen in der Ukraine stoppen und genoss besonders international einen guten Ruf, schreibt die Taz

Nach der Recherche hat ein ukrainischer Journalist Sergatskova vorgeworfen, eine russische Spionin zu sein. In den sozialen Medien bekam sie Gewalt- und Mordandrohungen, ihre Adresse wurde veröffentlicht. Sie tauchte daraufhin für eine Weile mit ihrer Familie unter. Und kehrte nach ein paar Monaten zurück. 

Hast du jemals darüber nachgedacht, das Dasein als Journalistin aufzugeben? 

Nie. Mein Grossvater war ebenfalls Journalist und mit 13 beschloss ich, auch Journalistin zu werden. Natürlich haben mich die Bedrohungen getroffen, aber nie werde ich meinen Beruf aufgeben. Haters gonna hate. Ich möchte die Geschichten von Menschen erzählen, die ungehört bleiben, in Not sind oder nach Gerechtigkeit suchen. Wir leben auf der Welt und nicht auf dem Mars (lacht). 

In einem Taz-Artikel kritisierst du westliche Medien. Was wünschst du dir von nicht-ukrainischen Journalist:innen?

Den Rahmen, wie über die Geschehnisse in der Ukraine berichtet wird, setzen seit Jahren nicht-ukrainische Medien. Unsere Sichtweise wird dabei oft übergangen. Beispielsweise wurde die Situation im Donbass jahrelang nicht als Krieg bezeichnet und die Annexion der Krim als «Wiederherstellung einer historischen Gerechtigkeit» dargestellt. Dabei war und ist das ein Verbrechen. Das Framing spielt eine grosse Rolle und kann auch die russische Diktatur fördern. Auf die Wortwahl kommt es an – Words matter.

Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.

Fokus Journalismus

Der Journalismus kriselt, wir reden darüber! Während des Monats April setzen wir uns intensiv mit dem Journalismus auseinander. Dabei beleuchten wir Themen wie die Gleichstellung im Journalismus, die Rolle von Diversität im Journalismus bei der Integration (und inwiefern es sie überhaupt gibt) und die Grenzen zwischen Klimajournalismus und Aktivismus. Im Rahmen des Fokusmonats finden eine Pitch-Night sowie drei thematische Podiumsveranstaltungen statt. Alle Infos findest du auf tsri.ch/journalismus

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