Rahel El-Maawi (AL): «Wir müssen die Frage der Zugehörigkeit reflektieren»
Im Februar 2023 wählt der Kanton Zürich sein Parlament neu. Im Zuge dessen stellen wir aus jeder Partei eine spannende Person vor, die kandidiert sowie in der Stadt Zürich lebt. AL-Politikerin Rahel El-Maawi findet, dass wir uns alle mit der Verantwortung, eine rassismuskritische Gesellschaft zu werden, auseinandersetzen sollten.
Rahel Bains: Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, für die AL zu politisieren?
Rahel El-Maawi: Mir ist die Veränderung zu einer gerechten Zukunft wichtig. Ein Weg führt auch über die Politik. Deshalb wirke ich hier in einem bescheidenen Ausmass mit.
Was war Ihr grösster politischer Misserfolg?
Ich hatte noch keine politischen Ämter inne, habe mich aber als Bürger:in für viele Vorlagen eingesetzt. Dass wir heute mit all den ökologischen Anliegen nicht weiterkommen und auch das Stimmvolk beziehungsweise die Stände Vorlagen abschmettern, ist enorm schmerzhaft.
Wohnen ist in der Stadt Zürich ein allgegenwärtiges Thema. Wie wohnen Sie und wie viel zahlen Sie für Ihre Bleibe – oder sind Sie gar Eigentümerin?
Ich setze mich seit je für bezahlbare Mieten ein und fordere ein Recht auf Wohnen, das ja in der Europäischen Sozialcharta verankert ist, ein. Deshalb engagiere ich mich auch im Vorstand der Genossenschaft Kalkbreite, die sich stadtpolitisch einmischt und an ungünstigen Lagen grandiose Entwürfe für Wohnen und Arbeit gestaltet. Selber hatte ich das Glück, zusammen mit Freund:innen eine WG gründen zu können – zu siebt bewohnen wir eine grosse Wohnung in der Kalkbreite. Das ist eine Wohnform, die ich für sehr zukunftsfähig halte: sie spart Ressourcen, stärkt den Zusammenhalt und die Fürsorge und wir bleiben trainiert in Aushandlungen. Dazu kommt, dass die günstige Wohnform es mir erlaubt, nicht darauf angewiesen zu sein, 100 Prozent zu verdienen. So kann ich auch politischen und gesellschaftsrelevanten unbezahlten Arbeiten nachgehen.
Die Strassen Zürichs sind ein hart umworbenes Pflaster. Wie sind Sie in der Regel in der Stadt unterwegs?
Natürlich mit dem Velo! Ich hoffe, irgendwann alle.
Welche Themen wollen Sie die kommenden vier Jahren aufs politische Parkett bringen?
In meinen Augen müssen wir ökologische, postkoloniale und queerfeministische Fragen absolut priorisieren und klare Erfolge erzielen. Dabei müssen wir darauf achten, dass wir nicht auf Kosten der neu zugezogenen Bevölkerung Fortschritte erzielen. Und international müssen wir alles daran setzen, dass alle Menschen in friedvollen Gesellschaften leben und sich entfalten können. Es braucht Nahrungssicherheit, Sicherheit vor Gewalt vorallem für Frauen und trans Menschen, es braucht demokratische Strukturen. Die Schweiz hat viele Ressourcen, wir müssen diese entsprechend einsetzen.
Vor wenigen Wochen haben wir die Züri Awards verliehen. Wen würden Sie zur/zum Zürcher:in des Jahres 2022 küren und weshalb?
Ich bin sehr zufrieden mit der Wahl von Yuvviki Dioh. Sie leistet wichtige Arbeit – nach Innen wie Aussen. Zusammen mit der Schauspielhaus-Crew übernimmt sie eine wichtige Vorbildfunktion in der Schweiz. Andere Länder haben diesen Weg der Öffnung bereits von 15 Jahren begonnen. Es ist toll, dass die Kulturbetriebe sich diese Gedanken heute auch stellen. Ich freue mich immer, wenn ich mir eine Produktion ansehen kann, in der Geschichten erzählt werden, die meine in einer Form widerspiegelt und in der ich auch BIPOC*-Schauspieler:innen sehe. Die junge Generation hat es verdient, dass wir eine solche Selbstverständlichkeit abbilden und sie alle mitmeinen – bei der Repräsentation kann eine solche Reise beginnen.
«Es gibt Leute, die an einem Status Quo festhalten und diesen verteidigen.»
Rahel El-Maawi
Sie engagieren sich in feministischen und antirassistischen Kontexten. Im November haben Sie zum Beispiel gemeinsam mit Mani Owzar und Tilo Bur das Buch «no to racism» veröffentlicht, das erste schweizerische Praxisbuch zum Thema «Rassismus in der Schule». Freut es Sie, dass das Werk eine solche grosse Resonanz erzeugt hat?
Auf jeden Fall. Diese Resonanz braucht es, damit sich viele Leute angesprochen fühlen, das Thema zu vertiefen. Nicht nur die Schule, sie ist ja ein Abbild der Gesellschaft, sondern wir alle sollten uns mit Rassismus, dessen Auswirkungen und der Verantwortung, eine rassismuskritische Gesellschaft zu werden, auseinandersetzen. Dieses Buch kann ein weiterer Anstoss dazu sein, die notwendigen Diskussionen zu führen und die nächsten Schritte zu gehen. Das Tolle ist: Endlich haben wir ein Grundlagenbuch auch mit Schweizer Bezug.
Welche Schritte müssen nun darauf erfolgen?
Ich wünsche mir, dass es in den PH Ausbildungen ausführliche Schulungen für werdende Lehrpersonen gibt. Dort sollen Fragen behandelt werden wie: «Wie thematisiere ich Rassismus?», «Wie schütze ich meine Schüler:innen vor Rassismus zum Beispiel auf Klassenfahrt?», «Wie reagiere ich bei rassistischen Lehrmaterialien?», vor allem bei letzterem Punkt werde die Lehrpersonen noch immer alleine gelassen. Wir müssen aber auch endlich einen umfassenden Diskriminierungsschutz erwirken, entsprechende Gesetze lancieren und als ganze Gesellschaft die Frage der Zugehörigkeit reflektieren – weil auch wir BIPOC sind «vo da».
Welche Stolpersteine mussten Sie in Zusammenhang mit Ihrer antirassistischen Arbeit bereits aus dem Weg räumen?
Es gibt Leute, die an einem Status Quo festhalten und diesen verteidigen. Und doch gibt es viele, die interessiert daran sind, die Realitäten anderer kennen zu lernen und sich auch für eine Teilhabe aller und Gerechtigkeit für alle – und nicht wie bisher für wenige – einsetzen. Wenn die Leute erfahren, dass es nicht um eine Schuldsuche sondern um gemeinsame Verantwortung geht, dann können wir auch gemeinsam eine rassismuskritische und diversitätssensible Zukunft entwerfen. Alle minorisierten Communities haben es verdient, dass wir diese demokratischen Fortschritte gehen.
*Black, Indigenous und People of Color