Wie Harald Naegeli mit seiner Kunst das Zürcher Kleingewerbe rettet
Auf Mieteinnahmen verzichten und ein Kunstwerk vom «Sprayer von Zürich», Harald Naegeli, geschenkt bekommen. So möchte der Künstler die Existenz von Zürcher Kleingewerbler*innen in Corona-Zeiten sichern – offenbar mit Erfolg: Bereits 20 Vermieter*innen haben bei seiner Aktion «Wolkegabe» mitgemacht.
Zürichs Strassen und Gassen sind leer, die Geschäfte geschlossen. Am Neumarkt etwa macht sich derzeit eine fast schon gespenstische Stille breit. Lediglich der kleine Tante Emma Laden mit dem blau-weiss gestreiften Sonnendach unter dem in einer Auslage getrocknete Tomaten, frischer Spargel, Granatäpfel und Zitrusfrüchte präsentiert werden, haucht den alten Gemäuern Leben ein.
Drumherum mussten alle kleinen Geschäfte vorübergehend schliessen. Etwa die Buchhandlung mit Büchern wie «Legendäre Roadtrips», «Homecamp» oder «Unterwegs zu Hause» im Schaufenster. Oder der mit einem hellblauen Gitter verriegelte Schmuckladen gegenüber. Geschlossen ist ebenfalls das «Antiquitäten-Stübli», in dem Kronleuchter die mit Rosen verzierten Teeservice und Silberlöffel beleuchten.
Bereits 20 Bilder verschenkt
In all diesen – vor allem kleinen Geschäften – fliessen aufgrund der vom Bund verordneten Corona-Zwangsschliessungen keine oder kaum noch Einnahmen in die Kassen. Gleichzeitig lassen sich die Ausgaben nicht einfach von einem Tag auf den anderen auf null senken. Einer der grössten Kostenblöcke bleibt für viele Geschäfte die Miete. Dass diese den betroffenen Geschäftsinhaber*innen erlassen wird, dafür möchte nun Künstler Harald Naegeli mit seiner dafür ins Leben gerufenen Aktion «Wolkegabe» sorgen.
Naegeli ist auch bekannt als «der Sprayer von Zürich». Der heute 80-Jährige möchte privaten Hauseigentümer*innen in der Stadt Zürich, die ihren Gewerbemieter*innen entgegenkommen und auf Mieteinnahmen verzichten, eine signierte Originalzeichnung im Wert von mehreren Tausend Franken schenken. Dies als «Dank für ihre Solidarität und ihren Gemeinsinn». (Die NZZ berichtete)
Seit dem Start der Aktion am 7. April wurden so bereits 20 Bilder, die derzeit im Musée Visionnaire ausgestellt werden, vergeben. «Wir klären in jedem einzelnen Fall bei der Mieterschaft ab, ob der Mietzins tatsächlich ausgesetzt wurde», so Wolkengabe-Projektverantwortliche Anna-Barbara Neumann. Die glücklichen Mieter*innen, die bislang von Harald Naegelis Projektidee und in diesem Zuge auch von der Kulanz ihrer Vermieter*in profitieren konnten, sind laut Neumann in vielen verschiedenen Branchen zu Hause. Es sind Coiffeursalons darunter, aber auch Gastrobetriebe oder Kleidergeschäfte – aus fast allen Kreisen der Stadt.
Am Montag durften die ersten Vermieter*innen ihre Kunstwerke – Zeichnungen auf Ingres-, Japan-, oder Baumrindenpapier gemalt – im Musée Visionnaire abholen. «Wir haben auch angeboten, die Bilder nach Hause zu liefern, jedoch haben dies bislang alle abgelehnt. Ich glaube, sie sind froh, einen Grund für einen kleinen Stadtspaziergang zu haben», so Neumann schmunzelnd. Natürlich sei man bei der Übergabe jeweils ums Social Distancing besorgt, fügt sie hinzu.
Vorläufer der Street Art
Harald Naegeli zählt zu den Vorläufern der Street Art in Europa sowie zu den ersten Künstler*innen, die sich politisch-motivierten Interventionen auf der Strasse widmeten. Aus Protest gegen das seiner Meinung nach monotone Stadtbild Zürichs sprühte Naegeli in den Siebzigerjahren sowohl auf öffentliche als auch private Wände der Stadt schwarze Strichfiguren und Parolen. Während die Öffentlichkeit und die Behörden seine Kreationen damals als illegal und böswillige Sachbeschädigung betrachteten, erkannten Intellektuelle und Künstler*innen schon damals deren künstlerischen Wert.
1981 wurde Naegeli wegen wiederholter Sachbeschädigung vom Zürcher Gericht zu einer hohen Geldstrafe und neun Monaten Haft verurteilt. Naegeli flüchtete nach Deutschland, doch nach einem internationalen Haftbefehl wurde er im Sommer 1983 schliesslich verhaftet. Trotz der Intervention zahlreicher Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Politiker*innen und einer von Naegeli selbst eingereichten Beschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission wurde er nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1984 in die Schweiz ausgeliefert. Nachdem er nach sechs Monaten Haft entlassen wurde, zog er nach Düsseldorf, wo er weiter als Künstler tätig war.
Meine Utopie für Zürich und die Schweiz ist weniger eingefleischte Unterwürfigkeit vor Beamten und Politiker*innen, mehr eigenes Denken und Selbstbewusstsein
Künstler Harald Naegeli
Von dort ist er vor wenigen Tagen wieder in seine Heimatstadt Zürich zurückgekehrt, um hier seinen Lebensabend zu verbringen – und seine vor über einem Jahr begonnene Illustration «der Totentanz» in den Grossmünstertürmen zu vollenden. Seit vergangenem Sommer ist das Projekt stillgelegt, Grund sind Unstimmigkeiten zwischen ihm und den Behörden.
Naegeli bezeichnet sich immer wieder gerne als «Wolkenutopist». Auf die Frage von Tsüri.ch, was für Utopien er für die Stadt Zürich im Kopf hat, antwortete er: «Meine Utopie für Zürich und die Schweiz ist weniger eingefleischte Unterwürfigkeit vor Beamten und Politiker, mehr eigenes Denken und Selbstbewusstsein.»
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