«Gewalt kommt in allen Schichten vor, auch in bürgerlichen Kreisen»

Letztes Jahr musste die Kantonspolizei Zürich 20 Mal pro Tag wegen häuslicher Gewalt ausrücken. Angebote werden aktuell überrannt und Frauenhäuser sind am Limit. Eine neue Kampagne der Polizei soll das Umfeld sensibilisieren, gegen häusliche Gewalt aktiv zu werden.

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Alle zwei Wochen wird eine Frau wegen ihres Geschlechts ermordet. (Bild: Tsüri.ch)

Es ist kurz vor 21 Uhr. Von Schreien aufgeschreckt, eilen Nachbar:innen ans Fenster und sehen, wie eine Frau vor ihrer Wohnung um ihr Leben kämpft. Die Wiederbelebungsversuche der Sanitäter:innen nutzen nichts, die 30-Jährige verstirbt noch vor Ort. Die Frau, die an jenem Mittwochabend im November 2022 in Zürich Altstetten vor ihrer Wohnung erstochen wird, heisst Fulya Demir. Sie hinterlässt ein 9-jähriges Mädchen und einen 7-jährigen Buben.

Der Täter ist ihr Ehemann, der 47-jährige Ahmet A. Diese Woche fand der Prozess statt, das Urteil gegen A. steht noch aus. 

Was sich wie ein tragischer Einzelfall liest, ist leider keiner: In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet, wie Recherchen von Stop Femizid zeigen. Jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. In den meisten Fällen kommt der Täter aus der Familie oder dem direkten Umfeld. Die Tat passiert in den eigenen vier Wänden. 

Nicht jede Form häuslicher Gewalt endet mit dem Tod. Auch Stalking, psychische Misshandlungen, Vergewaltigung und andere körperliche Übergriffe passieren jeden Tag hinter verschlossenen Türen. Im Kanton Zürich musste die Polizei im letzten Jahr 20 Mal am Tag wegen familiärer Streitereien oder häuslicher Gewalt ausrücken, im Jahr davor waren es 15 Mal. Im Tessin nahm die Polizei 2023 drei Anzeigen pro Tag auf. In Genf fast zwei. Gemäss polizeilicher Kriminalstatistik werden am häufigsten Tätlichkeiten registriert, gefolgt von Drohungen, Beschimpfungen und einfacher Körperverletzung.

Polizei lanciert Kampagne

Die Situation hat sich seit Corona kaum verbessert. Die Zahlen häuslicher Gewalt bleiben auf hohem Niveau. Vergangene Woche hat die Kantonspolizei gemeinsam mit den Stadtpolizeien Zürich und Winterthur die Kampagne «Stopp Häusliche Gewalt!» lanciert, die auf die Sensibilisierung des Umfeldes und der Nachbar:innen abzielt. 

Hämatom in Form eines Herzens
Die Plakatkampagne soll Nachbar:innen, Lehrpersonal und Angehörige auf häusliche Gewalt sensibilisieren. (Bild: Kantonspolizei Zürich)

Die Polizei will in erster Linie auf die bestehenden Angebote aufmerksam machen. Die Kampagne diene als Ergänzung zu den bestehenden Massnahmen des Regierungsrates und den Vereinbarungen der Istanbul Konvention, schreibt Alexander Renner, Sprecher der Kantonspolizei Zürich auf Anfrage. Sie soll den Zugang zu einfachen Unterstützungsangeboten wie der Opferhilfe bekannter machen und dadurch Menschen ermutigen, gefährliche Situationen oder Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt zu melden. Für Nachbar:innen, die Zeugen von häuslicher Gewalt würden, sei es häufig unklar, wie sie reagieren sollten.

Diverse Massnahmen sind geplant

Seit der Übernahme der Istanbul-Konvention im Jahr 2018 hat sich die Schweiz verpflichtet, aktiv gegen häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen vorzugehen. Kantonale Opferhilfestellen bieten landesweit Beratung und Unterstützung und bis Ende 2025 wird eine nationale Hotline rund um die Uhr zur Verfügung stehen, um Betroffenen Hilfe zu bieten. Zudem soll bis 2025 ein detaillierter Bericht über alle Tötungsdelikte in der Schweiz veröffentlicht werden. Im Kanton Zürich läuft aktuell ein Pilotprojekt zur elektronischen Überwachung von Beschuldigten und Opfern, das bei einer Annäherung einen sofortigen Polizeieinsatz ermöglicht. Dieser Versuch wird bis 2026 evaluiert, um über eine mögliche Ausweitung zu entscheiden.

Wie reagieren?

Von Gewalt betroffene Menschen befinden sich häufig in einer Spirale, aus der sie ohne externe Hilfe kaum allein wieder herausfinden. Für viele Betroffene ist es schwer, von sich aus das Gespräch mit einer nahestehenden Person oder einer Fachperson zu suchen. Es sei daher wichtig, die betroffene Person in einem ruhigen Moment allein anzusprechen, so Renner von der Kapo. Drängende Fragen wie «Warum trennst du dich nicht einfach?» sollten vermieden werden, um keinen zusätzlichen Druck auszuüben. Stattdessen rät Renner, behutsam auf die Person einzugehen und mögliche Hilfsangebote aufzuzeigen.

Menschen, die selbst von Gewalt betroffen sind oder den Verdacht haben, dass eine Person in ihrem Umfeld Gewalt erfährt, können sich an die Opferberatungsstellen wenden. Laut Sandra Müller, der Leiterin der Kantonalen Opferhilfestelle, sind es oft Nachbar:innen, Freund:innen oder Angehörige, die bei einem Verdacht auf Gewalt aus dem direkten Umfeld den ersten Schritt machen und Rat bei der Opferhilfe suchen. Die Hürde für betroffene Personen, selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei hoch – häufig aus Scham. «Gewaltopfer schämen sich für das, was ihnen angetan wird», erklärt Müller. Nicht zuletzt, weil Opfer von Gewalt zu sein, noch immer sehr vorurteilsbehaftet ist. Es ist deshalb wichtig, durch Kampagnen und Unterstützungsangebote nicht nur von Gewalt betroffene Menschen anzusprechen, sondern auch die Zivilcourage in der breiten Gesellschaft zu fördern.

Gewalt kennt keine sozialen Grenzen

«Häusliche Gewalt wird oft als ein Problem sozial schwacher Haushalte wahrgenommen», führt Müller aus. Diese Annahme sei jedoch falsch. «Gewalt kommt in allen Schichten vor, auch in bürgerlichen Kreisen.» Es gibt jedoch viele Faktoren, die Gewalt generell begünstigen. Dazu zählen Armut, soziale Unsicherheit oder Alkohol. 

Viele von Gewalt betroffene Menschen zögern, die Polizei einzuschalten, und leiden im Stillen weiter. Müller betont die Wichtigkeit der Opferhilfe, die kostenlose und vertrauliche Unterstützung bietet, ohne dass der juristische Weg nötig ist. «Es kann für die Opfer sehr belastend sein, die Polizei einzuschalten, weil sie bei einem Prozess die Gewalt, die sie erfahren haben, ganz genau schildern müssen und sie dadurch noch einmal durchleben müssen», so Müller. Je besser die Opfer darüber informiert sind, was sie bei einem allfälligen Prozess erwartet, umso höher sei die Wahrscheinlichkeit, diesen durchzustehen. 

Die Opferhilfe hat kürzlich eine Studie bei der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) durchführen lassen, die untersuchte, wie der Zugang zur Opferhilfe erleichtert werden kann. Ein zentrales Ergebnis der Studie war die Empfehlung, dass sogenannte Gatekeeper – also Personen, die im regelmässigen Kontakt mit potenziell Betroffenen stehen, wie Lehrer:innen, Gesundheitspersonal oder Psycholog:innen – gut über die Angebote der Opferhilfe informiert sein müssen. Diese Gatekeeper können eine Schlüsselrolle dabei spielen, den Betroffenen den Zugang zu Hilfe zu erleichtern.

Dunkelziffer hoch und Frauenhäuser voll

Auch die Frauenhäuser sind am Anschlag. «Die Zahl der Frauen, die Schutz suchen, hat in den letzten Monaten zugenommen. Gleichzeitig fehlen in der Schweiz genügend Schutzplätze», schreibt die Dachorganisation Frauenhäuser Schweiz und Liechtenstein (DAO) in einer Mitteilung.

Diese Beobachtung teilt auch Sandra Müller von der Opferhilfe. Sie sagt: «Unsere Beratungsangebote werden seit einigen Wochen, insbesondere von Frauen, nahezu überrannt.» Womit dieser akute Anstieg zusammenhängt, kann sich Müller nicht erklären. Häusliche Gewalt sei schon immer ein ernst zunehmendes Problem gewesen, erst während Corona jedoch medial gross aufgegriffen und so ins Zentrum des Bewusstseins gerückt. Dadurch würden Betroffene sich eher trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dennoch ist die Dunkelziffer hoch und Kampagnen, die auf häusliche Gewalt aufmerksam machen, von zentraler Bedeutung.

Korrektur: In einer ersten Fassung des Textes wurde fälschlicherweise geschrieben, dass die Kantonspolizei 2023 15 Mal pro Tag wegen häuslicher Gewalt ausrücken musste. Tatsächlich waren es 20 Mal.

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