#MeToo in Schweizer Filmbranche: «Stossen immer wieder auf die gleichen Widerstände»

In der Schweizer Filmbranche ist die #MeToo-Bewegung nicht wirklich angekommen. Doch bald können Filmemacherinnen ihre Erfahrungen auf einer Online Plattform publizieren. Dafür verantwortlich ist SWAN, ein Zusammenschluss weiblicher Filmschaffender. Regisseurin Gabriel Baur und Projektmanagerin Lotte Kircher über sogenannte «Buddy-Clubs», das verunsichernde Spiel mit den Nuancen, und darüber, weshalb Frauen in der Branche nicht auf Augenhöhe begegnet wird.

Gabriel Baur Filmbranche
Kämpft für mehr Gleichberechtigung in der Filmbranche: Gabriel Baur. (Bild: Aurélia Marine)

Auf den ersten Blick lässt sich die Ungleichheit nicht erkennen: An den Filmschulen sind die Geschlechterverhältnisse ausgeglichen und auch danach ist es für alle – egal ob Mann oder Frau – in etwa gleich schwierig, in der Schweizer Filmbranche Fuss zu fassen. Einen ersten Langspielfilm zu realisieren, gelänge gerade einmal 60 Prozent der Studierenden mit Abschluss, besagt eine Studie des Bundesamts für Kultur. Der zweite sei jedoch für Frauen bereits schwieriger zu realisieren als für Männer. Es bis zum fünften Film zu schaffen – für Frauen scheinbar eine beinahe unüberwindbare Hürde. Schlüsselpositionen wie Regie, Produktion und Drehbuch liegen dort bei unter 40 Prozent. 

Dass sich dies und noch viele andere Ungleichheiten in der Branche ändern, dafür setzen sich die Mitglieder des «Swiss Women’s Audiovisual Network» (SWAN) ein. SWAN begann 2015 als «Gendertaskforce-Gruppe» des ARF/FDS (Verband Filmregie und Drehbuch Schweiz), 2018 folgte die Gründung eines unabhängigen Vereins, der heute über 300 aktive Mitglieder aus der ganzen Schweizer Audiovisionsbranche umfasst. Ihr Ziel: Mehr Geschlechtergleichstellung und Diversität sowie bessere Arbeitsbedingungen für Frauen.

Um die Missstände sichtbar zu machen, wollen sie zudem eine Schweizer #MeToo-Bewegung starten. Denn diese habe hierzulande nie richtig Fuss gefasst. Kick off ist in etwas weniger als zwei Wochen nach der Vorstellung des Films «The Case You» samt anschliessendem Podium im Kosmos. Filmschaffende haben ab diesem Zeitpunkt die Möglichkeit, ihre Erfahrungen anonym auf einer Plattform zu teilen. Die Quotes werden jeweils gesammelt und anschliessend auf Instagram gepostet. 

Zwei, die sich aktiv bei SWAN einsetzen sind die Zürcher Regisseurin Gabriel Baur, Co-Gründerin, ehemalige Co-Präsidentin und aktuell Special Consultant bei SWAN, und Lotte Kircher, SWAN-Vorstandsmitglied und Projektmanagerin. Baur hat zahlreiche Projekte initiiert, darunter auch für jenes zum Thema #MeToo. «Es freut mich sehr, dass wir es nach jahrelangem Einsatz nun endlich realisieren konnten. Unsere Message soll möglichst viele erreichen – auf dem Weg zu einer egalitäreren Welt ohne Übergriffe.»

Rahel Bains: Weshalb haben es Frauen in der Schweizer Filmbranche noch immer schwerer als Männer? Und gibt es Unterschiede in den jeweiligen Sparten?

Lotte Kircher: Ich habe lange in und mit der internationalen Festivalbranche gearbeitet und dort festgestellt, dass zwischen zwischen Langfilm- und Kurzfilmfestivals grosse Unterschiede bestehen. Erstere sind sehr auf Profit ausgerichtet und kämpfen mit alten Strukturen. Der Kurzfilm ist eine offenere Branche, weil die Werke meist gleich nach dem Hochschulabschluss umgesetzt werden. Die Filme sind viel balancierter was Genderfragen angeht und grundsätzlich offener von der Thematik her. Offener ist man in der Branche auch bezüglich der Festivalleitung und den Auswahlkomitees. 

Frauen geraten immer wieder in Situationen, in denen ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet wird.

Lotte Kircher, Projektmanagerin

Was ich generell feststelle und was Studien von SWAN, vom Bundesamt für Kultur und weiteren Institutionen in der Audiovisionsbranche sichtbar machen: Die Frauen im Film handeln sich schlechtere Verträge aus, opfern sich viel mehr auf, trauen sich nicht, die alten Strukturen zu brechen. Sie leiden im Alltag extrem darunter, dass sie nicht ernst genommen werden. Dass, wenn es bei einem Anlass zu einem privaten Treffen kommt, dies mehr auf die Frauen zurückfällt, als auf die Männer. Dass lange nicht über solche Vorfälle und allgemeine Probleme gesprochen wird. 

Die Aufarbeitung dieser Themen ist extrem viel Beinarbeit und findet oft zu später Stunde an Apéros statt. An diesem Punkt wären Festivals und Organisator:innen in der Verantwortung zu sagen: Wir sammeln eure Anliegen und sorgen dafür, dass es nicht versandet. Deshalb launchen wir auch bald unsere #MeToo-Plattform: Um Fakten und Zahlen zu schaffen.

Wie haben sich einzelne Fälle konkret abgespielt?

Lotte Kircher: Frauen geraten immer wieder in Situationen, in denen ihnen nicht auf Augenhöhe begegnet wird. Es gibt Script-Berater, die einen zum Kaffeetrinken einladen, das sich dann nicht als «reines Arbeitstreffen» herausstellt. Das ist mir auch schon passiert. Viele Frauen trauen sich nicht, sich auf höhere Stellen zu bewerben, weil sie denken, ohnehin keine Chance zu haben. Weil sie anders auftreten und kritischer hinterfragen. Es gibt Fälle, bei denen man nicht einschätzen kann, was der Kündigungsgrund war oder weshalb eine Produktion nicht zustande gekommen ist. Man fühlt sich nicht ernst genommen, wenn man sagt: «Der hat mich angegraben» und andere finden: «Er war doch nur freundlich.» Es ist dieses Spiel mit den Nuancen, das so verunsichert und isoliert. Wenn es immer wieder kleine Stiche sind, denkst du, dass du nichts in der Hand hast. Du denkst, du bist verrückt. Es liegt an dir.

Gabriel Baur: Meine Kolleginnen und ich haben über die Jahre hinweg viele Geschichten erlebt, über die man sagen muss: Das kann und darf nicht sein. Weil wir immer wieder auf die gleichen Widerstände gestossen sind, habe ich irgendwann begonnen, auch gezielt politisch zu arbeiten und mich für Gleichstellung in der Branche einzusetzen. Dieses Engagement war nicht immer einfach, denn es gab eine Zeit, in der man das nicht gerne gesehen hat. 

Lotte Kircher: Es ist unglaublich, dass wir so viel ehrenamtliches Engagement nebenbei machen müssen, nur damit wir unseren eigentlichen Job zu normalen Arbeitsbedingungen ausführen können.

Gabriel Baur: Das betrifft sehr viele Frauen. Dieser immense Zusatzjob wird meistens nicht entlöhnt. Es gibt zwar viele Lösungsansätze, aber bis sich das ändert, müssen wir ohne grundlegende Finanzierung für die organisatorische Struktur politische Arbeit machen und das ist schwierig. Es braucht mehr strukturelle Gelder für Organisationen wie SWAN. Weil wir sonst ans Limit kommen. So werden wir Workaholics. (lacht)

Lotte Kircher: Das Problem ist: Wenn wir Kinder wollen und Partner:innen haben, welche auch in der Branche tätig sind, sind die auch überarbeitet. Und Gleichberechtigung heisst nicht, dass die:der Partner:in weniger arbeitet, sondern beide Vollzeit. Wie soll das gehen unter diesen Arbeitsbedingungen?

Gabriel: Das Kinderhaben ist eine grosse Herausforderung. Und noch viel zu oft sind es vor allem die Frauen, welche diese mit weniger Lohn, doppelter Belastung wegen Haushaltsarbeiten und einigem mehr abfedern müssen.

Lotte Kircher: Und ist mit der Grund, weshalb es von Frauen oft keinen zweiten Spielfilm gibt.

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Lotte Kircher hat bereits für viele internationale Filmfestivals gearbeitet. (Foto: zVg)

Immerhin sind die Zahlen der Studierenden an Schweizer Filmakademien ziemlich ausgewogen. Was passiert nach dem Studium? 

Gabriel Baur: In den Filmschulen ist die Zusammensetzung der Studierenden zwar paritätisch, aber danach, wenn es ums Filmemachen geht, wird es für Frauen ab dem zweiten Film wie gesagt bereits schwierig. Dabei sind die Arbeitsbedingungen entscheidend. Es geht um Fragen wie: Wie werden Filme ausgewählt? Wie gefördert? Wenn du eine weibliche Hauptakteurin hast, was man zwar öfters, aber noch immer zu wenig sieht, dann wird dieser Film oft nicht produziert. Man muss sich nur die gängigen «Best Film»-Listen anschauen. Dort sind fast nur Actionfilme oder Werke basierend auf Themen, die hauptsächlich männliche Stereotypen beinhalten, vertreten.

Lotte Kircher: Vor wenigen Wochen wurde eine Studie aus Hamburg publiziert, die besagt, dass die weiblichen Hauptrollen zwar zunehmen, aber noch immer nicht durch den Bechdel-Test durchkommen. Dieser Test wird angewendet, um die Stereotypisierungen weiblicher Figuren in Spielfilmen wahrzunehmen und zu beurteilen. Er klärt Fragen wie: Wie viele Frauen gibt es in den Filmen? Worüber sprechen sie –  über andere Themen oder nur über Männer? Laut der Studie bestehen 90 Prozent der Drehbücher den Test, wenn Frauen die Filme drehen. Wenn man alle Filme zusammen rechnet sind es nur noch 60 Prozent. 

Und sie zeigt auch, dass die Frauenrollen meist sehr flach sind, dass sie immer zusätzlich einen Lead haben und eher als Support fungieren, selbst wenn sie im Lead sind. Ihre Geschichte wird oft über andere Figuren definiert. Ein anderer wichtiger Punkt ist das Aussehen der Figuren. Frauen müssen in Filmen mit einer idealen physischen Erscheinung aufwarten, während es bei den Männern weniger streng genommen wird. 

Wer sich die beiden wichtigen Sektionen des letztjährigen Locarno Filmfestivals, dem wichtigsten der Schweiz, anschaute, musste auch dort nach Frauen suchen: Auf der Piazza Grande wurden 16 Filme gezeigt – nur zwei davon von Regisseurinnen. 

Gabriel Baur: Wir sind nicht da, wo wir sein sollten. Und das, obwohl es seit einigen Jahren beim Bundesamt für Kultur zwar mehr Möglichkeiten gibt in Form von Gender-Richtlinien und einer Art sanfter Quote. Wenn Projekte von gleicher Qualität eingeben werden, sollen Filme und Drehbücher von Regisseurinnen bevorzugt werden. SWAN ist eine «Driving Force» in dieser Entwicklung.

So führten wir – inspiriert von unseren französischen Kolleginnen – eine Charta für Festivals in der Schweiz ein. Sie verpflichtet, Gleichstellung bei der Auswahl und Programmierung durch Transparenz und Datenerhebungen zu erreichen, für mehr Sichtbarkeit von Filmen von Frauen. Das Locarno hat diese Charta ebenfalls unterschrieben. Wir fragen uns nach der letztjährigen Ausgabe deshalb schon auch: Was ist los? 

Habt ihr nochmals Rücksprache gehalten?

Gabriel Baur: Wir sagten klar, dass das inakzeptabel ist und führten ein Gespräch mit dem neuen Festivalleiter. Dieser ist zwar sehr offen, sagte aber, man habe einfach nicht mehr Filme von Frauen gefunden. Das Argument ist bekannt. Man muss dabei bedenken: Wie werden die Filme gefunden? Wer entscheidet, was gezeigt wird? Die Advisors, welche letztes Jahr Filme vorvisionierten, waren grösstenteils Männer, das trug sicher dazu bei. 

Wir möchten, dass der Diskurs endlich in einem anderen Klima stattfindet. Nur weil man über diese Vorfälle spricht, muss man nicht gleich in einem Opfernarrativ landen.

Gabriel Baur, Regisseurin

Lotte Kircher: Es ist ein strukturelles Problem, dieser «Buddy-Club», grosse Männergruppen, die befreundet sind und sich gegenseitig weiterhelfen und pushen, auch in Bezug auf Fördersummen, was ja erstmal nichts Negatives ist. Doch deswegen sind Datenerhebungen zum Thema Gleichstellung in der Branche so wichtig. 

Wenn du auf die Szene guckst, denkst du zuerst es läuft alles gut, weil die Frauen lange nicht über Missbrauch, Missstände und darüber, wie sehr sie sich an ein System anpassen müssen, das für sie nicht funktioniert, gesprochen haben. Es wird auch oft gesagt, es ist eine emotionale Debatte. Mit den harten Fakten in der Hand in Form der gesammelten Daten konnten wir aber sagen: «Hey Leute, wir sind nicht emotional oder hysterisch, hier sind die Fakten. Jetzt müssen wir damit arbeiten.» Das hat unheimlich viel angestossen. 

Lotte, du hast für zahlreiche Filmfestivals gearbeitet. Was für eine Note gibst du dem Zurich Film Festival in Bezug auf Gleichstellung?

Lotte Kircher: Der Game Changer-Award des ZFF ging letztes Jahr an eine Frau, der Lifetime-Award ebenfalls. Eine Rahmenveranstaltung des ZFF ist zudem auch auf starke Frauen in der Branche ausgerichtet. Das Festival engagiert sich, die Thematik wird auf Panels aufgegriffen. Doch auch dort hat man einen noch immer sehr mit Männern gesättigten Anteil, wie Entscheidungen getroffen werden.

Mit eurem Anlass am 19. März wollt auch ihr die Debatte anregen und Frauen aus der Filmbranche dazu ermutigen, lauter zu werden. Im Anschluss an die Vorpremiere zum Schweizer Kinostart von «The Case You» findet im Kosmos euer #MeToo Kick-Off-Podium statt. Der deutsche Film dokumentiert einen konkreten und skandalösen Machtmissbrauch in einer Schweizer Filmproduktion. Danach sprechen Persönlichkeiten, die selbst Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gemacht haben. Gleichzeitig lanciert ihr eure #MeToo Online Plattform, auf der Betroffene ihre Erfahrungen anonym teilen können. Weshalb braucht es eine solche Plattform?

Gabriel Baur: Wenn man heute mit #MeToo kommt, denken viele: «Das ist abgehakt, wir wissen davon.» Doch das ist es in der Schweiz leider noch nicht überall so. Öffentlich mit seinen Erfahrungen rauszugehen, finde ich etwas sehr Mutiges. Wir werden zwei Schauspielerinnen auf dem Podium zu Gast haben, die diesen Mut hatten und dadurch angreifbar wurden. Leider hat #MeToo oftmals dieses Anrüchige, wenn es um sexuelle Übergriffe geht.

Wir möchten, dass der Diskurs endlich in einem anderen Klima stattfindet. Nur weil man über diese Vorfälle spricht, muss man nicht gleich in einem Opfernarrativ landen. #MeToo betrifft uns alle. Es geht um das Arbeitsumfeld insgesamt. Es geht um Machtstrukturen, die Diskriminierung ermöglichen und Übergriffe durchgehen lassen. Vor allem geht es um Veränderung, um Lösungen, um Best Practice. Denn so können wir langfristig den Titel unseren Panels umsetzen: «Changing The Power Dynamics.»

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