Edwin Ramirez: «Die Pride muss wieder politischer werden»
Die Pride, einst ein politisches Statement, droht heute in kommerzieller Partystimmung zu versinken. Edwin Ramirez, Performance Künstler*in, queer und aktivistisch tätig, appelliert eindringlich: Jetzt ist die Zeit, die politischen Wurzeln der Pride wiederzubeleben.
Noëmi Laux: Das Motto der diesjährigen Pride lautet «Frei in jeder Beziehung». Was bedeutet für Sie Freiheit?
Edwin Ramirez: Frei sein heisst für mich, dass ich mich so zeigen kann, wie ich bin, ohne Angst vor Konsequenzen – wie etwa einen Job zu verlieren oder verbal oder körperlich angegriffen zu werden. Freiheit bedeutet für mich aber auch, Beziehungsformen jenseits der heteronormativen Kleinfamilie zu leben.
Ist es für queere Menschen schwieriger, ein freies Leben zu führen?
Es ist vor allem schwieriger, ein sicheres Leben zu führen. Es stört mich unheimlich, dass immer so getan wird, als sei Queersein etwas ganz Neues. Dabei gibt es Queers schon so lange, wie es die Menschheit gibt. Auch die Ehe als Institution ist nicht natürlich, sondern patriarchalisch gewachsen. Ich finde es beängstigend, wie die Gewaltbereitschaft gegenüber queeren Menschen zunimmt. Gerade kürzlich habe ich selbst einen Übergriff erlebt.
Zur Person |
Edwin Ramirez (34) ist Performance Künstler*in und setzt sich in der Co-Leitung des Vereins Netzwerk Avanti für die Rechte von queeren und behinderten Frauen und Mädchen ein. Ramirez ist nonbinär und neurodivergent. Im Konzept der Neurodiversität werden unter anderem Personen mit Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, oder Hochbegabung gezählt. |
Was ist passiert?
Ich war mit meiner Partnerperson auf dem Weg zu einer Party. Wir warteten aufs Tram, als uns plötzlich eine Gruppe Teenager dumm angemacht hat. Sie haben uns ausgelacht und antisemitisch beschimpft. In dieser Heftigkeit habe ich zum ersten Mal einen solchen Übergriff erlebt.
Wenn es in der Natur des Menschen liegt, queer zu sein, warum lebt die Mehrheit unserer Gesellschaft dann heteronormativ und binär orientiert?
Dass wir uns in klassischen Kleinfamilien bewegen, ist patriarchal gewachsen, vom Kapitalismus geformt und alles andere als natürlich. Ich persönlich möchte nicht in einer individualistisch ausgerichteten Welt leben, in der alle ihr eigenes, klar von den Nachbar:innen abgetrenntes Gärtchen haben. Ich glaube an die Gemeinschaft und bin überzeugt, dass wir für das Wohlergehen unserer Mitmenschen aktiv mitverantwortlich sind.
Am Samstag ist Pride. Es wird eine riesige Demonstration geben, queere Menschen aus der ganzen Schweiz reisen an. Werden Sie auch dort sein?
Ich werde sicher vorbeischauen, denke aber nicht, dass ich besonders lange bleibe.
Warum nicht?
Weil ich nicht weiss, wie viel Energie ich noch habe, da ich am Vortag schon beim feministischen Streik sehr stark involviert bin.
Kosten Sie Veranstaltungen wie die Pride oder der feministische Streik mehr Kraft, weil Sie im Rollstuhl sitzen?
Ja absolut. Mit dem Rollstuhl ist es für mich schwierig, in grossen Menschenmengen zurechtzukommen. Ich werde schnell übersehen und muss oft Leute anstupsen, um vorbeizukommen. Psychisch kann es auch belastend sein, längere Zeit unter vielen Menschen zu sein. Als neurodivergente Person erlebe ich häufig eine Reizüberflutung. Es gibt aber zum Glück Tricks, die mir helfen.
Und die wären?
Noise-Cancelling-Kopfhörer, die haben mein Leben wirklich verändert. Ich musste aber auch lernen, besser auf meinen Körper zu hören und meine Energie gut einzuteilen. Nicht immer und überall mitmachen zu können, kann oft zu Fomo (Fear of missing out) führen, ist für mich aber unvermeidlich, um am nächsten Tag nicht völlig ausgelaugt zu sein.
Was müsste sich ändern, damit sich alle Menschen wohlfühlen an der Pride?
Aus Sicht einer körperlich behinderten Person braucht es dringend mehr barrierefreie, öffentliche WCs in der Stadt. Ausserdem gibt es viel zu wenig Bänke und andere Sitzmöglichkeiten. Viele Menschen können aus diversen Gründen nicht lange am Stück gehen. Diese Menschen werden möglicherweise von einer Veranstaltung wie der Pride ausgeschlossen, da die Umstände es nicht zulassen
Und aus Sicht einer neurodivergenten Person?
Ich fände es wichtig, dass die Pride gezielt Rückzugsorte schafft, an denen es ruhig ist und man herunterfahren kann.
Eine häufige Kritik an der Pride ist, wie sie sich entwickelt hat. Die Ursprünge der Pride gehen auf die Stonewall Riots 1969 zurück. Das war ein politischer Aufstand einer marginalisierten Gruppe. Heute wird an der Pride vor allem gefeiert.
Das stört mich enorm. Es ist wichtig, dass wir mit unseren Anliegen eine breite Masse erreichen können. Gleichzeitig führt es dazu, dass die politischen Forderungen immer weniger Raum bekommen und sich die Pride zu einer kommerziellen Party entwickelt. Feiern und gemeinsam als Community Freude zu spüren ist wichtig, darf aber nicht mit einer Apolitisierung einhergehen. Ich war immer der Überzeugung, dass die kommerziellen Interessen an der Pride die politischen nicht überschatten dürfen. Heute bin ich fester davon überzeugt, denn je.
«Es macht mir Angst, wenn Menschen an der Macht sind, die Nonbinarität und Queerness infrage stellen und aktiv bekämpfen.»
Edwin Ramirez
Warum?
Wir befinden uns in einem extremen politischen Rechtsrutsch. In ganz Europa werden rechtsextreme und faschistische Stimmen laut. Es macht mir Angst, wenn Menschen an der Macht sind, die Nonbinarität und Queerness infrage stellen und aktiv bekämpfen. Die Pride muss wieder politischer werden.
Wie kann das gelingen?
Indem sie stärker mit queeren Organisationen zusammenarbeitet, die intersektional (Anm. der Redaktion: Intersektional bedeutet, dass verschiedene Formen von Diskriminierung nicht unabhängig voneinander wirken, sondern sich überschneiden und gegenseitig verstärken) denken. Es ist wichtig, Allianzen zu schaffen. Da spreche ich natürlich als Schwarze, non-binäre und behinderte Person. Ich bin darauf angewiesen, dass wir alle zusammenarbeiten.
Genau das wurde der Pride jüngst zum Verhängnis. Die NZZ kritisierte in einem Artikel, dass die Gruppierung Queers for Palestine an der Pride teilnimmt, wo es in Palästina kaum Rechte für queere Menschen gibt.
Das ist ein völlig scheinheiliges Argument. Die Annahme, dass alle pro-palästinensischen Aktivist:innen die Hamas unterstützen, ist genauso falsch wie die Annahme, dass alle Israelis hinter den Entscheidungen der israelischen Regierung stehen. Es geht darum, einen Genozid in Palästina zu stoppen. Ich finde es dennoch wichtig, sich solche Fragen zu stellen. Die Pride sollte sich laufend kritisch hinterfragen.
Sie betonen die Bedeutung von Allianzen. Warum sind Ihnen intersektionale Zusammenschlüsse so wichtig?
Die Welt durch eine intersektionale Linse zu betrachten, halte ich für entscheidend. Zumal die Mechanismen der Unterdrückung oder Diskriminierung häufig ähnlich funktionieren. Am Ende sollte das Ziel darin bestehen, dass alle Menschen frei leben können. Wenn wir einander unterstützen und uns auch für Anliegen einsetzen, von denen wir nicht direkt betroffen sind, erreichen wir mehr, als wenn jede:r für sich kämpft.
Sie berichten von Übergriffen, die sie selbst erleben und von Sorgen, die Sie haben. Was treibt Sie dennoch an, weiterzukämpfen?
Unsere nachfolgende Generation. Ich finde es extrem schön zu sehen, wie viel selbstverständlicher die heute 15- oder 16-Jährigen mit Themen wie Sexualität umgehen, als das in meiner Jugend noch der Fall war.
Sie sind nicht nur aktivistisch tätig, sondern auch Comedian. Was bedeutet Ihnen Humor?
Humor ist für mich eine Art Überlebensmechanismus. Schon in der Schulzeit habe ich Witze gemacht, wenn Leute nicht wussten, wie mit meiner Behinderung umgehen. Humor kann extrem gut Hemmungen abbauen. Aber auch wenn Leute übergriffige Fragen stellen, wie zum Beispiel, ob ich mich schon umbringen wollte, weil ich im Rollstuhl sitze, hilft mir Humor. In solchen Situationen habe ich mir angeeignet, zu meiner eigenen Belustigung irgendwelchen Quatsch zu erzählen.
Wann mussten Sie das letzte Mal richtig laut lachen?
Ich muss ständig lachen, vor allem, wenn ich ein lustiges Meme sehe. Das Internet hat meinen Sinn für Humor schon so sehr ins Absurde mutiert, dass ich nicht gut erklären kann, was mir den nächsten Lachanfall bescheren wird. Meine Partnerperson kennt mich sehr gut und bringt mich oft zum Lachen.
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