Die Unterdrückung von Frauen ist nicht nur ein albanisches Problem

Eine Autorin ruft im Tages-Anzeiger albanisch sprechende Frauen dazu auf, sich gegen Unterdrückung zu wehren. Was sie dabei unterschlägt: Das Problem hat nichts mit Nationalitäten oder Kulturen zu tun. Ein Gastkommentar von Arbnora Aliu.

Feminstischer Streik
«Noch wie viele getötete Frauen?», fragten sich albanisch sprechende Frauen am feministischen Streik 2024. (Bild: zvg)

Tagtäglich beschäftigt mich das Thema Unterdrückung und Gewalt an Frauen. Sei es im «Zürcher» Kontext, wenn eine Frau Opfer eines Femizids in Bülach wird oder im «albanischen» Kontext, wenn ich einer Grosstante erklären muss, dass ich glücklich bin mit zwei Töchtern und es mir ohne Sohn an nichts fehlt.

Manchmal ist es fast eine doppelte Belastung. Zwei Welten, aber ein Problem: patriarchale Strukturen.

Umso mehr hat mich und viele weitere albanisch sprechende Frauen letzte Woche der Essay «Kosovarinnen, wir müssen uns wehren!» im Magazin des Tages-Anzeiger beschäftigt. Die Autorin schreibt darüber, wie zutiefst frauenfeindlich die albanische Kultur sei, dass Kosovarinnen ihr Schweigen endlich brechen müssten und die albanischen Männer dabei mitziehen sollen. 

Die Erzählungen im Artikel zeigen auf, wie Frauen in albanischen Kulturkreisen unterdrückt werden. Es sind schreckliche Beispiele, wie sie in Beziehungen, Familien und Gesellschaft Opfer von Gewalt werden. Es wird denjenigen Frauen eine Stimme gegeben, die meist keine haben und ihnen muss zugehört werden. In diesem Punkt stimme ich mit der Autorin überein.

Die Problematik des Beitrags liegt nicht darin, dass über die Unterdrückung der albanischen Frau aufmerksam gemacht wird, sondern sie liegt in der fehlenden Kontextualisierung und in der Verallgemeinerung einer sogenannt albanischen Gesellschaft.

Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass die genannten Beispiele Produkte patriarchalischer Strukturen sind. Leider wird im Artikel das Konzept des Patriarchats auf einen Satz verkürzt und nicht weiter darauf eingegangen.

Genau das wäre aber zwingend notwendig, denn die Unterdrückung von Frauen ist ein globales Problem – unabhängig von Nationalitäten, Religionen oder Kulturen.

«Es wird etwas kulturalisiert und pauschalisiert, während das eigentliche Problem, das Patriarchat, vergessen geht.» 

Arbnora Aliu

Fehlt dieser Kontext, fokussiert sich der Kampf gegen Unterdrückung jedoch darauf, welcher Kultur oder Religion eine Person angehört. In vielen Reaktionen auf den Beitrag geht es gar nicht mehr um die Frauen, sondern um die albanische Gesellschaft und ihre «zurückgebliebene» Kultur. Es wird also etwas kulturalisiert und pauschalisiert, während das eigentliche Problem, nämlich das Patriarchat, vergessen geht. 

Als in Zürich aufgewachsene und albanisch sozialisierte Frau, was auch immer das heissen mag, habe ich ähnliche Situationen wie besagte Autorin erlebt. Meinen albanischen Eltern wurde bis spät ein Sohn gewünscht. Unverheiratete albanische Frauen in der Familie werden teilweise bemitleidet.

Aber: Auch meine Schweizer Arbeitskolleg:innen fragen, wie ich das mit der Kinderbetreuung mache, wenn wir an einer Tagung sind, anstatt davon auszugehen, dass mein Partner Zuhause sein könnte. Er wird auf der Arbeit nie gefragt, wer nach den Kindern schaut. Die klassische Rollenverteilung wird in der Schweiz mit Statistiken belegt: Frauen arbeiten noch immer öfter im Teilzeitmodell als Männer, werden schlechter bezahlt und verrichten mehrheitlich die Care-Arbeit. 

Auch in der Schweiz werden Frauen Opfer von Femiziden. Hierzulande wird alle zwei Wochen eine Frau von einem Mann ermordet. Egal, wo auf der Welt Frauen Opfer von Gewalt werden, es gibt immer ein gemeinsames Merkmal: Die Täter sind Männer. 

Wir müssen darüber sprechen, dass es ein feministischer Kampf ist, egal in welcher Kultur. Frauen werden überall unterdrückt, die Unterdrückung zeigt sich nur in unterschiedlicher Form. Das Patriarchat darf nicht übergangen werden, denn es ist tief in unseren Strukturen verankert: in Zürich, Prishtina, Skopje, Tirana, aber auch der restlichen Welt. 

In der Zwischenzeit wurde ein offener Brief der Chefredaktion des Tages-Anzeigers geschickt, unterschrieben von fast hundert albanisch-sprechenden Frauen. Darin fordern sie eine Stellungnahme zur pauschalisierenden und verurteilenden Tonalität des Textes und die Veröffentlichung des Briefes. 

Hier findest du weitere Infos:

  • Der Verein Parandalo hält Vorträge zum Thema Gewalt an Frauen und bietet unter anderem Beratung für Einzelpersonen oder Familien an.
  • Das Mannebüro Züri bietet interkulturelle Beratung für albanisch-sprechende Männer an.
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