Die Furcht vor dem Wort – Aus dem Leben eines Stotterers
Es war in der Deutschstunde. John ist bald an der Reihe mit Vorlesen. Die Spannung steigt. Er merkt, wie das Blut immer kräftiger in den Kopf gepumpt wird. Luft dringt kaum noch in seine Lunge. Das Herz pumpt. Nun ist er dran. Alle warten bis er zu lesen beginnt. «Sss-Sss-...», der Lehrer fiel ihm ins Wort: «Stottern wir wieder?»
Von Gëzim Abdulahi
John stottert seit dem siebten Lebensjahr. «Ich bemerkte es, als ich in die zweite Klasse kam», erinnert sich John schmerzlich. John heisst gar nicht John. Der 22-jährige Informatiker will für diesen Artikel nicht mit richtigem Namen genannt werden. So gross ist die Furcht vor dem Wort. Mit langen, lockigen Haaren und runder Sonnenbrille fällt er sofort auf. Beim Gespräch mit ihm in der Heineken Newsbar in Zürich merke ich kaum, dass er früher gestottert hat, geschweige denn, dass er sogar heute immer noch ab und zu stottert. Gut gelaunt steigt er ins Gespräch ein. Doch schnell wird es wieder ernst. «Es ist wie ein Teufelskreis», sagt er nachdenklich. «Man fällt in diesen Teufelskreis und weiss weder weshalb man drin ist noch wie man wieder rauskommt.» Mit zittriger Stimme fährt er fort: «Ich stottere. Das ist der Gedanke, mit dem ich seit Jahren aufwache. Das erste was mir direkt nach dem Aufwachen morgens in den Kopf schiesst. Als müsste ich tagtäglich dafür sorgen, dass ich diese Tatsache ja nicht vergesse.»
Andere Kinder spielten, John musste zur Logopädie
John fing als Kind an zu stottern. Als er in der zweiten Klasse war, wurden seine Eltern über die Sprachstörung ihres Sohnes informiert. Die Ärzte sollten damals gemeint haben, dass es bei Kindern eher mal vorkomme. «Das würde wahrscheinlich wieder von selbst verschwinden, sagten mir die Ärzte», meint John. Doch das Stottern wurde immer schlimmer und belastete ihn immer mehr, bis er mit neun Jahren fachliche Unterstützung bekam. Er ging jeden Mittwochnachmittag für zwei Stunden zur Logopädie. Zu Beginn seiner Behandlung untersuchte der Logopäde Artikulation, Wortschatz, Grammatik sowie Schreib- und Leseleistung, Sprachverstehen und Atem-, Stimm- und Schluckfunktionen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung bildeten die Grundlage für die Therapie. Im Anschluss wird der zu erwartende Therapieerfolg unter Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation festgelegt. Häufig werden dabei auch Angehörige miteinbezogen. Ziel der logopädischen Behandlung ist es, eine individuell befriedigende Kommunikationsfähigkeit des Patienten zu erreichen. Nach knapp 6 Monaten war bei ihm nichts mehr vom Stottern zu hören. Als er mit seiner Lehre beginnt, fängt er wieder an zu stottern.
Im ewigen Teufelskreis der Sprachstörung
Das plötzliche Eintreten des Stotterns bereitet ihm grosse Angst. Er konnte es sich damals nicht erklären und kann es sich auch heute nicht erklären, weshalb es wieder aufgetaucht ist. John ist wieder im Teufelskreis. Eine unlösbare Gleichung. Dieses Mal bringt ihn auch die fachliche Unterstützung nicht weiter. Nach etwa einem Jahr verliess ihn die Sprachstörung wieder und er konnte endlich wieder John sein, der John, der offen ist und gern mit anderen Menschen in Kontakt kommt. Es wunderte ihn zwar schon, weshalb das Stottern auf einmal weg war, doch er war einfach nur froh, dass er diesem Leiden entkommen ist.
Stottern – Ein medizinisches Rätsel
Die Schulmedizin beschäftigt sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Stottern. Das Stottern ist eine bekannte und zugleich besonders auffällige Sprachstörung. Etwa fünf Prozent aller Kindern stottern während einer gewissen Zeit. Die Mehrheit verliert das Stottern jedoch wieder, sei es spontan oder durch eine Therapie. Von den Erwachsenen stottern rund ein Prozent. Männer sind um das Vier- bis Fünffache häufiger betroffen als Frauen, doch dafür haben stotternde Mütter öfter stotternde Kinder als an der Sprachstörung leidende Väter. Dies zeigt mehrgleisige Vererbungswege der Krankheit auf. Das ist allerdings auch nicht verwunderlich, da Sprechen ein sehr komplexer Vorgang ist, der in vielen Genen verankert ist. Neben der Genetik werden aber auch psychische Konflikte als Ursache in Frage gestellt. Die genaue Ursache ist bis heute nicht klar. Stotterer leiden unter einem gestörten Redefluss. Dazu können verschiedene Erscheinungen auftreten: Die Gesichtsmuskeln verkrampfen sich, die Stotterer bewegen den Körper beim Sprechen mit, benutzen Flickwörter («ähm») oder Starthilfen («also, ich würde sagen...»). Primär ist die Angst vor dem Stottern sehr gross und somit ein wichtiger Faktor. Die Stotterer meiden Situationen in denen sie befürchten zu stottern. Es entsteht ein negatives Selbstbild, welches das Stottern aufrecht haltet oder sogar verstärkt.
Der Meister der Synonyme
Kaum hatte John mit der Rekrutenschule angefangen, spürte er, dass das Stottern wieder zurückkehrt. Am ersten Tag wird dem Rekruten beigebracht, wie man sich im Militär richtig anmeldet. Da passierte es ihm wieder. Er fing wieder an zu Stottern. «In der ersten Woche verstummte ich vollkommen. Ich war immer alleine, wurde anfangs von den anderen Rekruten als nicht normal angesehen. Es wollte keiner mit mir was zu tun haben. Vielleicht lag es ja an mir. Auf jedenfall war die erste Woche im Militär die schlimmste Woche meines Lebens», sagt er mit gerunzelter Stirn. Er wurde aus seinem Leben gerissen und das Spiel fing wieder von vorn an. Er musste eine Entscheidung treffen. Im Gespräch mit dem Militärpsychologen musste er sich entscheiden, ob er die Rekrutenschule abbricht und somit als Doppelt untauglich erklärt wird oder ob er die Rekrutenschule durchzieht. «Ich habe mich entschieden, die RS zu machen, weil ich das Verkehren mit vielen verschiedenen Leuten als die beste Therapie sehe.» Die Akzeptanz seiner Kameraden ihm gegenüber war sehr gross. Er wurde niemals ausgelacht und in jeder Situation unterstützt. «Vor allem ist mein Zugführer mit meinem Anliegen äusserst vorbildlich umgegangen. Ich bin ihm sehr dankbar», meint er mit Nachdruck. Nach acht Wochen im Militär wurde er immer kommunikativer und fand langsam sein altes Ich wieder. Jedoch ist das Stottern bei ihm bis heute nicht ganz verschwunden. Mit der Zeit entwickelte er selber Strategien, um dem Stottern auszuweichen. Er formuliert Sätze um oder braucht ein Synonym für ein Wort, welches er im Moment nicht aussprechen kann. «So sehe ich das Stottern auch als Training», meint John lächelnd, «ich bin der Meister der Synonyme», und trinkt sein Bier aus.
Titelbild: Flikr / CC BY 2.0 (Soumyadeep Paul)
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