Vergessenes Zürich: Drei Bauten, die einst das Stadtbild prägten
500 Jahre lang stand in der Limmat ein Gefängnis, in dem vermeintliche Hexen gefoltert wurden. Der Turm wurde abgerissen, so auch Teile der alten Tonhalle oder der Börse. Eine Ausstellung der ETH-Bibliothek rollt die Geschichte dieser Bauten wieder auf.
Die Zeit streut Sand auf die Erinnerungen, bis sie zugedeckt und von der Öffentlichkeit vergessen sind. Heute rieselt dieser Sand schneller als früher, besonders in Zürich: Die Stadt boomt, ihre Oberfläche wird tiefgreifend umgepflügt. Wie sie einst ausgesehen hat, weiss bald kaum noch jemand – wären da nicht Institutionen, die dem Vergessen entgegenwirken.
Die ETH-Bibliothek in Zürich ist eine solche Institution. In einer neuen Ausstellung zeigt sie vergessene Bauten und Ereignisse in der Schweiz, die einst eine wichtige Rolle in der Landesgeschichte gespielt haben. Drei Bilder der Ausstellung, die seit dem 7. Juli im Max-Frisch-Archiv der Bibliothek zu sehen sind, beziehen sich auf die Stadt Zürich.
Meda Hotea, Leiterin Rara und Karten der ETH-Bibliothek, führt durch die kleine Ausstellung im Hauptgebäude der Hochschule. Die gezeigten Werke stammen aus dem eigenen Altbestand. Hotea spricht schnell, voller Interesse. «In Zürich standen einst bedeutende Bauten, die heute fast niemand mehr kennt.» Mit der Ausstellung wolle die ETH einen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten. Besonders eindrücklich sei etwa die Geschichte des Wellenbergturms.
Ein Gefängnis in der Limmat
Über 500 Jahre lang stand nicht nur mitten in Zürich, sondern auch mitten in der Limmat ein Gefängnis. Mit seinen drei Stockwerken und dem dunklen Mauerwerk ragte der Wellenbergturm markant aus dem Fluss empor, unweit der Frauenbadeanstalt muss er gestanden haben, zwischen Stadthaus- und Limmatquai. «Der genaue Zeitpunkt der Errichtung ist unbekannt», sagt Hotea. Wahrscheinlich sei aber, dass der Turm bereits im 14. Jahrhundert gebaut wurde.
Ursprünglich diente er vermutlich der Sicherung des oberen Limmatraums, doch die Lage im Fluss eignete sich ideal als Gefängnis – und so wurde der Turm bald entsprechend umgenutzt.
Die Bevölkerung wusste nicht, was sich im Inneren abspielte, doch schon seine blosse Präsenz mahnte zur Gesetzestreue. Zudem machte die Lage mitten in der Limmat jede Flucht unmöglich.
Die Geschichte des Turms ist beinahe filmreif. 1489 wurde Hans Waldmann, damaliger Bürgermeister von Zürich, aus politischen Gründen im Wellenbergturm inhaftiert. Vorausgegangen waren Intrigen und Proteste der Landbevölkerung gegen ihn. Waldmann wurde gefoltert und hingerichtet. Ähnlich erging es Frauen, die als Hexen galten: Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert wurden sie im Wellenberg eingesperrt und ebenfalls gefoltert. 1701 fand in Zürich der letzte Hexenprozess statt – sieben Frauen und ein Mann wurden zum Tod verurteilt.
Der Wellenberg soll zwei Mal gebrannt haben und verfiel schliesslich zur Ruine. Wieder aufgebaut wurde er nicht. Bis 1830 sei der Turm noch gestanden, danach sei das Kloster Oetenbach in ein Gefängnis umgebaut worden, sagt Meda Hotea. Auf dem Gebiet des Klosters liegt heute das Urania Parkhaus. «Dort hatte es mehr Platz. Zudem störte der Turm den Flussverkehr in der Limmat, also wurde er abgerissen», so Hotea.
Tonhalle und Börse, Symbole des Aufstiegs
Das 19. Jahrhundert markierte eine Blütezeit für Zürich, damals wurden die Grundsteine für die heutige grösste Stadt der Schweiz gelegt. Symbolisch für diesen Aufstieg steht der Bau der Tonhalle, die 1895 eingeweiht und schnell zur Sehenswürdigkeit wurde – nicht nur für Musikliebhaber:innen.
In einem illustrierten Reisebegleiter aus dem Jahr 1900, der in der ETH-Bibliothek aufliegt, ist ein Bild davon zu sehen: ein prächtiger Bau mit zwei Türmen und einer grossen Kuppel. Bis 1937 stand die Tonhalle am heutigen General-Guisan-Quai, ehe sie dem Bau des neuen Kongresshauses weichen musste.
Gleich nebenan befand sich bis 1930 die Börse. Nach ihr benannt wurde die Börsenstrasse, auf der heute an den Wochenenden teure Sportwagen auf und ab fahren. Der Bau dieses Umschlagplatzes wurde im Jahr 1876 beschlossen und im Stil der italienischen Renaissance gestaltet – schlicht in Form und Proportion, wobei die architektonische Sprache gezielt die Funktion als Börse unterstreichen sollte.
Das Gebäude ist in seinen Grundzügen noch erhalten, wurde aber seither mehrfach stark saniert. Heute befinden sich im Erdgeschoss verschiedene Geschäfte. «Im Zuge dieser Veränderungen ist auch die heutige Bahnhofstrasse entstanden, als die erste Einkaufsmeile der Schweiz», sagt Meda Hotea.
Spuren dieser Bauten sind bis heute sichtbar. So wurden Steine des Wellenbergturms beim Bau der Münsterbrücke und der Seeuferanlagen verwendet. Auch zwei Konzertsäle der alten Tonhalle blieben erhalten. Sie werden bis heute genutzt. Der Grosse Saal gilt akustisch als einer der besten der Welt.
Die Ausstellung «Die Schweiz im Spiegel der Vergangenheit – Mosaiksteine vergessener Landschaften» läuft noch bis am 3. Oktober 2025. Ort: Max Frisch-Archiv der ETH-Bibliothek, ETH-Hauptgebäude, H-Stock, Raum H 26.
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Kai hat Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Seine ersten journalistischen Erfahrungen sammelte er beim Branchenportal Klein Report und bei der Zürcher Studierendenzeitung (ZS), wo er als Redaktor und später als Co-Redaktionsleiter das Geschehen an Uni und ETH kritisch begleitete. So ergibt es nur Sinn, dass er seit 2024 auch für Tsüri.ch das Geschehen der Stadt einordnet und einmal wöchentlich das Züri Briefing schreibt. Auch medienpolitisch ist er aktiv: Seit 2023 engagiert er sich beim Verband Medien mit Zukunft. Im Frühjahr 2025 zog es Kai nach Berlin. Dort absolvierte er ein Praktikum im Inlandsressort der tageszeitung taz.