Denkmal: mal denken #4: Ganymed, die Schwulenikone am See

Alle sehen sie, doch kaum jemand kennt sie: Statuen, Monumente, Büsten. Zürich ist voller eindrücklicher Skulpturen mit spannenden Geschichten. In dieser Artikelserie gehen wir den Geheimnissen stummer Denkmäler auf den Grund. In der vierten und letzten Folge geht es um den nackten Jüngling auf dem Bürkliplatz – und darum, wie der Zeuge der Zürcher Schwulenkultur seinen Weg an die Seepromenade fand.

Mood image for Denkmal: mal denken #4: Ganymed, die Schwulenikone am See

Dieser Beitrag wurde am 26. Juli 2019 das erste Mal auf Tsüri.ch veröffentlicht. Im Rahmen einer Repost-Woche holen wir die Artikelserie «Denkmal: mal denken» aus dem Archiv.

Bevor der pittoreske Ort zu einem der beliebtesten Touristen-Magneten wird, lag hier lange ein grosses, weites Nichts. Vor über 130 Jahren wird der Bürkliplatz eingeweiht. Zuvor stand hier ein komplexes Schanzensystem aus dem 18. Jahrhundert. Doch die Schutzmauern sind militärisch wertlos geworden und werden nach längerem Streit des grossen Rates abgerissen. Statt der Mauern soll eine breite Quaianlage den See begrüssen und Zürich zur Weltstadt formen.

Article image for Denkmal: mal denken #4: Ganymed, die Schwulenikone am See
Das Schanzensystem um den heutigen Paradeplatz. (Foto: Public Domain)

Das Bürgertum wollte ein neues Zürich. Ein Zürich ohne provinziellen «Mief». Ein Zürich, das ein Paris werden sollte. Mit Prachtboulevards, stattlichen Verwaltungsgebäuden und prunkvoller Quaianlage. Für letztere wird der Stadtingenieur und späterer Namensgeber Arnold Bürkli engagiert.

Von der Schanze zur Romanze

Mehr als 200'000 Quadratmeter Land schüttet Bürkli für den neuen Platz auf. Sechs Jahre lang dauert das Mammutprojekt. Im Juli 1887 wird die Terrasse mit einem grossen Volksfest eingeweiht. 200 geladene Gäste verköstigen sich an einem Bankett. Auf dem Programm stehen auch ein Kinderumzug, eine internationale Regatta und natürlich ein Feuerwerk. Um den Platz noch pompöser darzustellen, fertigt der Bildhauer Urs Eggenschwyler zwei 400 Kilogramm schwere Gipslöwen an. Ein weiterer bekannter Eggenschwyler-Löwe steht majestätisch im Hafen Enge. Während dieser geliebt wird, werden seine zwei Brüder auf dem Bürkliplatz gehasst. Sie gefallen der Bevölkerung nicht und werden knappe zwei Jahre nach ihrer Einweihung wieder entfernt. So lebt der Bürkliplatz jahrelang ohne Gesicht, bis 60 Jahre später endlich Ganymed kommt.

Article image for Denkmal: mal denken #4: Ganymed, die Schwulenikone am See
Urs Eggenschwylers Löwe beim Hafen Enge um 1900. (Foto: alt-Züri)

1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, tritt in der Schweiz ein neues Gesetz in Kraft, das die Homosexualität entkriminalisiert. Bei dem Volksentscheid war Zürich an vorderster Front aktiv und nahm das Referendum mit stolzen 72 Prozent an. Zürich wird für viele homosexuelle Menschen, die wegen den Nazis um ihr Leben fürchten, zum neuen Hoffnungsschimmer. Im gleichen Jahr veranlasst Heinrich Wölfflin, Professor für Kunstwissenschaften, den Bau einer neuen Statue, von «zuchtvoller Schönheit» – vor allem aber soll es ein nackter Mann werden.

Mehr nackte Männer für Zürich

Der Bildhauer Hermann Hubacher soll diesen nackten Mann formen. In einem Brief an Hubacher erläutert ihm Wölfflin seine Vorstellung: «Ich komme auf einen alten Gedanken zurück: der Stadt Zürich eine Figur zu stiften. Es müsste eine männliche Figur sein (an weiblichen hat Zürich schon eine Menge) und zwar von strenger Form so, dass das Gesetzmässige des Baus durchschlägt, zuchtvolle Schönheit!» Dass es von weiblichen Statuen eine Menge hat, stimmt. Damals (wie auch heute) gibt es überdurchschnittlich mehr nackte Frauen-Plastiken in Zürich. Statt den Frauen also etwas anzuziehen, wird der Mann ausgezogen.

Article image for Denkmal: mal denken #4: Ganymed, die Schwulenikone am See
Bürkliplatz (unten rechts) ohne Ganymed um 1929. (Foto: ETH Bildarchiv)

Für die Darstellung dieses nackten Mannes bedient sich Hubacher der Griechischen Mythologie. Kein anderer als Ganymed soll es werden, der Schönste aller Sterblichen. Der Sage nach war Ganymed so umwerfend schön, dass sich Göttervater Zeus auf den ersten Blick verliebte. Zeus war wie besessen vom jungen Hirtenknaben, verwandelte sich in einen Adler und entführte Ganymed in den Olymp. Dort machte ihn Zeus zum Mundschenk der Götter und segnete ihn mit ewigem Leben. In der Dichtung wurde die Ganymed-Saga zum Symbol der gleichgeschlechtlichen Liebe.

  • Ganymed wird schnell zum beliebten Foto-Objekt.

  • Ganymed mit Touristen um 1966.

  • Ganymed mit noch mehr Tourist:innen um 2012.

  • So wird Ganymed in der Klassischen Kunst entführt.

  • Auf dem Olymp dann so.

  • Wieder nackt: Die «Sitzende» von Hermann Hubacher bei der Chinawiese.

Zehn Jahre nachdem Hubacher den Auftrag erhalten hat, wird das Kunstwerk 1952 endlich präsentiert. Anders als in der Sage wird Ganymed jedoch nicht entführt, sondern bittet den Adler, ihn in den Olymp aufzunehmen. Karl Meier, Redaktor der einflussreichen Homosexuellenzeitschrift «Der Kreis», ist bei der Enthüllung ist ebenfalls anwesend und ist ganz entzückt von dem Zürcher Ganymed. «Nicht der Adler, nicht Zeus ist es, der von der Erde das Schöne raubt – Ganymed selbst fordert den Unsterblichen auf, ihn in das Reich des Göttlichen zu entführen. Wie herrlich, wie unsagbar schön ist diese Gebärde gelungen, die zur Höhe weist!»

Dank Ganymeds Einwirken wurde aus einem Kleinod des Bürgertums also das wichtigste Denkmal der Schwulenkultur in Zürich.

Serie «Denkmal: mal denken»:

Das könnte dich auch interessieren

Design ohne Titel - 1
In unserer Eras-Ära!

Taylor Swift is coming to town

Taylor Swift kommt mit ihrer Eras-Tour nach Europa und gibt am 9. und 10. Juli erstmals Konzerte in der Schweiz. Zur Vorbereitung gibt’s hier die Eras Essentials.

Von Livia Grossenbacher
Film «Sabotage Kollektiv»
Kultur

Filmszene: Ein Zürcher Kollektiv geht neue Wege

Was genau soll hier sabotiert werden? Das Zürcher «Sabotage Kollektiv» fordert die gängigen Arbeitsweisen beim Film heraus und findet dabei zu einem sehr eigenen Gefühl für unsere Zeit.

Von Dominic Schmid
Agota Lavoyer fotografiert am Dienstag, 14. Mai 2024 in Bern. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)

Agota Lavoyer über die Kultur der sexualisierten Gewalt

In jeder Zürcher Buchhandlung ist es erhältlich: das neuste Buch von Agota Lavoyer «Jede_Frau». Es geht um Rape Culture und überzeugt durch einen ruhigen Erzählton. Eine Buchbesprechung.

Von Flavia von Gunten / Hauptstadt
Prof. Dina Pomeranz

Dina Pomeranz: «Jüdische Galerist:innen sind nicht verantwortlich für Israel»

In Zürich wurden fünf Kunstgalerien versprayt, weil sie von jüdischen Menschen geführt, oder Werke von jüdischen Künstler:innen ausgestellt haben. Eine Expertin ordnet diese antisemitischen Aktionen ein.

Von Simon Jacoby, Jugendkulturhaus Dynamo

Kommentare