Warum wir für Wohlstand kein Wirtschaftswachstum benötigen

Die Vorstellung, dass die Wirtschaft kontinuierlich wachsen muss, um Wohlstand zu gewährleisten, ist politisch und gesellschaftlich weit verbreitet. Tatsächlich zeigt aber die Forschung: Ab einem gewissen Lebensniveau steigt die subjektive Zufriedenheit nicht weiter an. Ein Gastbeitrag.

Franken Geldscheine
Mehr Geld führe nicht zu mehr Zufriedenheit, schreibt unser Gastautor. (Bild: Claudio Schwarz / Unsplash)

In westlichen Gesellschaften wird Wirtschaftswachstum bis heute als Schlüssel zu individuellem Wohlbefinden und gesellschaftlichem Wohlstand betrachtet. So ist die Politik darauf ausgerichtet, Wachstum zu fördern, um so vermeintlich den Lebensstandard zu erhöhen.

Tatsächlich weisen aber Studien der «Glücksforschung» darauf hin, dass dies nicht zwangsläufig der Fall ist. Vielmehr sollte man darauf achten, dass Wohlstand in Gesellschaften nicht zu ungleich verteilt ist.

Macht uns mehr Geld zufriedener?

In den 1970er-Jahren untersuchte der US-amerikanische Ökonom Richard Easterlin das Verhältnis von Einkommen und Wohlbefinden. Dabei fand er heraus, dass ab einem bestimmten Wohlstandsniveau zusätzliches Einkommen keinen Einfluss auf die individuelle Zufriedenheit mehr hat. Vielmehr scheint das relative Einkommen  – also der Vergleich mit dem Einkommen anderer Personen in der Gesellschaft – eine grössere Rolle zu spielen.

Bekannt wurde das Phänomen unter dem Begriff des «Easterlin-Paradox». In den nachfolgenden Jahren untersuchten Forschende diesen Zusammenhang erneut.

Eine 2019 publizierte Studie von Forschender der Universität kam ebenfalls zu dem Schluss, dass individuelles Wohlbefinden und ein höheres Einkommen, wenn überhaupt, nur bis zu einem gewissen Punkt zusammenhängen – weitere Zuwächse steigern das Wohlbefinden dann nicht mehr.

In westlichen Gesellschaften wurde dieser Punkt vor etwa 60 Jahren erreicht. Somit könnte der Umweltverbrauch – der steigt, wenn die Wirtschaft und somit die Einkommen wachsen – gesenkt werden, ohne dass dies negative Effekte auf das Wohlbefinden hätte.

Wenn man die Lebenserwartung und das Einkommen verknüpft, passiert Ähnliches: Nur bis zu einem gewissen Einkommensniveau steigt die Lebenserwartung an.

Mehr Gleichheit, weniger Probleme

Auf gesellschaftlicher Ebene zeigen sich diese Muster ebenfalls. In ihrem Buch «The Spirit Level» machen Kate Pickett und Richard Wilkinson klar, dass vor allem die Gleichheit in einer Gesellschaft Wohlstand schafft – und zwar für alle. So analysierten sie einerseits Sozialstatistiken für westliche Industrieländer. Anschliessend erstellten sie einen «Index über Gesundheit und Sozialprobleme».

Er setzt sich aus unterschiedlichen Elementen zusammen, unter anderem der Lebenserwartung, der Kindersterblichkeit, der Mordraten, des Vertrauens und der psychischen Krankheiten. Andererseits werteten sie Statistiken zur Einkommensungleichheit aus. Dann setzen sie beides in ein Verhältnis zueinander.

Es stellte sich heraus, dass Länder, die eine geringe Einkommensungleichheit aufweisen, auch wesentlich besser im Gesundheit- und Sozialbereich abschneiden. Kurzum: Je geringer die Ungleichheit, desto älter werden Menschen, desto psychisch stabiler sind sie, desto weniger Gewalt gibt. Das gilt für die Schweiz, genau wie für die USA und Japan.

Zwei Erkenntnisse – nun sollten wir handeln

Von den Forschungen rund um das «Easterlin-Paradox» und des Verhältnisses von Ungleichheit und Einkommen sollten wir als Gesellschaft zwei Punkte mitnehmen. Zuerst, dass andauerndes Wirtschaftswachstum und die daraus resultierenden höheren Einkommen Menschen nicht zufriedener machen, sobald ein gewisses materielles Niveau erreicht worden ist.

In der Schweiz ist das schon seit etwa 50 Jahren der Fall. Stattdessen kann mehr Wachstum sogar negative Effekte mit sich bringen, um mit zunehmendem Stress nur einen Punkt zu nennen.

Und dies führt gleich zum zweiten Punkt: Wohlstand wird heute primär mit Geld verknüpft. Der eigentliche Wohlstand in einer Gesellschaft wird jedoch durch soziale und gesundheitliche Faktoren bestimmt – und diese hängen massgeblich mit Ungleichheit zusammen. Wir sollten uns also darauf fokussieren, Ungleichheit zu reduzieren, wodurch wir das gesellschaftliche Leben in der Schweiz für alle verbessern würden.

Es sollte also darum gehen, die wahren Bedürfnisse in den Blick zu nehmen. Das heisst, nicht weiter auf unbegrenztes Wachstum zu setzen und unsere Fokussierung auf Geld zu lösen. Wir sollten uns stattdessen fragen, wie wir den Menschen in der Schweiz tatsächlich ein gutes Leben ermöglichen können.

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Kommentare

Alexis
04. März 2025 um 16:28

Nicht einverstanden

Wirtschaftswachstum ist der Schlüssel zu mehr Wohlstand. Ohne Wachstum gibt’s keine neuen Jobs, keine besseren Löhne und keine Innovationen. Wenn die Wirtschaft brummt, kann der Staat in Schulen, Gesundheit und Infrastruktur investieren – das kommt allen zugute. Stagnation hingegen führt zu Stillstand und Unzufriedenheit. Ausserdem sorgt Wachstum für technischen Fortschritt, der langfristig sogar hilft, Ressourcen effizienter zu nutzen und nachhaltiger zu wirtschaften. Einfach gesagt: Du (@Autor) selbst bist ja vielleicht glücklich und zufrieden (mit dem Jetzt), aber wieso willst du nicht, dass andere Menschen im Land, sich nicht weiterentwickeln können bzw. vom Wachstum als Familie oder für sich selber mitgetrieben werden? Ist das nicht ein bisschen assozial?