Das war die Pitch-Night zu Fluchtmigration
An der Pitch-Night erzählten 7 Personen in je 7 Minuten ihre Perspektive auf die Migration aus Fluchtgründen. Wie können die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen verbessert werden? Und wie gestalten wir eine Gesellschaft, an der alle teilhaben können? Die Pitch-Night im Kraftwerk war der Auftakt des Fokusmonats zum Thema Fluchtmigration.
1. Nina Hadorn, Migrationsrechtsexpertin, Dozentin ZHAW
Nina Hadorn eröffnete die Pitch-Night mit einem historischen Ausflug in die Entstehung des Rechtsbegriffs «Flüchtling». Die Dozentin für Völker- und Europarecht mit Schwerpunkt Migration erklärte, was den umgangssprachlichen Gebrauch vom Rechtsbegriff unterscheidet.
Das erste Mal wurde der Rechtsbegriff nach dem Ersten Weltkrieg verwendet, als rund eine Million Menschen vor dem russischen Regime flohen. Im Völkerbund wurden nun erstmals Regeln erlassen, um ihren Status mit dem sogenannten «Nansenausweis» zu regeln. Damals richtete sich die Solidarität hauptsächlich an Gleichgesinnte mit derselben Religion oder demselben Feind.
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich dies. Die Würde des Menschen wurde als schützenswert angesehen, unabhängig von Herkunft oder Religion – sofern die Person im Heimatland verfolgt wird. Grosse Fluchtbewegungen, wie sie zum Beispiel von Kriegen ausgelöst werden, sind von diesem Begriff nicht erfasst. Der Rechtsbegriff ist Ausdruck für einen Spagat: Einerseits will man all denjenigen Schutz gewähren, die ihn benötigen, andererseits sind da Bedenken, nicht allen Schutz gewähren zu können.
2. Amine Diare Conde, Essen für Alle
Amine Diare Conde lebt seit zehn Jahren in der Schweiz. Sein Asylverfahren dauerte drei Jahre und sieben Monate. Sein Antrag wurde abgelehnt. Vier Jahre lang lebte er ohne Aufenthaltsbewilligung mit 8.50 Franken pro Tag und kämpfte für sein Bleiberecht, ohne dabei eine wirkliche Perspektive zu haben. Die Schweiz habe gezeigt, dass sie im Falle einer Fluchtbewegung wie derjenigen aus der Ukraine schnell handeln kann, sagte Conde. Er betonte, dass eine solche Behandlung für alle geflüchteten Personen angewendet werden sollte. Es sei klar, dass nicht alle Geflüchteten Asyl erhalten können, das Verfahren sollte jedoch für alle dasselbe sein.
Die Schweiz führte 2019 das beschleunigte Asylverfahren ein. Gerade in Situationen wie dem Ukrainekrieg ist das System gefordert. Die Beamt:innen arbeiten unter Hochdruck, was Fehler provoziert. Conde appellierte, das System der Realität anzupassen. Aber auch die Schweizer Gesellschaft solle geflüchtete Personen besser behandeln. Die Menschen sollten mit den geflüchteten Personen sprechen, auf sie zukommen und sie beim Leben in der Schweiz unterstützen.
3. Marco Camus, Direktor Asyl-Organisation Zürich
Marco Camus ist seit März der neue Direktor der Asyl-Organisation Zürich (AOZ). Er stellte in seinem Pitch das neue Programm BBJE (Betreuung Begleitung Junge Erwachsene) der AOZ vor. In der Schweiz kamen letztes Jahr 3300 Jugendliche ohne ihre Eltern in die Schweiz. Bis zu ihrem 18 Geburtstag profitieren diese von unterschiedlichen Unterstützungsangeboten – es gilt die Kinderrechtskonvention. Doch sobald die Minderjährigen 18 Jahre alt werden, können sie nicht mehr von diesen Angeboten Gebrauch machen und sind komplett auf sich allein gestellt. Das zusammen mit der Stadt Zürich entwickelte Programm BBJE unterstütze die jungen Erwachsenen weiterhin und begleitet sie in die Selbständigkeit, bis sie 25 Jahre alt sind.
4. Mark Bamidele Emmanuel, Gründer Diaspora-TV
Mark Bamidele Emmanuel kam 1999 als Asylsuchender in die Schweiz. Nach sechs Monaten wurde er ausgeschafft, kehrte dann aber wieder aus familiären Gründen wieder zurück. Er habe sich weiterbilden wollen und versucht, sich Informationen zum Bildungssystem zu beschaffen. Dies habe sich jedoch genauso schwierig gestaltet, wie Informationen zum Arbeitsmarkt oder zur Wohnungssuche zu finden. Deshalb gründete Bamidele den Fernsehsender «African Mirror TV», welcher Personen aus Afrika über das Leben in der Schweiz informiert.
In einem nächsten Schritt wollte er sich an die gesamte migrantische Community in der Schweiz richten und entwickelte den Fernsehsender weiter zu «Diaspora-TV». Dieser strahlt Informationen und Sendungen in 18 Sprachen aus. Ein Grossteil der Mitarbeiter:innen arbeitete in ihren Herkunftsländern als Journalist:innen.
5. Vertreter:in Autonome Schule Zürich
Anastasia arbeitet seit fünf Jahren ehrenamtlich in der Autonomen Schule Zürich. Die ASZ ist eine selbstverwaltete migrantische Bildungsinitiative, die sich seit 2009 den Bedürfnissen von Personen mit Flucht- und Migrationshintergrund widmet. Alle Angebote werden ehrenamtlich auf die Beine gestellt – die Schule lebe vom Engagement und der Solidarität der vielen Freiwilligen, so Anastasia. Sie habe flache Hierarchien und werde betrieben nach dem Motto: «Alle Lehrende sind Lernende und alle Lernende sind Lehrende» Bekannt ist die Schule unter anderem für ihre kostenlosen Deutschkurse.
Bund und Kanton finanzieren den geflüchteten Personen oft nur Deutschkurse bis zum Niveau A2. Regelmässig kommt es deswegen vor, dass offizielle Ämter geflüchtete Personen an die Autonome Schule verweisen. Anastasia wies darauf hin, dass die Autonome Schule Zürich Aufgaben des Staates übernimmt und ein Mahnmal dafür sei, dass der Staat seinen Pflichten nicht nachkommt. Sie schloss ihren Pitch mit den Worten: «Alle müssen Zugang zu Bildung haben und Bildung muss für alle zugänglich sein – lasst uns gemeinsam dafür kämpfen.»
6. Maryam Sediqi, Advisor UNHCR, Co-Founder Afghan Women Association Switzerland
Maryam Sediqi kam 1993 in Kabul auf die Welt, seit 2004 lebt sie in der Schweiz, schloss einen Master in Business Administration ab und co-gründete die Afghan Women Association Switzerland (AWAS). Seit 2024 arbeitet sie bei der UNHCR. «Vielleicht denken Sie jetzt: ‘Wow, was für eine Integrationsgeschichte!’», so Sediqi. Doch das sei nur die Oberfläche.
Sie sei im Krieg geboren und im Alter von vier Jahren mit ihrer Familie durch den Iran und die Türkei geflohen. Mit einem Boot seien sie nach Griechenland, wo sie Schiessereien erlebt habe und als Geisel genommen worden sei. In Griechenland besuchte sie die Schule und habe bereits mit zehn Jahren als Dolmetscherin für afghanische Geflüchtete gearbeitet. Die Flucht habe sie weiter nach Italien geführt, wo sie zwei Wochen lang ohne Dach über dem Kopf gelebt habe, bevor sie nach Paris und schlussendlich mit zwölf Jahren in die Schweiz kam. Ihre Familie sei voller Träume gewesen, doch die Integration habe sich alles andere als einfach gestaltet.
Neben der neuen Sprache und Kultur und den Herausforderungen des Asylprozesses erlebte Sediqi täglich Diskriminierung und Rassismus, erzählte sie. In der Folge habe sie jahrelang unter Depressionen und Angststörungen gelitten, dabei aber immer funktionieren müssen – für sich und ihre Familie. Mit ihrer Geschichte wolle sie aufzeigen, mit welchen Herausforderungen migrantische Personen in der Schweiz konfrontiert sind, so Sediqi. Sie betonte ausserdem, dass die Labels «vorbildliche Flüchtlinge», «schlechte Flüchtlinge» oder «ehemalige Flüchtlinge» geflüchtete Personen behindern. Diese verdienten ein normales Leben als Schweizer:innen, in dem sie heilen und wachsen könnten, ohne ständig ihre Erfahrungen und Erfolge rechtfertigen müssen.
7. Stefan Schlegel, Direktor Schweizerische Menschenrechtsinstitution
Stefan Schlegel ist der Direktor der schweizerischen Menschenrechtsinstitution. Er erläutert, dass der Staat zwischen Sesshaften und Migrierenden unterscheide und aktuell Flüchtlinge so anders als möglich mache. Schlegel zeigte drei Stereotypen auf, mit denen das Anderssein unterstrichen wird und die unterschiedlich stark problematisch sind. Da wäre zum einen der Flüchtling als herausragende Person, die den Blick eines Verfolgerstaates auf sich zieht. Ihre Flucht ist ein Akt, der ihnen Würde verleiht. Bei diesem Bild sei die Person verdrängt worden durch das Bild einer geflüchteten Person. Das werde begünstigt durch ein Migrationssystem, in welchem man keine andere Option mehr haben darf, bevor man legitimerweise flüchtet beziehungsweise migriert.
Beim zweiten Stereotyp werde die Person ohne Ressourcen und als Opfer dargestellt – oft als eine Masse anstatt als Einzelperson. Die Flucht gibt dieser Person keine Würde, sie wird ihr abgesprochen. Das dritte Stereotyp sei der opportunistische Athlet, der Wüsten, Meere und Zäune überwinden muss, um die Möglichkeit zu erhalten, ein Schutzgesuch zu erstellen. Seine Flucht wird als Akt der Selbstwertwürdigung dargestellt, denn er hätte – so das Stereotyp – in seinem Heimatland einen Beitrag leisten können, hat sich aber dazu entschieden einen Ausweg zu nehmen und nimmt im Aufnahmeland Schutzbedürftigen «den Platz weg». Schlegel gab den Besucher:innen mit auf den Weg, weniger von «den Anderen» zu reden. Jede Form der Migration sei eine legitime und sinnvolle Art der Anpassung an sich ändernde Umstände.
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!
Natürlich jederzeit kündbar.