Missstände im Asylwesen: Zürcher Organisationen fordern Umdenken

Weil die Zustände in Schweizer Rückkehrzentren gegen die UNO-Kinderrechtskonvention verstossen, fordern verschiedene Zürcher Organisationen die Politik zum Handeln auf. Auch Hanna Gerig und Malek Ossi vom Verein Solinetz haben den offenen Brief unterzeichnet.

Die Studie bestätige, was sie seit Jahren sehen: Hanna Gerig und Malek Ossi, Co-Gechäfstleitung vom Verein Solinetz. (Bild: Lara Blatter)

Die Kinder leiden unter Depressionen, Schlaf- und Angststörungen. Sie leben in prekären Wohnverhältnissen und seien traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt – Gewalt, Suizide und gewaltsame Ausschaffungen.

Zu diesem Schluss kommt die am Montag erschienene Studie der Eidgenössischen Migrationskommission (EMK). Sie zeigt, dass die Kinder und Jugendliche in Schweizer Rückkehrzentren in Umständen leben, die nicht nur gegen das Schweizer Recht, sondern auch gegen die UNO-Kinderrechtskonvention verstossen. Besorgniserregend sei vor allem der schlechte psychische Zustand der jungen Bewohner:innen.

Das erstaunt den Verein Solinetz nicht. Er setzt sich für geflüchtete Menschen im Raum Zürich ein. Zusammen mit zahlreichen anderen Organisationen, die sich im Asylwesen oder Kinder- und Jugendschutz engagieren, haben sie einen offenen Brief formuliert.

Darin unterstützen sie den von der EMK formulierten «dringenden Handlungsbedarf». Die Kommission rät für einen verbesserten Schutz der Kinder im Asylwesen, etwa in Form von familiengerechten Unterkünften mit Rückzugs- und Lernmöglichkeiten oder psychologische Unterstützungsprogramme.

Hanna Gerig und Malek Ossi, Co-Geschäftsleitung vom Solinetz, nehmen zur neuen Studie und ihrem offenen Brief an Politik und Behörden Stellung.

Überraschen Sie die Ergebnisse der neuen Studie der EMK?

Malek Ossi: Nein.

Hanna Gerig: Wir lasen die Studie mit Tränen in den Augen. Aber erstaunen tut sie uns nicht. Sie las sich fast wie ein Erlebnisbericht von unseren Freiwilligen, die oft in den Unterkünften unterwegs sind. Die Studie bestätigt das, was wir seit Jahren beobachten und auch sagen. 

Ossi: Überraschend ist die Studie insofern, als sie von offizieller Seite kommt. Die EMK anerkennt damit das Leid von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe. Und dieser offizielle Absender ist wichtig. Es ist der Bund, der die Studie veröffentlicht hat – keine linke Partei oder Bündnis.

Wie geht es Kindern in Zürcher Rückkehrzentren?

Gerig: Es sind definitiv die Kinder, die allen, die ein Rückkehrzentrum besuchen, auffallen. Die einen Kinder kommen sofort zu dir, wollen bei dir sein, ohne dass sie dich kennen, hängen sich an dein Bein. Andere wiederum sind still, apathisch und sprechen kaum. Man kann dem vielleicht «gestörtes Nähe-Distanz-Gefühl» sagen. Nach einem Besuch kann ich ihre dringlichen unausgesprochenen Hilferufe jeweils eine Weile nicht vergessen. 

Ossi: Eindrücklich fand ich die Schilderung eines freiwilligen Helfers in den Unterkünften. Wenn ein Auto vorfahre, gingen die Kinder oft davon aus, dass die Polizei kommt. Sie haben Angst und verstecken sich. Sie wissen, dass die Polizei nicht kommt, um Hallo zu sagen, sie kommt, um Menschen mitzunehmen und auszuschaffen. Solche Erlebnisse sind verstörend.

«Die Kinder leben unter missbräuchlichen Bedingungen, die Schweiz schuldet diesen Kindern viel – ihre Kindheit.»

Malek Ossi

Zürich ist der einzige Kanton, in dem Kinder in der Nothilfe leben, der nicht an der Studie teilnahm. Zürich hat sich aus der Studie herausgehalten, was ist das für ein Zeichen?

Ossi: Vielleicht hat der Regierungsrat damals keinen Handlungsbedarf gesehen. Wir hoffen nun, dass sich die Regierung überlegt, was man ändern kann und mit uns Organisationen in Kontakt tritt. 

Gerig: Auch wenn Zürich nicht teilgenommen hat, können wir auch für Zürich die Zustände wie in der Studie beschrieben bestätigen. 

Im Tages-Anzeiger meinte der zuständige Regierungsrat Mario Fehr zur Nichtteilnahme an der Studie, dass sie darauf ausgelegt gewesen sei, diejenigen zu diskreditieren, die das geltende Asylrecht konsequent vollziehen würden. Er sprach von «Alibiübungen». Ignoriert Mario Fehr damit die Missstände?

Gerig: Dass die Migrationsgesetze keinen Handlungsspielraum liessen und man also sozusagen «bedaure», nicht anders und besser handeln zu können, ist ein billiges Argument. Denn man könnte es ja auch umdrehen. Warum sagen die Kantone nicht: Wir müssen die geltende Kinderrechtskonvention konsequent vollziehen? Ja, Migrationsgesetze und Kinderrecht stehen in einem Dilemma. Doch ich finde: im Zweifel für die Kinder. 

Ossi: Gefährdet das geltende Migrationsrecht Kinder und Jugendliche, dann ist das ein Fehler im System. Die Studie belegt, dass Kinder und Jugendliche in der Nothilfe leiden und sie stark gefährdet sind. Das ist keine Alibiübung. Die Kinder leben unter missbräuchlichen Bedingungen, die Schweiz schuldet diesen Kindern viel – ihre Kindheit. 

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?

Ossi: Wir unterstützen alle in der Studie erwähnten Handlungsempfehlungen. Die Forderungen sind umfassend und wenn sie umgesetzt werden, dann würde die Nothilfe revolutioniert.

Gerig: Nun suchen wir den Dialog mit den Zürcher Behörden, um gemeinsam eine Verbesserung für die Kinder zu erreichen. Und wir wissen: Es gibt reale Handlungsspielräume. 

Lässt sich überhaupt etwas in den Rückkehrzentren ändern, solange das Ziel davon ist, die Menschen nicht zu integrieren, sondern auszuschaffen?

Ossi: Nein. Es braucht neue Konzepte und Denkweisen. Wir müssen vergessen, dass diese Kinder keine Bewilligung haben. Wir müssen sie einfach als Kinder sehen. Kinder mit Bedürfnissen. Eine Spielwiese in der Unterkunft bringt nichts, wenn sich die Familie zu sechst ein Zimmer teilt. Soziale Integration wird zum Beispiel nicht gefördert, wenn alle Kinder aus der Nothilfe isoliert in einer Klasse sind. 

Die Studie fordert, dass der Zugang zur Volksschule und zur Berufsbildung verbessert werden soll. Das sieht das Zürcher Stimmvolk scheinbar anders: Am 22. September wurde die Änderung über das Bildungsgesetz mit 54 Prozent abgelehnt. Es sah schnellere Stipendien für vorläufig Aufgenommene vor. 

Gerig: Das war ein trauriges Zeichen. Dabei sollte längst allen klar sein: Egal, ob vorläufig Aufgenommene oder abgewiesene Asylsuchende in Rückkehrzentren – Bildung lohnt sich immer. 

Ossi: Vergessen geht auch oft, dass besonders Familien nicht ausreisen. Sie bleiben oft lange in den Rückkehrzentren. Heisst, die Jugendlichen und Kinder bleiben hier. Ihnen Deutsch beizubringen, sie in die Schule zu schicken und sie auszubilden ergibt darum nur Sinn. Das sollte auch die Schweizer Wirtschaft mit ihrem Fachkräftemangel erkennen. 

Gerig: Gewichten wir also nicht nur das Kindeswohl, sondern auch das Recht auf angemessene Bildung höher als das geltende Migrationsrecht und fördern auch die Kinder in der Nothilfe, dann hat das eine positive Auswirkung auf unsere ganze Gesellschaft. 

Im Zürcher Asyl-Jugendheim Lilienberg wurden schon 2022 einmal Missstände aufgedeckt. Das Medienecho war riesig. Nun betrifft es Rückkehrzentren. Glauben Sie, dadurch ändert sich etwas?

Ossi: Hoffen wir es! Der Bericht legt eine Basis, die leider wohl auch noch in zwei Jahren hochaktuell sein wird. Wir können mit ihm arbeiten, die Zivilgesellschaft einbeziehen und auf die Politik zugehen. Wir werden einen langen Atem brauchen – die Nothilfe wird es bei der aktuellen politischen Grosswetterlage noch lange geben. 

Gerig: Täglich haben wir beim Solinetz mit den Kindern zu tun. Sie spielen bei uns im Büro mit den Legos, kommen mit auf Ausflüge und beschäftigen unsere Kinderbetreuer:innen in den Deutschkursen. Ich hoffe, dass die Studie die Menschen berührt. Die Kinder sind nicht weit weg von uns. Das sind unsere Kinder – ob wir wollen oder nicht. 

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Natürlich jederzeit kündbar.

Jetzt unterstützen!

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare