Critical Mass – droht jetzt die Eskalation?
Für die kommende Critical Mass wurde bei der Stadt keine Bewilligung eingeholt. Während die Beschwerdeführer fordern, die unbewilligte Demonstration «im Keim zu ersticken», schätzt eine Juristin die polizeiliche Auflösung als «unverhältnismässig» ein.
«Die Demonstrant*innen der Critical Mass haben konkret zum Ziel, den Individualverkehr zu behindern und zu blockieren. Dieses Verhalten wird künftig nicht mehr geduldet.»
Stadtpolizei Zürich
Vor über dreissig Jahren entstand in San Francisco die Idee der Critical Mass. An jedem letzten Freitag im Monat treffen sich Menschen, um gemeinsam mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren. Es gibt keine abgesprochene Route, keine Organisation und der Weg ist das Ziel. In den letzten Jahren gewann die Bewegung auch in Zürich immer mehr an Beliebtheit. In den sonnigen Sommermonaten schliessen sich manchmal Tausende dem Critical-Mass-Zug an – zum Ärger von Pendler:innen, Autofahrenden und bürgerlichen Politiker:innen.
Illegale Critical Mass soll im Keim erstickt werden
Freiheit, Eigenverantwortung und wenig Bürokratie sind Ideale, die sich die Critical Mass und die Freisinnigen teilen. Bei der gemeinsamen Veloausfahrt hört aber der liberale Gedanke von FDP-Parteipräsident Përparim Avdili und seinem Parteikollegen Alexander Brunner auf. Ihnen ist die Critical Mass schon lange ein Dorn im Auge.
Die FDP-Politiker reichten darum im letzten Oktober eine Aufsichtsbeschwerde beim Stadtzürcher Statthalteramt ein, das ihnen Anfang Juli recht gab. Statthalter Mathis Kläntschi stellte klar, dass es sich um eine bewilligungspflichtige Demonstration handle und «die Polizei ihren Ermessensspielraum mit ihrem Nichteingreifen» unterschreite. Der Stadtrat akzeptierte den Entscheid.
Stadträtin Karin Rykart teilte in einer Medienmitteilung mit, darauf hinzuwirken, dass sich die Bewegung Critical Mass um eine Bewilligung bemüht. Wie die Critical Mass ohne Organisationsstruktur eine Bewilligung einholen soll, bleibt jedoch unklar.
Avdili argumentiert, es gehe ihm vor allem um den öffentlichen Verkehr, der durch die Critical Mass während Stunden in Mitleidenschaft gezogen werde. Offizielle Zahlen der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) belegen, dass während des letzten Freitags im Monat jeweils mehrere Linien und tausende Fahrgäste von den Störungen betroffen sind. Jedoch führen bekanntlich auch bewilligte Demonstrationen zu Verkehrsstörungen und Umleitungen von Tram- und Buslinien.
Die Anfrage, welches Vorgehen der Politiker von der Polizei erwartet, falls sich am kommenden Freitag Menschen zum gemeinsamen Fahrradfahren treffen sollten, lässt er unbeantwortet. Gegenüber der NZZ sagte Avdili jedoch vor einigen Wochen: «Ich erwarte, dass der Stadtrat nun auf die Organisatoren zugeht und ihnen klipp und klar sagt: Entweder ihr holt eine Bewilligung ein und plant die Route mit der Stadtpolizei. Oder die Polizei wird die Demonstration im Keim ersticken.» Avdili scheint die Eskalation in Kauf zu nehmen.
Unverständnis in der Community
Ob Avdili wirklich von einer geheimen Organisator:innengruppe ausgeht, die im Hintergrund die Critical Mass lenkt, oder ob es ihm grundsätzlich darum geht, die Critical Mass zu verhindern, bleibt unklar. Wie das Bewilligungsverfahren für die Critical Mass in der Praxis aussehen soll, scheint dem Zufall überlassen zu werden. Denn für die Critical Mass gibt es weder eine Einladung, noch Organisationsstruktur oder homogene politische Anliegen.
Was es jedoch gibt, sind Menschen, die sich mehr für die Bewegung engagieren als andere. Sie tauschen sich in Blogs oder Chats miteinander aus und bauen ausgefallene Fahrräder und Anhänger. Sie prägen die Critical Mass massgeblich mit. Auch wie mit der Bewilligungspflicht umgegangen werden könnte, wird in einem Telegram-Chat diskutiert. Der Grundtenor ist eindeutig: Niemand der über 2000 Chatmitglieder werde sich anmassen, für eine Bewegung ohne feste Strukturen als Veranstalter:in aufzutreten. Und wenn doch jemand vorschlägt, eine Bewilligung einzuholen, machen die anderen klar, dass sie sich an keine vordefinierte Route halten werden.
«Ich komme fix.»
Teilnehmer der Critical Mass
Für den Entscheid des Statthalters hat niemand Verständnis. Auf Anfrage schreibt ein regelmässiger Teilnehmer: «Der Statthalter bestätigt durch seinen Entscheid, dass einzig der motorisierte Individualverkehr den Verkehrsraum übermässig beanspruchen darf und streitet dabei ab, dass es erstens immer mehr Velofahrende gibt und zweitens die Mehrzahl der Stadtbewohnenden kein Auto besitzt.»
Auf einem Fanblog heisst es: «Die Critical Mass ist abgesagt. Schade. Die Fans der Critical Mass Zürich nutzen nun die freie Zeit, um einen kleinen Ausflug durch Zürich zu machen. Fährst du auch mit?»
Ein weiterer Velofahrer sagt gegenüber Tsüri.ch, dass die Velo-Community vorhabe, auch diesen Freitag an die Critical Mass zu gehen. «Ich komme fix. Wir werden schauen, was passiert. Wenn wir weggewiesen werden, gehen wir halt wieder nach Hause. Aber mit dem Velo und gemeinsam.»
Sorgen vor Repression machen sich auch einige, doch so schnell werden sie nicht aufgeben, sagt einer. Ein weiterer Teilnehmer schreibt: «Die aktuelle Situation öffnet Tür und Tor für Willkür. Die Stadtpolizei sollte noch vor dem kommenden Freitag Klarheit schaffen, was sie toleriert und was nicht.»
Juristin findet den Entscheid weltfremd
Bisher halten sich Beat Oppliger, Kommandant der Stadtpolizei Zürich, und die verantwortliche Stadträtin Karin Rykart bedeckt betreffend ihrem Vorgehen bei einer unbewilligten Critical Mass.
Für den Entscheid von Kläntschi hat Anwältin Manuela Schiller wenig Verständnis. Es sei «ein typischer formaljuristischer Entscheid vom Schreibtisch aus geschrieben». Das Resultat gefalle höchstens gewissen Politiker:innen, meint Schiller: «Die Argumentation ist weltfremd» Was das für die Polizei bei ihrem Einsatz konkret bedeute und wie sie ihre Arbeit verhältnismässig ausüben solle, werde nicht miteinbezogen.
Der Statthalter habe ihres Wissens nur festgestellt, dass die Critical Mass eine Demonstration sei und deshalb eine Bewilligungspflicht bestehe. Die Polizei müsse deshalb «adäquate Massnahmen» einsetzen, um diese Pflicht durchzusetzen. Dies sei aber eben nicht immer opportun.
«Haben unsere Polizist:innen nichts Besseres zu tun?»
Manuela Schiller, Anwältin
Unabhängig davon ist auch für Schiller unklar, wie das konkret umgesetzt werden soll. Die Polizei könnte auf geeignete Art und Weise mitteilen, dass sich die Teilnehmenden der Critical Mass an einer unbewilligten Demonstration befinden und sich entfernen sollten, so die Anwältin. «Sie könnten auch alle filmen und versuchen zu identifizieren. Doch das wäre absurd. Haben unsere Polizist:innen nichts Besseres zu tun, als in tausenden Arbeitsstunden friedliche Velofahrende zu identifizieren und zu verzeigen?» Schon jetzt gebe es zu wenig Polizist:innen und die Justiz sei am Anschlag, wendet Schiller ein.
Die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration sei zudem lediglich eine Übertretung der städtischen allgemeinen Polizeiordnung. Es gäbe eine geringfügige Busse, die nicht einmal im Strafregister eingetragen werde. Und wenn es eine Demonstration wäre, dann würden auf einmal alle denkbaren Übertretungen des Strassenverkehrsrechts entfallen, gibt die Juristin zu bedenken.
Dass die kommende Critical Mass polizeilich aufgelöst wird, kann sich Schiller nicht vorstellen. «Das Chaos, das dann ausbrechen würde, würde den ÖV und den motorisierten Individualverkehr viel mehr tangieren.» Auch seien die Fahrenden friedlich und es habe Kinder und Familien dabei. «Ein Eingreifen wäre völlig unverhältnismässig», so Schiller. Die Polizei habe nach wie vor das Recht und die Pflicht, bei jedem konkreten Einsatz eine Lageanalyse vorzunehmen und dann zu entscheiden, wie sie reagiere. Das könnte je nachdem auch bedeuten, dass man die Critical Mass laufen lasse.
Zur bevorstehenden Critical Mass meint sie: «Je mehr kommen, desto unwahrscheinlicher ist es, dass die Polizei die Critical Mass einkesselt.» Ein solcher Einsatz müsse minutiös vorbereitet werden. Dafür eigneten sich nicht alle Orte. Schliesslich geht Schiller davon aus, dass die Velofahrenden am kommenden Freitag Kreativität walten lassen werden und klug genug seien, sich nicht in den Sozialen Medien abzusprechen.
Tsüri.ch lotst dich sicher durch das Zürcher Stadtleben. Fährst du mit?