«Eine systemische Krise kann man nicht lösen, indem alle Bambuszahnbürsten kaufen»

Der «Club of Rome» setzt sich für eine nachhaltige Weltwirtschaft ein. Programmdirektor Till Kellerhoff spricht im Interview über «Drill, Baby, drill» und die Verantwortung einer Bankenstadt wie Zürich.

Till Kellerhoff
Till Kellerhoff arbeitet von Winterthur aus als Programmdirektor für den «Club of Rome». (Bild: Gonzalo del Castillo)

Die Denkfabrik «Club of Rome» ist sowas wie die Mutter von «Degrowth».

In der Publikation «Die Grenzen des Wachstums» hat der Verein basierend auf verschiedenen Computermodellen berechnet, dass bei unverändertem Wachstum von Bevölkerung, Industrialisierung, Rohstoffausbeutung die Wachstumsgrenzen der Erde innerhalb der nächsten einhundert Jahre erreicht werden. Doch 50 Jahre später scheint die Welt wenig gelernt zu haben.

Till Kellerhoff ist Programmleiter des «Club of Rome» und erklärt, wie sie die globale Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft doch noch erreichen wollen.

Nina Graf: Der «Club of Rome» hat die Welt bereits 1972 davor gewarnt, dass unser Planet vor Überlastung kollabieren wird, wenn sich die globale Wirtschaft nicht ändert. Bisher scheint sich grundlegend wenig verändert zu haben; 2024 war beispielsweise das wärmste Jahr seit Beginn der Messungen. Haben Sie es nicht satt, die Leute noch immer vor demselben zu warnen?

Till Kellerhoff: Ja, es ist so: Wir sind längst nicht dort, wo wir sein sollten. Wir sehen nach wie vor steigende CO2-Konzentrationen und die katastrophalen ökologischen Konsequenzen, aber gleichzeitig auch eine Zunahme sozialer Spannungen und gesellschaftlicher Polarisierung. Zumindest ist wissenschaftlich heute viel besser belegt, wie diese planetaren Grenzen aussehen, als vor 30 oder 40 Jahren.

«Die Grenzen des Wachstums» war die erste Publikation, die darauf hingewiesen hat, dass unendliches materielles Wachstum auf einem endlichen Planeten ein Ding der Unmöglichkeit ist. Die Geschichte des Club of Rome zeigt, dass Wissen und Fakten noch lange nicht zu einer Handlungsänderung führen.

Das klingt entmutigend.

Es ist aber auch nicht so, dass gar nichts passiert ist. In Deutschland beispielsweise haben Energieversorger in den 90ern in Zeitungsannoncen geschrieben, dass erneuerbare Energien langfristig nicht mehr als vier Prozent der deutschen Stromversorgung ausmachen können. Inzwischen sind wir bei über 60 Prozent und der Trend ist exponentiell steigend.

Oder in China, wo über 50 Prozent der neu zugelassenen Autos E-Autos sind. Wir erleben gerade eine Energierevolution hin zu erneuerbarer Energie, die auch von Gestalten wie Trump und seiner Ankündigung «Drill, Baby, drill» nicht aufgehalten werden wird. Die Frage ist, ob die Veränderung schnell genug geschieht.

Handkehrum kann man ja auch sagen: So schlimm kann das alles gar nicht sein, die Welt ist noch nicht untergegangen. Und der Club of Rome wurde auch dafür kritisiert, dass beispielsweise die Prognosen zum Bevölkerungswachstum nicht eingetreten sind. 

Das war aber auch nie die Aussage des Buches. Es ging nie darum, präzise Daten zu nennen, wie «Im Jahr 1990 geht das Öl aus» oder «2000 steht die Apokalypse bevor». Sondern darum, mittels verschiedener Szenarien ein Verständnis dafür zu schaffen, welche Auswirkungen ein ungehaltenes Wachstum in Industrie, Nahrungsmittelproduktion, Umweltverschmutzung und so weiter auf einen begrenzten Planeten hat.

«Persönlich vermeide ich den Begriff Degrowth, denn das Bild von Schrumpfen und Zurückgehen löst bei vielen Menschen negative Assoziationen aus.»

Till Kellerhoff, Sozialwissenschaftler und Ökonom

Ihnen wurde immer wieder vorgeworfen, dass sie Untergangsprophet:innen sind. Allein schon das Wort «Degrowth» hat einen negativen Beigeschmack.

Persönlich vermeide ich den Begriff Degrowth, denn das Bild von Schrumpfen und Zurückgehen löst bei vielen Menschen negative Assoziationen aus. Unsere Kernaussage lautet nicht: Wir wollen dein Wohlergehen verkleinern. Unser Ziel ist ein System, das soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit ermöglicht und damit das Wohlergehen der Menschen steigert. 

Auch der Kapitalismus verspricht Wohlstand für alle durch Wirtschaftswachstum.

Im 20. Jahrhundert wurde ganz lange versucht, die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts mit der Steigerung der Wohlfahrt von Menschen gleichzusetzen. Nun kann man empirisch messen, dass das nicht aufgeht. Sowohl auf ökologischer Ebene, aber auch auf sozialer Ebene führt Wachstum eben nicht zwangsläufig zu Wohlstand. Unser Ziel ist ein System, das soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit ermöglicht. 

Dazu hat der Club of Rome fünf Absichten definiert: Beendigung der Armut, Beseitigung der Ungleichheit, Ermächtigung der Frauen, Aufbau eines gesunden Nahrungsmittelsystems, Übergang zu sauberer Energie. Das klingt zum einen vage und zum anderen ziemlich überambitioniert.

Ja, es sind fünf breite Bereiche, aber das sind ja schon mal deutlich weniger als die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Und jeder dieser Bereiche kommt mit spezifischen Vorschlägen für die Politik, sowohl global als auch für einzelne Länder.

Aber für uns steht fest, wir wollen nicht systemische Probleme an Individuen auslagern und so tun, als ob eine systemische Krise gelöst werden kann, wenn jede Person eine Bambuszahnbürste kauft. Stattdessen beschreiben wir mit diesen fünf Handlungsfeldern die Hebel, die die grösste Kraft haben, das System in Richtung eines Lebens innerhalb der planetarischen Grenzen zu verändern. 

Interessant fand ich, dass sie den Kampf gegen Fake News als Handlungsfeld identifiziert haben. Also: Was macht Desinformation mit einer Gesellschaft, die sich eigentlich auf bestimmte Massnahmen einigen müsste?

Genau. Möglicherweise ist die grösste Gefahr für die Menschheit nicht der Klimawandel oder die steigende Ungleichheit, sondern dass man sich nicht mehr auf eine gemeinsame Realität einigen kann. Und man sieht ja gerade, was durch den Aufstieg von populistischen Parteien auf der ganzen Welt passiert. Wenn sowas wie Fakten, Kohärenz und Wahrheit keine Rolle mehr spielen, dann kommt es zu einer Hyperpolarisierung der Politik, die auf Emotionen beruht und die nicht mehr in der Lage ist, wahre Probleme in der Welt anzugehen, sondern Katastrophen eher fördert. 

Das sieht man ja aktuell in den USA.

Nur Fakten zu veröffentlichen und darauf zu hoffen, dass dadurch Verhaltensänderungen stattfinden, klappt nicht. Deswegen hat der Club of Rome in den letzten Jahren auch seinen Fokus verändert, weg von der Problemanalyse hin zur Lösungsanalyse. Wir wollen aufzeigen, dass unsere Massnahmen nicht nur dazu da sind, um eine Apokalypse abzuwehren, sondern um ein besseres Leben für alle Menschen zu schaffen Dass eine Gesellschaft, die nicht polarisiert ist und in der es keine Armut gibt, für alle erstrebenswert ist. 

Sie sind globaler Programmleiter von «Earth4all», dem Projekt, das diese fünf Ziele des Club of Rome in die Praxis umsetzen will. Wie sieht das konkret aus?

«Earth4All» ist eine globale Initiative, die sich damit beschäftigt, wie wir diese weltweite Transformation gestalten und auf verschiedene Regionen und Länder herunterbrechen können. Dabei wollen wir auch aus den Fehlinterpretationen von «Grenzen des Wachstums» lernen. Also nicht nur ein Buch veröffentlichen und hoffen, dass sich was ändert.

Wir arbeiten beispielsweise mit UN-Organisationen an politischen Lösungen auf globaler Ebene. Oder haben konkrete Projekte in einzelnen Ländern, wie Österreich oder Kenia, und schauen mit Partner:innen vor Ort, wie eine Lösung in einem bestimmten kulturellen und lokalen Rahmen aussehen kann.

Die Stadt Zürich wäre sicher eine interessante Kandidatin. Einerseits gibt es hier Initiativen, wie Kreislaufwirtschaft, Netto-Null-Ziele, nachhaltige Ernährungskonzepte. Andererseits ist Zürich als Bankenstadt darauf ausgelegt, mit der Vergabe von Krediten und Zinsen das Wachstum anzuheizen. 

Zürich zeigt die Widersprüchlichkeit auf, die es in diesem komplexen Zusammenhang zwangsläufig gibt. Dass es einerseits bereits ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Veränderungen gibt und auch schon politische Strategien da sind. Andererseits ist es auch so, dass Schweizer:innen wesentlich mehr zum Klimawandel beitragen, als die Bewohner:innen anderer Länder.

Und wir sehen, dass es eben nicht um individuelle Handlungen geht, sondern, dass wir bei den Grundbedingungen ansetzen müssen: Welchen Energieverbrauch haben wir? Aber auch: Welche Auswirkungen hat unser Handeln für Natur und Mensch in anderen Teilen der Welt? 

Was heisst das konkret für Zürich?

Gerade in Ländern, die Finanzzentren sind, stellen sich vermehrt auch Fragen zur weltweiten Finanzierung der fossilen Industrie und dem Zusammenhang mit sozialer Ungerechtigkeit: Wie können wir den erwirtschafteten Reichtum fairer verteilen? 

Zürich zeigt also sehr schön auf, dass es sich um eine systemische Krise handelt und wir an verschiedenen Punkten ansetzen müssen, um die Transformation zu erreichen. 

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2023-05-02 Nina Graf Portrait-13

Aufgewachsen am linken Zürichseeufer, Studium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Freiburg (CH) und Basel. Sie machte ein Praktikum beim SRF Kassensturz und begann während dem Studium als Journalistin bei der Zürichsee-Zeitung. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin untersuchte sie Innovationen im Lokaljournalismus in einem SNF-Forschungsprojekt, wechselte dann von der Forschung in die Praxis und ist seit 2021 Mitglied der Geschäftsleitung von We.Publish. Seit 2023 schreibt Nina als Redaktorin für Tsüri.ch.

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