Die lange Geschichte der Wachstumskritik

Während frühe Systemkritiker:innen auf Selbstverwirklichung statt materiellen Wohlstand plädierten, liegt der Fokus der heutigen Degrowth-Bewegung in den ökologischen Grenzen des Wachstums. Zu Recht, finden unsere Gastautoren.

Fabrik Klima Umweltverschmutzung
Gegründet wurde die Wachstumskritik in Zeiten der Industrialisierung. (Bild: Patrick Hendry / Unsplash)

Stell dir vor, du stehst eines Morgens auf, die Sonne scheint, du trittst mit einem Kaffee in der Hand auf deinen Balkon, streckst dich und atmest einmal tief durch. Du trinkst einen Schluck, lauschst aufmerksam und hörst – nichts. Keine im Wind raschelnden Blätter, keine sich streitenden Einhörnchen, keine zwitschernden Vögel. Der Frühling ist verstummt. Was ist passiert?

Mit diesem fiktiven Szenario beginnt das Buch «Der Stumme Frühling» von Rachel Carson, das 1962 erschien und als Grundstein der modernen Umweltbewegungen gilt. Carsons Werk reihte sich in eine lange Tradition wachstumskritischer Literatur ein. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die Geschichte dieser Debatte.

Die Geschichte beginnt mit Thomas Malthus, der 1789 beobachtete, dass die Weltbevölkerung im Zuge der Industrialisierung immer stärker zu wachsen begann. Er warnte, dass das Bevölkerungswachstum die natürlichen Ressourcen überlasten könnte. Seine Befürchtung wurde unter dem Begriff der «Malthusianischen Falle» bekannt, ist aber gerade wegen des Aufkommens von Wirtschaftswachstum nicht eingetreten.

Etwa 60 Jahre nach Malthus formulierte John Stuart Mill – Begründer des modernen Liberalismus – seine Form der Kritik. Wachstum sei nur ein Mittel zum Zweck: Sobald die materiellen Grundbedürfnisse gedeckt seien, solle sich die Gesellschaft anderen Dingen widmen: sozialem, kulturellem und geistigem Fortschritt.

«When the accumulation of wealth is no longer of high social importance, there will be great changes in the code of morals.»

John Maynard Keynes – Britischer Ökonom, Politiker und Mathematiker

John Maynard Keynes verfasste dann in der Zwischenkriegszeit – noch vor seinem grossen Erfolg – einen Aufsatz mit dem vielversprechenden Titel «Economic Possibilities for our Grandchildren». In diesem prophezeite er, dass die Wirtschaft in hundert Jahren so weit gewachsen sein würde, dass das Problem der Knappheit verschwindet und Menschen sich dem guten Leben zuwenden könnten.

«When the accumulation of wealth is no longer of high social importance, there will be great changes in the code of morals. We shall be able to rid ourselves of many of the pseudo-moral principles which have hag-ridden us for two hundred years, by which we have exalted some of the most distasteful of human qualities into the position of the highest virtues.»

Die moderne Wachstumskritik hat ihre Anfänge nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Bruttoinlandprodukt (BIP), ursprünglich zu Kriegszwecken entwickelt, wurde zu dieser Zeit zur wichtigsten Messgrösse für die gesamtwirtschaftliche Leistung eines Landes und dessen Wachstum zum zentralen Ziel während der Jahre des Wiederaufbaus.

Im Zuge der 60er- und 70er-Jahre war wiederum die Liebe zur Natur kulturell hoch im Kurs. Während manche dieser Liebe via Woodstock und Weed Ausdruck verliehen, schufen andere die Fundamente der modernen Wachstumskritik. Werke wie Nicholas Georgescu-Roegens «The Entropy Law and the Economic Process» oder Kenneth Bouldings «The Economics of the Coming Spaceship Earth» stellten nun plötzlich infrage, ob grenzenloses Wachstum auf einem endlichen Planeten überhaupt möglich sei.

Die 80er brachten die Institutionalisierung dieser Kritik: 1989 gründete sich die «International Society for Ecological Economics» (ISEE) und etablierte ökologische Ökonomik als Forschungsfeld. Die ISEE publiziert seither monatlich das Journal of Ecological Economics.

Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften konnte sich die ökologische Ökonomik somit zwar einen gewissen Platz erkämpfen, sie bleibt jedoch an den Universitäten  eine Randerscheinung. Dies, weil sie meist sowohl eine starke Kritik an der Methodik der Mainstream VWL als auch am Kapitalismus äussert. In einem Forschungsfeld, welches erheblich von privaten, US-amerikanischen Universitäten dominiert wird, ist beides nicht besonders hoch angesehen.

Studierende an der Universität Zürich können nur eine einzige freiwillige Vorlesung zum Thema besuchen, welche von der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät angeboten wird und nicht von der Wirtschaftswissenschaftlichen. Zwar gibt es mit Kate Raworth und Jason Hickel zumindest medial prominente Repräsentant:innen, im Mainstream etabliert hat sich jedoch der Glaube an «Grünes Wachstum», das jedoch keinen kausalen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und ökologischer Belastung erkennt.

Wachstumskritik existiert in den Wirtschaftswissenschaften schon seit den Gründervätern der Disziplin – lange bevor sich das BIP als zentraler Wachstums- und Wohlstandsindikator etablierte. Sie speiste sich nur aus wechselnden Motiven. 

Ob wachsendes BIP das gesellschaftliche Wohlergehen zwingend erhöht, ist umstritten: zum Beispiel wird Care-Arbeit nicht erfasst, während Ausgaben wegen Umweltkatastrophen das BIP erhöhen. Auch bei sinkendem BIP wäre also grundsätzlich eine Steigerung gesellschaftlichen Wohlergehens möglich.

Wie Keynes und Mill bereits vor vielen Jahrzehnten betonten, führt sinkende Wirtschaftsleistung nicht zwingend zu geringerer Lebensqualität. Es könnte vielmehr Raum für ein neu (oder wieder) entdecktes Wohlstandsverständnis schaffen, das sowohl Selbstverwirklichung als auch ökologische Nachhaltigkeit in den Fokus rückt.

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Kommentare

Die Maus
17. März 2025 um 19:10

Wessen Problem eigentlich?

Eine vierspurige 13 Kilometer lange Strasse wurde in den Urwald des Amazonas gerodet und geschlagen, um die 50 000 Teilnehmer (Wissenschaftler, Künstlerinnen, Politiker, Wirtschaftsweisen, Celebrities und was weiss ich wer sonst noch) für die jährliche Klimakonferenz COP25 in den Tschungel in Brasilien per Flugi und Auto zu karren. Mich interessiert das nicht. Ich lebe in der Unterschicht. Das sind die Probleme der (westlichen) Funktionseliten und der Oberschicht. Wenn man ehrlich ist gibts in der Lebenszeit zwischen Himmel und Erde eigentlich auch nicht so viel zu tun.