Gemeinderats-Briefing #61: Keine Chance dem Bürokratiemonster

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Nutzung des Unterwerk Selnau, rassistische Inschriften, Verzeichnis von Autoabstellplätzen.

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Illustration: Zana Selimi

Es ist erstaunlich, wie lang der Atem mancher Parlamentarier:innen ist. Immer wieder bringen sie Themen zur Diskussion, die man eigentlich schon als erledigt betrachtet hatte.

Gestern war es wieder soweit: Der Rat diskutierte über das Kraftwerk Selnau als Standort für die Energiezentrale des geplanten innerstädtischen Energieverbunds «Cool City». Ein dringliches Postulat der SP-, Grünen- und GLP-Fraktionen verlangte, ein Jahr nach der Entscheidung für das Kraftwerk noch einmal nach alternativen Standorten für die Energiezentrale zu suchen und sich dafür insbesondere auch im Untergrund umzuschauen, statt die oberirdische Liegenschaft zu nutzen.

«Es gibt machbare Alternativen», erläuterte Islam Alijaj (SP) mit Blick auf eine Studie, die von der IG Selnau in Auftrag gegeben wurde und noch in diesem Monat erscheinen soll. Die IG Selnau setzt sich für den Erhalt des Kraftwerks, in dem heute das Museum Haus Konstruktiv und der Impact Hub untergebracht sind, als Ort für die Bevölkerung ein. Diese Aternativen müsse man in eine Entscheidung mit einbeziehen, die das Stadtbild über Jahrzehnte hinweg prägen werde, so Alijaj im Rat.

«Man kann nicht sagen: Wir wollen alles, und zwar sofort. Aber nicht so.»

Stadtrat Michael Baumer zu den verschiedenen Wünschen des Gemeinderats

Der zuständige Stadtrat Michael Baumer (FDP) machte deutlich, dass er von einer neuen Standortsuche nichts hält: «Der Standort Selnau ist gesetzt. Beim Ausbau des Fernwärmenetzes machen wir vorwärts und setzen das schnell um. Das war immer eine Forderung dieses Parlaments.» Müsse man sich noch einmal auf Standortsuche begeben, werde man das Netto-Null-Ziel 2040 nicht einhalten können: «Man kann nicht sagen: Wir wollen alles und zwar sofort. Aber nicht so.»

Zustimmung fand Baumer bei Andreas Kirstein (AL). «Die Art und Weise, wie das hier abgelaufen ist, macht mich fassungslos», erklärte er. Inhaltlich sei die Standortsuche mustergültig ausgeführt worden. Der Versuch, hier solch eine Verzögerung einzubauen, verrate die Prinzipien, denen man sich auf dem Weg zu Netto-Null verpflichtet habe. Hinter dem Gesinnungswandel von Dominik Waser (Grüne), der zuvor noch mehr Anstrengungen beim Klimaschutz (siehe unten) angemahnt hatte, mutmasste er Einflussnahme vonseiten der Interessengruppen, die sich für den Erhalt des Kraftwerks in seiner jetzigen Form einsetzen.

Der angesprochene Waser verteidigte sich: Er finde, man könne auch zum jetzigen Zeitpunkt noch Abklärungen machen, das müsse keinen Stopp der bereits begonnenen Vorarbeiten und Projektierungen bedeuten. Zudem sei für das Bauprojekt noch keine einzige Bewilligung erteilt worden, die Zeit, Alternativen zu prüfen, sei also da. Die Fraktionen hinter dem Postulat überwiesen es letztlich mit einer lockeren Mehrheit.

Wieder Diskussion um rassistische Inschriften

Auch ein anderes, bereits als erledigt erachtetes Thema wurde gestern nochmals aufgewärmt. Es ging um die Frage der Abdeckung der «M-Kopf»-Inschriften an Häuserfassaden in der Altstadt. Stefan Urech (SVP) und Yasmine Bourgeois (FDP) hatten ein Postulat eingereicht mit der Forderung, der Stadtrat solle auf seinen Rekurs gegen einen Entscheid des Baurekursgerichts verzichten und die Inschriften stattdessen mit Infotafeln kontextualisieren, wie es die Postulant:innen bereits in einer vorangegangenen Debatte gefordert hatten. Das Baurekursgericht hatte einen Rekurs des Zürcher Heimatschutzes in diesem Frühjahr gutgeheissen, der sich gegen den Entscheid der Stadt richtete, die Inschriften abzudecken.

Urech und Bourgeois wiederholten im Grunde ihre alte Argumentation: Es brauche eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus, eine Abdeckung werde dem nicht gerecht und verhindere zudem noch in «Cancel-Culture»-Manier den Diskurs. Historisch seien solche Inschriften in der Regel ohne rassistische Konnotation verwendet worden, das Geld für den Rekurs solle man doch besser sparen.

Auch die Gegenseite wiederholte ihre altbekannten Argumente. Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) befand, der Abbau rassistischer Strukturen und Denk- und Handlungsweisen sei tägliche gesellschaftliche Aufgabe, Rassismus in der Schweiz Alltag und der Hinweis auf die Inschriften von Betroffenen rassistischer Diskriminierung gekommen: «Jede Person soll das Recht haben, ohne Diskriminierung durch den öffentlichen Raum zu gehen.» Moritz Bögli (AL) verwies darauf, dass die Inschriften nicht besonders historisch seien, sondern erst im 20. Jahrhundert angebracht wurden, als ihre rassistische Konnotation bereits klar vorhanden gewesen sei.

Ann-Catherine Nabholz (GLP) konstatierte, der Stadtrat habe natürlich das Recht, die Sache vor Gericht weiterzuziehen, auch wenn ihre Fraktion stattdessen für die Kontextualisierung sei. Die Kontextualisierung verlange von uns, dass wir uns selbstkritisch mit der unbequemen Vergangenheit auseinandersetzten, während eine Abdeckung wohl in erster Linie uns selbst schütze.

«Wir bedauern zwar ein bisschen, dass man den Umgang mit der Vergangenheit jetzt gerichtlich beurteilen lassen muss», sagte Nabholz: «Aber das ist okay, es entspricht auch unseren Zeiten von kompromissloser Identitätspolitik.» Ihre Fraktion stimmte trotzdem dem Postulat zu, das gegen die Stimmen von SP, Grünen und AL mit 53 zu 59 Stimmen scheiterte. Erwähnenswertes Detail: Serap Kahriman, einzige Person of Color (POC) in der GLP-Fraktion, stimmte trotz Anwesenheit an ihrem Platz nicht mit.

Ein Verzeichnis ohne Mehrheit

Origineller als das Aufwärmen alter Debatten war die Idee der AL, die per Postulat die Einführung eines Verzeichnisses aller privaten Autoabstellplätze in der Stadt forderte. Damit könne eine effizientere Nutzung leerstehender Abstellplätze erreicht, der Bau teurer Tiefgaragen bei Neu- und Umbauten vermieden und der Abbau von Blaue-Zone-Parkplätzen erleichtert werden, erklärte Fraktionsmitglied Michael Schmid. Denn Bauherrschaften seien aufgrund der Parkplatzverordnung heute immer noch verpflichtet, solche Tiefgaragen zu bauen, obwohl diese dann oft aufgrund sinkender Autozahlen in der Stadt leerstünden. Wisse man von leerstehenden Abstellplätzen in der Nachbarschaft, sei der Bau nicht mehr nötig.

Stadtrat André Odermatt (SP) warnte vor dem enormen Aufwand, den die Erstellung eines solchen Verzeichnisses bedeuten würde. Der habe dazu geführt, dass man bereits in der Vergangenheit ein solches Vorhaben wieder aufgegeben habe, so der Vorsteher des Hochbaudepartements, der für seine Antwort offenbar ein wenig Eigenrecherche betrieben hatte. Man könne bereits heute, ohne ein solches Verzeichnis, in der Nachbarschaft nach leeren Abstellplätzen suchen, argumentierte er.

Martina Zürcher (FDP) sprach von einem Bürokratiemonster und fragte: «Was kommt als nächstes? Eine Abfrage, wie oft man ein Auto, eine Vespa, ein Velo, einen Kinderwagen braucht und bewegt?» Sven Sobernheim (GLP) stiess ins selbe Horn und wunderte sich, wie die Nutzung einer Garagenbox kontrolliert werden solle. Wenig verwunderlich wehrte sich auch die SVP gegen die Idee. Derek Richter meinte, aufgrund der kantonalen Vorgaben für Parkplätze im Verhältnis zur Wohnfläche könne die Gemeinde sowieso nichts machen.

Während sich Severin Meier (SP) wenigstens für die Prüfung einer nicht allzu bürokratischen «Light-Version» aussprach, überraschte die ablehnende Haltung der Grünen. Ihr Fraktionsmitglied Jürg Rauser sagte, man sei für eine Anpassung der Parkplatzverordnung mit einer Minimierung der vorgegebenen Parkplätze, und nicht für eine Optimierung des Parkplatzregimes.

Überraschend war auch die Uneinigkeit der Mitte/EVP-Fraktion. Claudia Rabelbauer (EVP) fand, man lehne die Begründung im Hinblick auf Parkplatzabbau zwar ab, ein Teil der Fraktion sehe in solch einem Verzeichnis jedoch ein gutes Instrument, um festzustellen, welche Quartiere mit Parkplätzen unterversorgt seien. Am Ende stimmten zwei von drei EVPlern mit SP und AL für das Postulat, David Ondraschek (Die Mitte) enthielt sich. Eine Mehrheit kam damit aber nicht zustande.

Weitere Themen der Woche

  • Mittels Postulat wollten Flurin Capaul und Cathrine Pauli (beide FDP) erreichen, dass der Stadtrat den tatsächlichen Wert der städtischen Kunstsammlung künftig in der städtischen Bilanz ausweist. Da der Versicherungswert über 67 Millionen Franken betrage, existierten durch die Nicht-Ausweisung stille Reserven in beträchtlicher Höhe, heisst es im Postulatstext. In der Debatte wurde jedoch schnell deutlich, dass der Versicherungswert nicht unbedingt dem Verkehrswert von Kunstgegenständen entspricht, sich dieser sowieso schwer bemessen lässt und die Gemeindeordnung noch dazu verpflichtet, Kunstgegenstände ein Jahr nach Erwerb abzuschreiben, also gar nicht bilanziell aufzuführen. Die Stimmen von FDP, GLP und SVP reichten nicht aus, um das Postulat zu überweisen.
  • Dominik Waser verlas eine Fraktionserklärung seiner Grünen zum kürzlich veröffentlichten Netto-Null-Zwischenbericht 2022 inklusive Klimaschutzplan zur Erreichung von Netto-Null 2040. Es freue die Grünen, dass die Stadt beim Klimaschutz anpacke und insbesondere auch mit Zwischenzielen konkreter werde, so Waser. Doch das reiche nicht: Zum einen zeige der Zwischenbericht auf, dass der lineare Absenkpfad bis 2040 voraussichtlich nicht eingehalten werde, zum anderen fehlten tiefergreifende Suffizienz-Massnahmen genauso wie ambitionierte Ziele im Bereich Verkehr bis 2030. Es ergebe ausserdem keinen Sinn, zunächst zu versuchen, die direkten Emissionen zu senken und erst in einem zweiten Schritt die indirekten.
  • In einer von Yasmine Bourgeois verlesenen Fraktionserklärung äusserte die FDP ihr Bedauern über das Aus für das Züri Fäscht. Es sei ein Alarmsignal für die ganze Stadt, so Bourgeois, denn vom Quartierfest bis zur Streetparade stünde nun jeder Anlass zur Disposition. Mit Blick auf die gestiegenen städtischen Auflagen, die laut Organisationskomitee zum Ende des Events geführt hatten, meinte sie, die Stadtpräsidentin und der Stadtrat hätten nicht den Mut und die Führungsstärke aufgebracht, in dieser Stadt Raum zu lassen für Dinge, «die nicht ins Schema rotgrüner Dogmatiker passen».
  • Austritt I: Patrick Hässig (GLP) rutscht in den Nationalrat nach, nachdem die bisherige Nationalrätin Tiana Angelina Moser in den Ständerat gewählt wurde. Ratspräsidentin Sofia Karakostas (SP) bezeichnete den ehemaligen Radiomoderator und heutigen Pfleger zum Abschied als «engagierten und bodenständigen Senkrechtstarter», der nun eine der wenigen Stimmen aus und für die Pflege in Bern sein werde. Hässig verzichtete auf ein Rücktrittsschreiben. Ein Porträt von ihm findest du bei Tsüri.ch.
  • Austritt II: FDP-Politikerin Mélissa Dufournet verlässt den Rat nach dreieinhalb Jahren und verzichtete ebenfalls auf ein Rücktrittsschreiben. Karakostas würdigte ihr «dezidiertes Eintreten für die Rechtsstaatlichkeit», ihr sachliches und respektvolles Auftreten sowie ihr Eintreten für die Gleichstellung der Geschlechter, indem sie sich gegen das faktische Politikverbot für Mütter nach der Geburt engagiert hatte. Auch sie haben wir bei Tsüri.ch porträtiert.

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