Gemeinderats-Briefing #56: Gemeinsam gegen den Markt

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: FDP und AL spannen bei Fernwärme zusammen, Getränkekartons sollen recycelt werden.

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Illustration: Zana Selimi (Quelle: Zana Selimi)

Wenn der Markt regelt, dann ist in der Regel eine Partei zufrieden: Die FDP. Doch Regeln haben Ausnahmen, und die werden vom FDP-Urgestein und Direktor des Zürcher Hauseigentümerverbands (HEV) Albert Leiser gerne dann gemacht, wenn es um die Anliegen der Hausbesitzer:innen geht. Leiser spannte in seiner 24-jährigen Gemeinderats-Karriere bereits mehrmals mit Vertretern der AL zusammen, um dem Markt im Sinne von Mieter:innen und Vermieter:innen gleichermassen ein Schnippchen zu schlagen.

So auch bei der Motion, die gestern an den Stadtrat überwiesen wurde. Leiser und der AL-Gemeinderat Andreas Kirstein forderten darin die Einführung eines Einheitstarifs für den Anschluss und den Bezug von Fernwärme in Zürich, «im Sinne eines Service Public», wie Kirstein erklärte. Leiser und er haben schon häufiger gemeinsame Vorstösse ausgearbeitet, zum Beispiel immer wieder für eine befristete Senkung der Abwassergebühren.

Warum Leiser bei der Fernwärme für einen Einheitstarif ist, erklärte er folgendermassen: Die Fernwärme sei in dicht besiedelten Gebieten im Sinne des Netto-Null-Ziels zu begrüssen und lärmigen Wärmepumpen vorzuziehen. Es könne allerdings nicht sein, dass ein:e Hauseigentümer:in direkt an der Strasse 20'000 Franken für einen Anschluss zahle, jemand anders weiter entfernt von der Strasse aber 120'000. Stadträtin Simone Brander sagte, man setze das Anliegen gerne um, wolle sich allerdings erst um den Zusammenschluss der Netze kümmern und dann um den Einheitstarif, weshalb sie das Vorhaben als Motion mit engem Zeitplan ablehne und gerne als Postulat entgegennehme.

Die Rolle des Marktradikalen übernahm Johann Widmer (SVP): Es handle sich um ein sozialistisch-planwirtschaftliches Anliegen der AL, das ökonomisch falsch sei. Die Produktionskosten von Wärme aus Seewasser seien nun einmal andere als die von Wärme aus Abfall, das gelte es zu berücksichtigen. Auch die GLP zeigte sich skeptisch, sollte der Vorstoss als Motion beibehalten werden. «Uns ist nicht ganz klar, wie diese radikale Tarifeinheit festgelegt werden soll», sagte Beat Oberholzer. Werde zu konservativ gerechnet, würde es für manche deutlich teurer, im gegenteiligen Fall könne sich der Ausbau nicht mehr lohnen und die Dekarbonisierungsziele stünden auf dem Spiel. Die Motionäre kümmerten die Einwände wenig: Gegen die Stimmen von SVP und GLP wurde die Motion überwiesen.

Getränkekartons sollen recycelt werden

«Wir fordern, was schon längst überfällig ist», eröffnete Selina Walgis die Begründung einer Motion ihrer Grünen-Fraktion. Darin wird die Einführung eines flächendeckenden Getränkekarton-Recyclings gefordert. Diese Kartons seien nach Glas und PET die dritthäufigste Getränkeverpackung, so Walgis. Doch obwohl sie relativ problemlos rezykliert werden könnten, gäbe es in Zürich kaum Möglichkeiten dafür.

Stadträtin Brander pflichtete Walgis bei: Das Recycling von Getränkekartons sei eine gute Sache, um die Ressource Holz zu schonen. Doch man wolle es zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einführen, da sich ein System für ein schweizweites Kunststoff-Recycling abzeichne, das dann auch die Getränkekartons beinhalten würde. Ein städtisches Projekt würde sich deshalb nicht lohnen, so Brander: «Aber wir stehen selbstverständlich gerne bereit, bei einem bundesweiten Pilotprojekt mitzumachen.»

Ursina Merkler bekräftigte die Zustimmung der SP für den Grünen Vorstoss, doch damit waren noch nicht ausreichend Stimmen für eine Mehrheit beisammen. Neben der SVP, deren Johann Widmer von «horrenden Kosten» sprach, sollte sich die Stadt für ein solches System im Alleingang entscheiden, stellte sich auch die AL gegen die Motion in ihrer ursprünglichen Form.

Michael Schmid fand, sinnvoller als das Recycling sei die Verwendung von Mehrwegverpackungen, wie sie bis vor wenigen Jahren noch üblich gewesen seien. Er beantragte eine Textänderung, sollte die Motion in ein Postulat umgewandelt werden. Darin forderte er, dass die Verantwortung für die Rücknahme bei den Geschäften liege und nicht bei der Stadt. Damit könnten die richtigen Anreize für den Handel geschaffen werden, wieder mehr auf Mehrweg zu setzen. Benedikt Gerth von der Mitte wiederum meinte, seine Fraktion würde den Vorstoss nur als Postulat mit überweisen. So sahen sich die Grünen, die den Textänderungsantrag der AL nicht annahmen, zur Umwandlung in ein Postulat gezwungen, um die nötige Mehrheit zu bekommen. Am Ende stimmten nur AL und SVP dagegen.

Weitere Themen der Woche

  • In einem dringlichen Postulat bat die AL den Stadtrat zu prüfen, wie die Frist zur Einreichung des Antrags für die Energiekostenzulage einmalig erstreckt werden könne. Wie Fraktionspräsident David Garcia Nuñez darlegte, sei den knapp 60'000 angeschriebenen bezugsberechtigten Personen nur eine Frist von gut zwei Wochen geblieben, um den Antrag einzureichen. Der Rücklauf von knapp 20'000 Anträgen sei viel zu wenig. Während die SVP eine erneute Grundsatzdebatte über eine angeblich gescheiterte rotgrüne Energiepolitik vom Zaun brechen wollte, fanden GLP und die Mitte, dass an dem bereits beschlossenen Verfahren nichts mehr geändert werden solle. Stadtrat Raphael Golta (SP) stellte klar, dass die eingegangenen Anträge sich auf Haushalte bezögen und deshalb häufig mehr als eine Person beträfen, weshalb er mit der Rücklaufquote zufrieden sei. AL, Grüne und SP überwiesen das Postulat trotzdem mit ihrer Mehrheit. Die FDP enthielt sich. Man anerkenne, dass die Frist zu kurz sei, erklärte Sebastian Vogel, doch bezüglich der Zulage gelte: «Pfusch bleibt Pfusch.»
  • Grünliberale Interpellation I: Patrick Hässig (GLP) ging auf die Antwort des Stadtrats auf eine Interpellation seiner Fraktion aus dem Oktober letzten Jahres ein. Darin will die GLP wissen, wie es um die lange angekündigte, aber bislang nicht umgesetzte Elektromobilitätsstrategie der Stadt zur Dekarbonisierung des Verkehrs steht. Es mache den Anschein, dass die Stadt die E-Mobilitätsstrategie bewusst hinauszögere, so Hässig. Stadträtin Simone Brander (SP) erklärte, auch sie wäre froh, gäbe es das Konzept bereits. Als Gründe für die Verzögerung nannte sie die zwischenzeitliche Annahme des Richtplans und der Netto-Null-Ziele, die Anpassungen der Strategie erforderten. Stephan Iten (SVP) warf ihr daraufhin vor, ihre Prioritäten falsch zu setzen.
  • Grünliberale Interpellation II: Auch eine weitere Interpellation der GLP, deren Beantwortung gestern diskutiert wurde, ist bereits fast ein Jahr alt. In ihr wollten Carla Reinhard und Serap Kahriman wissen, weshalb die Stadt das ETH-Forschungsprojekt «E-Bike-City» nicht unterstützt, das das fiktive Szenario einer 50-50-Aufteilung des Strassenraums zwischen dem motorisierten Individualverkehr (MIV) und dem Langsamverkehr untersucht. Das Projekt sei ein guter Anlass, um generell über die Aufteilung des öffentlichen Raums in der Stadt zu reden, so Reinhard, schliesslich habe nicht einmal die Hälfte der Einwohner:innen ein Auto, der Strassenraum werde aber weiterhin vom MIV beherrscht. In seiner Antwort hatte der Stadtrat erklärt, die 50-50-Aufteilung des Strassenraums scheine «zu kurz gegriffen für das übergeordnete Ziel, klimaneutral zu werden». Gleichwohl habe man der ETH für das Projekt Daten zur Verfügung gestellt. Reinhard sagte, die Antworten liessen vermuten, dass der Stadtrat keine Antworten auf die grossen Infrastrukturfragen habe.
  • Der Gemeinderat hiess gestern drei Postulate für eine Verbesserung der Fussballinfrastruktur in der Stadt gut. Während Martin Götzl und Reto Brüesch (beide SVP) eine Spielfeldbeleuchtung der Fussballanlage Katzenbach bis 22 Uhr forderten, wollten Lisa Diggelmann und Anjushka Früh (beide SP) eine Spielfeldbeleuchtung auf drei Spielfeldern der Sportanlage Juchhof 2 sowie auf einem Spielfeld der Sportanlage Forrenweid. Während die SP-Vorstösse bequeme Mehrheiten vor allem gegen die meisten Grünen und vereinzelte AL-Mitglieder errangen, war die Annahme des SVP-Postulats knapp, da SP, GLP und einzelne Grüne dagegen stimmten. Streitpunkt zwischen Grünen und SP war wie bei vorangegangenen Diskussionen um Fussballfelder die Frage nach der Nachhaltigkeit und Umweltverträglichkeit von Kunstrasen- gegenüber Naturrasenfeldern.
  • Verabschiedung I: Gleich mehrere Gemeinderät:innen treten zu den Herbstferien aus dem Gemeinderat aus. Der ehemalige Gemeinderatspräsident Mischa Schiwow (AL) tut dies nach über sieben Jahren im Rat. In seinem Rücktrittsschreiben sprach er vom Ratsmandat als einer Art Weiterbildung, das er nun absolviert habe und bezeichnete es als ernüchternd, dass die Stadt sich beim gemeinnützigen Wohnungsbau dem Drittelsziel nicht nähere, sondern weiter davon entferne. Sein Rücktritt habe vor allem persönliche Gründe: Er wolle sich mehr um seine beiden Enkel kümmern. Ausserdem werde er sich weiter politisch für die Anliegen von Mieter:innen engagieren. Als Gemeinderat der Woche stellten wir Schiwow kürzlich näher vor.
  • Verabschiedung II: Auch Nadia Huberson (SP) verlässt den Gemeinderat. Sie war im Frühjahr 2018 eingetreten und habe eigentlich vorgehabt, bis 2026 zu bleiben, wie es in ihrem Rücktrittsschreiben hiess. Sie blicke auf eine intensive, spannende, aber auch sehr herausfordernde Amtszeit zurück und benötige nun dringend eine Politpause. Gemeinderatspräsidentin Sofia Karakostas würdigte ihren Einsatz für das Thema Einbürgerungen, für Lohngleichheit und Chancengerechtigkeit im Bildungssystem.
  • Verabschiedung III: Zuletzt wurde auch Josef Widler (Die Mitte) aus dem Gemeinderat verabschiedet. Er sass bereits von 2005 bis 2011 im Gemeinderat und kam mit dem Wiedereinzug seiner Partei 2022 wieder zurück ins Parlament. Der langjährige Präsident der Zürcher Ärztegesellschaft sitzt auch im Kantonsrat und zog in seinem Rücktrittsschreiben einen Vergleich der Sitzungszeiten. Daraus schlussfolgerte er, dass der Gemeinderat seine Geschäfte auch in einer deutlich kürzeren Sitzungszeit erledigen könne und erklärte, ihn hätten die ausufernden Debatten öfter gelangweilt. Er wünsche dem Rat etwas mehr Gelassenheit in den Debatten, um gemeinsam Lösungen für die Stadt zu erarbeiten.
  • Begrüssung: Für die zurückgetretene Nicole Giger sitzt seit gestern neu Leah Heuri für die SP im Gemeinderat. Mit ihrem Jahrgang 2000 sorgt die Studentin für eine Verjüngung des Rats und ihrer Fraktion.

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