Gemeinderats-Briefing #55: Der eiserne Ring

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Mythen-Park wird abgelehnt, FDP will Leistungskontrolle vor Leistungsbezug, Weiterbildung für Behinderte soll unterstützt werden.

Löchriger als ein Schweizer Käse ist eigentlich nur eins: Die Schweiz selbst. Wo es nur geht, werden Berge durchbohrt, und auch wenn es mit dem grossen, dem national bedeutsamsten Loch in letzter Zeit ein paar Schwierigkeiten gab: Die Fähigkeit, bislang noch jedes Terrain zu untertunneln ist nicht zu Unrecht ein Quell von Schweizer Stolz.

Wenn da nicht die linksgrün dominierten Städte und ihre Aversion gegen grosse Tunnelprojekte wären. Das Zürcher Stimmvolk hat nicht nur in den 70er-Jahren den Plan für eine U-Bahn beerdigt, sondern vor wenigen Jahren auch Nein zum Rosengartentunnel gesagt, der die zentrale Durchfahrtsstrasse durch Wipkingen entlasten sollte.

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Illustration: Zana Selimi

Es ist also gar nicht so unwahrscheinlich, dass auch der seit Jahrzehnten durch Politik und Medien geisternde Seetunnel unter dem Zürichsee in der Stadt nie eine Mehrheit finden würde. Beim Gemeinderat jedenfalls fiel gestern eine Kurzvariante klar durch.

Auslöser war eine Volksinitiative, die von der IG Seepärke eingereicht wurde und die einen zusammenhängenden «Mythen-Park» entlang des heutigen Mythenquai am Seeufer fordert. Mit über 3000 Unterschriften wurde die Initiative Ende 2021 eingereicht, der Stadtrat prüfte laut Stadträtin Simone Brander (SP) 20 Varianten und kam zum Schluss, dass er keinen sinnvollen Gegenvorschlag formulieren kann. So legte er dem Gemeinderat per Weisung eine Umsetzungsvorlage vor, die er sogleich zur Ablehnung empfahl: Mit grob veranschlagten Kosten von knapp 255 Millionen Franken könnte laut dieser Vorlage der Mythenquai in einen Tunnel verlegt werden, um Platz für den geforderten Park zu machen.

«Der Preis ist sogar für Zürich exorbitant.»

Stadträtin Simone Brander (SP) über die Umsetzung eines Mythen-Parks mithilfe eines Seetunnels

Man teile den Wunsch eines grossen, durchgehenden Parks am linken Seeufer, so Brander, doch: «Der Preis ist sogar für Zürich exorbitant.» Mit den bereits anvisierten Umgestaltungsprojekten des Hafens Enge und der Sukkulentensammlung komme man diesem Ziel auch so Schritt für Schritt näher. Branders Einschätzung wurde im Rat weitgehend geteilt: Fast alle Redner:innen befanden, der Aufwand für solch ein kurzes Stück Tunnel, das dann auch noch mit riesigen Rampen daherkomme, stehe in keinem Verhältnis zum Nutzen.

Nur die AL sagte zwar Nein zur städtischen Umsetzungsvorlage, aber Ja zur Volksinitiative (respektive Nein zur Ablehnungsempfehlung des Stadtrats). Michael Schmid (AL) holte für seine Begründung weit in die Historie aus: Im 19. Jahrhundert sei die Stadtbefestigung geschleift worden, weil sie das Wachstum der Stadt behindert habe. In derselben Zeit habe es Pläne für eine Eisenbahnstrecke vom Bahnhof Stadelhofen zum Bahnhof Enge entlang des Sees gegeben, die als «eiserner Ring» massiv bekämpft worden sei. Statt der Zugstrecke habe sich im folgenden Jahrhundert aber ein neuer «eiserner Ring» in Form der Strasse entlang des Sees gezogen.

Um den Protest gegen diesen heutigen Ring auszudrücken, empfehle die AL die Annahme der Initiative, auch wenn man die Tieferlegung der Strasse ablehne. Sollte die Initiative angenommen werden, so Schmid, fordere man den Satdtrat auf, statt einer Tunnellösung eine konfrontative Lösung vorzulegen, die sich gegen den Kanton mit seinem gesetzlich verankerten Erhalt des übergeordneten Strassennetzes, und damit auch des Strassenbands entlang des Sees, stelle. Der Entscheidung der AL folgte ein Vertreter der Jungen Grünen, ein weiterer enthielt sich der Stimme.

Die FDP will Leistungskontrolle vor Leistungsbezug

Was Përparim Avdili und Hans Dellenbach (FDP) mit ihrem gestrigen Postulat vorhatten, verpackten sie in nette Worte. «Die Zeiten ändern sich und mit ihnen auch unsere Arbeitsmodelle», eröffnete Avdili. Und Dellenbach erklärte später: «Wir stehen selbstverständlich voll hinter dem Teilzeit-Trend, das ist die Zukunft.» Das grosse Aber, und damit der Inhalt ihrer Forderung, liess jedoch nicht lange auf sich warten: «Das ist völlig legitim, so lange man die Allgemeinheit nicht über Gebühr belastet», erklärte Avdili, während Dellenbach meinte: «Leistung muss sich wieder lohnen.»

Mit ihrem Postulat forderten beide, den Bezug städtischer Unterstützungsleistungen aller Art von der vollen Ausschöpfung der zumutbaren Erwerbsarbeit abhängig zu machen. Mittels Teilzeitarbeit könne eine Bedürftigkeit heute teilweise oder ganz selber herbeigeführt werden, klagte Avdili. Das untergrabe das Vertrauen der steuerzahlenden Allgemeinheit, die für die Unterstützungsleistungen aufkomme. Selbstverständlich wolle man Faktoren wie Kinder, Care-Arbeit oder Miliztätigkeit bei der Beurteilung der zumutbaren Erwerbsarbeit berücksichtigen. Dafür könne die Rechtsprechung im Eheschutz- und Scheidungsrecht herangezogen werden.

Stadtrat Raphael Golta erklärte, er sehe das Problem in Zürich nicht wirklich und glaube eher, dass es von der NZZ etwas stark bewirtschaftet worden sei. Schon heute werde bei Unterstützungsleistungen teilweise auf die zumutbare Erwerbstätigkeit geschaut. Das sei ein ziemlicher Aufwand, so dass man bei der Kinderbetreuung regelmässig darüber nachdenke, es wieder sein zu lassen. Auch Anreize hätten irgendwann ihre Grenzen.

Tanja Maag (AL) hielt ebenfalls wenig vom FDP-Vorstoss. Sie befand, es sei ein «Angriff auf die Teilzeitarbeit». Die Leistung von Einzelpersonen in unserer Gesellschaft könne nicht rein monetär ausgedrückt werden.

Selina Frey (GLP) wiederum erklärte, ihre Fraktion unterstütze das Anliegen grundsätzlich, allerdings nicht in Form dieses Postulats. Es sei zu aufwändig und zu wenig zielgerichtet formuliert. Sie verwies in diesem Kontext auch auf die Forderung nach einer Individualbesteuerung.

Eine Mehrheit setzte sich gegen SVP, FDP und Mitte/EVP durch und lehnte das Postulat ab.

Unterstützung bei der Weiterbildung für Behinderte

Menschen mit Behinderungen würden oft «beschäftigt» anstatt individuell gefördert. So steht es in einem Postulat von Islam Alijaj (SP) und Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne). Darin fordern sie den Zugang zu angemessenen Aus- und Weiterbildungen nach der regulären Schulzeit für Menschen mit Behinderungen. Es gebe momentan zwar durchaus Unterstützungsangebote, so Alijaj, aber man brauche allein schon für die Kommunikation oft Unterstützung und müsse sich dafür aktuell noch selbständig um alle notwendigen Abklärungen kümmern.

«Der zusätzliche Effort sollte für uns als Gesellschaft selbstverständlich sein» befand seine Mit-Postulantin Schmaltz, und auch AL und GLP bekundeten ihre Unterstützung.

Michele Romagnolo (SVP) fand, die derzeit verfügbaren Unterstützungsleistungen seien bereits genug, es sei dort keine konkrete Schwachstelle ersichtlich. Patrik Brunner (FDP) sah das Problem vor allem in der Forderung nach einer «Insellösung» für die Stadt Zürich, wo das Anliegen doch seiner Ansicht nach auf die kantonale Ebene gehöre.

Gegen die Stimmen von SVP und FDP sagte aber eine deutliche Mehrheit Ja zum Vorstoss.

Weitere Themen der Woche

  • Ein düsteres Bild hat Samuel Balsiger (SVP) gestern von Zürich gezeichnet – und damit letztlich die Stimmung im Saal verdüstert. Zusammen mit seinem Fraktionskollegen Stephan Iten hatte er in einer Interpellation den Stadtrat nach Problemen im Zusammenhang mit dem Bundesasylzentrum befragt. Ausserdem kam eine Interpellation der beiden zur Diskussion, die auf eine Studie verwies, nach der fünf Prozent aller Jugendlichen die Mehrzahl der Straftaten begingen. In einem gemeinsamen Postulat forderten sie die Wiedereingliederung dieser fünf Prozent von Jugendlichen durch Beschäftigung in der Privatwirtschaft. Während Gemeinderät:innen von FDP, GLP und Mitte anerkannten, dass die Probleme bestünden, das Postulat jedoch als unbrauchbar zurückwiesen, verhielt sich die linke Ratsseite zunächst still. Aus Protest gegen Balsigers Ausdrucksweise, der von «Asylanten», «Kuscheljustiz» und von Gewalt, die fast «amerikanische Verhältnisse» annehme, sprach, sowie Eritrea als sicheres Land bezeichnete, verliessen mehrere Linke den Ratssaal. Nachdem Andreas Egli (FDP) den Linken wiederum vorgeworfen hatte, die Diskussion und damit eine sachliche Lösung zu verweigern, folgte ein heftiger Schlagabtausch, in dem unter anderem dem Ratspräsidium mangelndes Durchgreifen gegen rassistische Äusserungen vorgehalten wurde. Ratspräsidentin Sofia Karakostas (SP) kündigte daraufhin an, zukünftig deutlich schneller zu reagieren, «auf beiden Seiten».
  • Schulbauten I: Für geschätzte Baukosten von 140 Millionen Franken soll in Altstetten die Schulanlage Im Herrlig einem Ersatzneubau weichen und ein Quartierpark daneben entstehen. Die entsprechende Weisung des Stadtrats hat der Gemeinderat gegen die Stimmen der SVP – die sich generell gegen den Bau der neuen, grösseren Schulhäuser und die damit einhergehende «Verschmelzung von Betreuung und Unterricht» (Stefan Urech) wehrt – angenommen. Zusätzlich wurde ein Postulat von Urs Riklin und Selina Walgis (beide Grüne) angenommen, das im Zusammenhang mit dem Neubau die Einrichtung einer öffentlichen Toilette fordert – auch dieses gegen die Stimmen der SVP.
  • Schubauten II: Sowohl die Schulanlagen Im Gut und Zurlinden im Sihlfeld als auch die Schulanlage Milchbuck sollen im Zuge der Einführung der Tagesschule umgebaut werden. Die dafür beantragten Kredite hat der Gemeinderat gestern gegen die Stimmen der SVP genehmigt. Ein Postulat von Balz Bürgisser und Urs Riklin (beide Grüne), beim Schulhaus Milchbuck die Fussverkehrssicherheit auf der Stauffacherstrasse zu erhöhen, wurde gegen die Stimmen von SVP, FDP und Mitte/EVP angenommen – die Gegner:innen sahen darin vor allem den Versuch, auf der Strasse Tempo 30 einzuführen.
  • Matthias Probst verlas zu Beginn der Sitzung eine Fraktionserklärung seiner Grünen, in der er auf das neue Verkehrsregime in der Langstrasse einging. Von 1970 bis 2023 habe es gedauert, bis die Idee einer autoarmen Strasse aus dem Quartier habe umgesetzt werden können, so Probst. Die Grünen seien darüber erfreut, dass Velofahrende nun freie Fahrt in beide Richtungen haben. Gleichzeitig sähen sie es aber als problematisch an, dass der motorisierte Verkehr nun über die andere Strassen wie die Kanonengasse geleitet werde und dass die Langstrasse nachts zu einer «veritablen Durchgangsstrasse» werde. Stephan Iten (SVP) sprach in einer persönlichen Erklärung von einer «weiteren stumpfsinnigen Idee», um Zürich autofrei zu bekommen. Er prophezeite lange Umwege und Rückstaus, die Probst in einer Replik wiederum der kantonalen Politik anlastete, die von SVP-Interessen angetrieben sei.

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