Gemeinderats-Briefing #52: Komplizierte Dauerbaustellen

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: (Nicht-)Verschiebung der Tramhaltestelle Sihlquai, Biogas in städtischer Hand, zusätzlicher Fonds für städtische Projekte.

Seit ich in Zürich lebe, kenne ich die Gegend um den Hauptbahnhof nur als eine einzige grosse Baustelle. Es ging los mit der Front des Gebäudes, dann kam die Seite des Bahnhofplatzes dran, später die Sanierung der Gleise auf der anderen Seite, der Zollbrücke. Zuletzt der Bau des Velotunnels unter dem HB mit Baustellen auf beiden Seiten des Bahnhofsgebäudes. Nach der gestrigen Gemeinderatssitzung weiss ich: Dass ich jemals ein Ende der HB-Dauerbaustelle erleben werde, ist keine ausgemachte Sache.

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Illustration: Zana Selimi

Denn die Zollbrücke, auf der eben erst die Gleise ersetzt wurden, ist offenbar stark sanierungsbedürftig. Bis Ende 2025 müsse das Bauwerk, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts schon etliche Male ersetzt wurde, Instand gesetzt werden, da insbesondere die Brückenabdichtung nach 32 Jahren korrosionsanfällig geworden sei. So steht es in einer Weisung, die der Stadtrat dem Gemeinderat vorlegte und in welcher er die Abschreibung einer Dringlichen Motion von 2019 beantragte. Diese Motion war von der SP, den Grünen, der GLP und der AL eingereicht worden, und spätestens jetzt wird es kompliziert.

Was die erwähnten Fraktionen damals so dringend erreichen wollten, war eine Verschiebung der Tramhaltestelle Sihlquai auf die Zollbrücke, also näher an die Gleise der SBB, im Rahmen der geplanten Instandsetzung der Brücke. Der Stadtrat allerdings beantragte dem Parlament zwei Mal eine Fristverlängerung, um die Motion letztlich nicht umzusetzen.

Das Projekt einer Verschiebung sei ein schwieriges Unterfangen, so die zuständige Stadträtin Simone Brander (SP). Es müssten verschiedenste Akteur:innen vom Landesmuseum bis zu den SBB eingebunden werden. Und dann gebe es ja auch noch den «Masterplan HB/Central» als Zukunftskonzept des gesamten Gebiets um den Hauptbahnhof, der auf eine Motion aller(!) Gemeinderatsfraktionen im Jahr 2014 zurückgeht. Dieser Vorstoss forderte, dass die betreffenden mittel- und langfristigen Verkehrskonzepte an diesem zentralen Ort der Schweiz aufeinander abgestimmt werden.

Markus Knauss (Grüne) kramte diese Vorgeschichte des Projekts noch einmal hervor und stellte enttäuscht fest, dass die vorhandenen politischen Mittel des Gemeinderats für die parlamentarische Kontrolle solcher Langzeitprojekte nicht greifen. Deshalb werde man, wie schon bei den Langzeitprojekten Langstrassenunterführung und Umgestaltung der Thurgauerstrasse (siehe unten) mit Nachfolgemotionen arbeiten, um das Projekt weiterzuverfolgen.

Die entsprechende Motion von SP, Grünen und GLP wurde mit den Stimmen ebenjener Fraktionen überwiesen. Die AL hatte inzwischen zur Gegenseite gewechselt. Michael Schmid (AL) befand, die Dringlichkeit sei nicht mehr notwendig, da der Stadtrat die geforderte Verlegung in der Vergangenheit ignoriert habe und die Sanierung nun nicht mehr aufgeschoben werden könne. Die durch die neuerliche Motion ausgelöste Maximalfrist von vier Jahren werde abermals nicht reichen und es wäre wohl besser, die Amortisierung der anstehenden Brückensanierung abzuwarten, schliesslich sei diese aufwendig und energieintensiv. Stephan Iten (SVP) arguementierte ähnlich und meinte, es könne nun bis zu 30 Jahre dauern, bis die Tramstation auf die Zollbrücke verschoben werde.

Ein Grund für den Standort Zollbrücke ist auch die Barrierefreiheit, die Anna Graff (SP) zufolge durch das Behindertengleichstellungsgesetz an allen ÖV-Stationen der Schweiz umgesetzt werden müsse und an der engen Station Sihlquai nicht realisierbar sei. Ihre SP forderte zusammen mit den Grünen deshalb in einem Postulat den Weiterbetrieb des aktuellen Provisoriums der Haltestelle auf der Limmatstrasse, auch weil nach der Fertigstellung des Velotunnels Konfliktpotenzial zwischen Fussgänger:innen und Velofahrenden bestehe.

GLP und Mitte verhalfen dem Ansinnen zu einer Mehrheit, Stephan Iten prophezeite für dieses Provisorium bereits eine ähnliche Dauernutzung wie für das Globus-Proivisorium auf der anderen Seite der ewigen Baustelle HB.

Biogas bald in städtischer Hand?

Nicht ganz so fest in den Rädern der städtischen Abhängigkeiten und Untätigkeiten sollte das Biogas-Anliegen von SP, Grünen und AL steckenbleiben, das sie gestern per Motion zusammen mit der GLP an den Stadtrat überwiesen. Denn der Auftrag ist recht klar: Man möchte eine Rekommunalisierung der Biogas Zürich AG, die heute mehrheitlich der Stadt Zürich, aber anteilig auch der Energie 360° AG sowie der interkommunalen Anstalt Limeco aus dem Limmattal gehört.

Die Firma stelle ihr Biogas zum allergrössten Teil aus Klärgas aus dem Klärwerk Werdhölzli sowie aus dem städtischen Bioabfall her, meinte Barbara Wiesmann (SP). Wegen der geplanten Erweiterung des Klärwerks sei jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Rekommunalisierung gekommen. Es sei sinnvoll, als Kommune die Hoheit über die begrenzte Ressource Biogas zu haben.

Stadträtin und Parteikollegin Simone Brander stimmte zu, dass mit der seit diesem Jahr flächendeckend eingeführten Bioabfallsammlung die Ausgangslage eine andere sei. Man wolle deshalb «ergebnisoffen» mit den Beteiligten diskutieren. Eine Motion sei in diesem Zusammenhang nicht zweckmässig.

«Uns wird warm ums Herz beim Wort Rekommunalisierung.»

Tanja Maag (AL) zur Zukunft der Biogas Zürich AG

Benedikt Gerth (Die Mitte) stimmte Brander in diesem Punkt zu: Ergebnisoffenheit bedeute nicht automatisch Kommunalisierung, man solle die möglichen Szenarien zunächst prüfen und nicht von vornherein festlegen. Beat Oberholzer (GLP) meinte zwar, beim Wort Rekommunalisierung laufe es den Mitgiedern seiner Fraktion eiskalt den Rücken herunter, doch bei einem Produkt wie Biogas, bei dem es keinen freien Markt für die Rohstoffherkunft gebe, sei eine kommunale Hoheit sinnvoll. «Uns wird warm ums Herz beim Wort Rekommunalisierung», entgegnete Tanja Maag (AL). Gegen die Stimmen von FDP, SVP und Mitte wurde die Motion mit deutlicher Mehrheit überwiesen.

Dass die Stadt für eine qualifizierte Mehrheit für das Kommunalisierungsbestreben auf Stimmen der anderen Aktionär:innen angewiesen sein wird, wurde von den Mitgliedern der linken Parteien nicht als Problem angesehen. Schliesslich halte die Stadt Zürich auch eine Mehrheit am zweitgrössten Aktionär Energie 360° AG und habe somit dort genügend Einfluss.

Der Mehrwertausgleich bringt mehr Geld

Wir müssen leider nochmals zurück zur Komplexität. Gestern nahm der Gemeinderat nämlich eine Weisung des Stadtrats an, die mittels Verordnung ein neues Werkzeug zum städtebaulichen Baukasten hinzufügt.

Der Mehrwertausgleichsfonds soll zweckgebundene Mittel für Massnahmen der Raumplanung bereitstellen, also zum Beispiel Massnahmen, die die Qualität des Siedlungsraums, ökologische und klimatische Aspekte und die Bedürfnisse der Bevölkerung betreffen. Auch Lärmschutzmassnahmen und, unter bestimmten Voraussetzungen, den Erwerb von Liegenschaften zählte Mathias Egloff (SP) bei der Vorstellung der Weisung auf.

Doch woher kommt das Geld? Es handelt sich um eine Abgabe, die beim Verkauf von Liegenschaften zu entrichten ist, wenn diese rein durch planerische Massnahmen, also beispielsweise Umzonungen, an Wert gewonnen haben. Das Gesetz habe bereits eine längere Geschichte hinter sich, so Egloff: Es gehe zurück auf einen Bundesgerichtsentscheid, der die Ungerechtigkeit, ohne Eigenleistung einen Gewinn aus einem Grundstücksmehrwert ziehen zu können, beseitigen wolle. 2021 hat der Kanton Zürich deshalb ein eigenes Mehrwertausgleichsgesetz eingeführt, nun ziehe die Stadt mit einer eigenen Verordnung nach.

Einzelne Kommissionsmitglieder hatten den stadträtlichen Entwurf noch präzisieren wollen und insgesamt 13 Änderungsanträge eingebracht. Insbesondere die SVP sah eine zu starke rotgrüne Färbung des Verordnungstextes, zum Beispiel indem explizit die Förderung von Veloabstellanlagen genannt wird. Das grenze schon fast an rotgrüne Zweckentfremdung, beklagte sich Fraktionsmitglied Jean-Marc Jung: «Die Bedürfnisse der Wirtschaft sind kaum bis gar nicht berücksichtigt.» Die SVP-Anträge wurden wie die meisten anderen auch abgelehnt, was die SVP wiederum dazu bewog, als einzige Fraktion gegen die Verordnung in dieser Form zu stimmen.

Weitere Themen der Woche

  • Nach zweimaliger Fristverlängerung beantragte der Stadtrat dem Gemeinderat gestern die Abschreibung einer dringlichen Motion von Markus Knauss (Grüne) und Ann-Catherine Nabholz (GLP) aus dem Jahr 2019. Darin hatten die beiden eine kreditschaffende Weisung für eine Umgestaltung der Thurgauerstrasse im Sinne einer Reduzierung der Fahrspuren und der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit sowie einer sicheren und ebenerdigen Querung für Fussgänger:innen verlangt. Stadträtin Brander verwies darauf, dass die Strasse nach derzeitigen Planungen schon in weiten Teilen einspurig geführt werde und vor Schulhäusern und Kindergärten Tempo 30 geplant sei. An bestimmten Punkten müsse allerdings die Leistungsfähigkeit für den motorisierten Individualverkehr erhalten bleiben.
  • Weisst du, was unter billigem Verfahren, Handeln und Entscheiden zu verstehen ist? Ich auch nicht. Weiterhelfen kann der Tätigkeitsbericht der städtischen Ombuddsstelle, der sich in diesem Jahr ausgiebig mit dem Begriff der Billigkeit befasst und den der Gemeinderat gestern einstimmig abnahm. «Eine der interessantesten Lektüren, die man als Parlamentarier:in zu lesen bekommt», befand Mischa Schiwow (AL), denn er zeige anhand von Fallbeispielen auf, dass die Einhaltung von Vorschriften und Regeln an sich nicht immer ausreichend sei.
  • Nachdem die AL einen zunächst eingereichten Textänderungsantrag zurückgezogen hatte, überwies der Gemeinderat ohne Gegenstimme ein Postulat von Samuel Balsiger und Walter Anken (beide SVP), das ein vermehrtes Augenmerk auf die Droge Crack in Sozialarbeit, Prävention und Polizeiarbeit fordert. In dem Postulatstext aus dem März dieses Jahres wird vor einer Ausbreitung von Crack aus Frankreich und der Westschweiz kommend gewarnt, inzwischen ist der offene Konsum in der Bäckeranlage angekommen, wie wir bei Tsüri.ch bereits berichteten.
  • Letzten Donnerstag veröffentlichte der Stadtrat seine Antwort auf die schriftliche Anfrage von Luca Maggi (Grüne) und Moritz Bögli (AL) zum Polizeieinsatz am 1. Mai (wir berichteten). Der Fall des jungen Mannes, der durch den Einsatz von Gummischrot ein Auge verlor, wird mit dem Verweis auf ein Strafverfahren wegen Körperverletzung nicht kommentiert. Dafür erklärt der Stadtrat, dass am 1. Mai das Wasser eines Wasserwerfers teilweise mit Tränengas angereichert wurde, um einen sogenannten «Reizstoffteppich» zu legen. Eine zusätzliche Ombudsstelle für Personen, die im Rahmen von polizeilichen Einsätzen oder Kontrollen Gewalt oder missbräuchliches Verhalten seitens der Polizei erfahren, lehnt der Stadtrat ab. Die bestehende Ombudsstelle decke diesen Bereich bereits ab.
  • Julia Hofstetter verlas gestern eine Fraktionserklärung ihrer Grünen, die sich gegen den Plan des Stadtrats stellt, die Hotellerie- und Betreuungstaxen in den städtischen Gesundheitszentren fürs Alter zu erhöhen. «Wir sollten das Alter feiern und wertschätzen, statt es einseitig als Kostenfaktor zu definieren», so die Gemeinderätin.
  • Für die zurückgetretene Cathrine Pauli (FDP) trat gestern ihr Parteikollege Roger Meier in den Rat ein. Viel ist über den Rechtsanwalt aus dem Kreis 7 noch nicht bekannt, sein Profil auf der Webseite des Gemeinderats weist jedoch eine beachtliche Zahl an Verwaltungsrats-, Gesellschafter- und Geschäftsführungsfunktionen auf.

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