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Gemeinderats-Briefing #50: Ein Stockwerk mehr gegen die Wohnungsnot?

Das Gemeinderats-Briefing ist das wöchentliche Update aus dem politischen Herzen Zürichs. Was diese Woche wichtig war: Keine Erhöhung der zulässigen Gebäudehöhe, Ja für klimagerechte Genossenschaft, erleichterter Zugang zur Sozialhilfe.

Willkommen zurück aus den Ferien! Ich hoffe, du hast dich gut erholt, ob in Zürich oder an einem anderen Ort auf der Welt. Ich habe in guter Tradition in der Ferienzeit gearbeitet, war dafür aber das eine oder andere Wochenende unterwegs. Zum Beispiel in Wien. Dort hat mich ein Kollege auf die Dachterrasse des Museumsquartiers mitgenommen, von der man einen schönen Blick über die ganze Stadt hat. Was mir sofort auffiel, waren die modernen Penthouse-Aufbauten, die fast überall auf die Altbauten gepflanzt wurden und die man von unten gar nicht sieht. «Dort wohnen die Reichen», bemerkte mein Kollege lapidar.

Illustration: Zana Selimi

Ich muss zugeben, dass mir der wilde Mix aus Glasfassaden und Dachterrassen oben und Stuckfassaden unten rein optisch ziemlich gut gefiel, und allein deshalb fand ich die gestern im Gemeinderat diskutierte Motion der FDP, die Bau- und Zonenordnung der Stadt so zu ändern, dass in allen Wohnzonen ein zusätzliches Stockwerk möglich wird, recht sympathisch.

Es brauche nicht nur subventionierte Wohnungen, sondern generell mehr Wohnraum, erklärte Hans Dellenbach bei der Vorstellung der Motion. Mit der Möglichkeit zur Aufstockung könne dieser Wohnraum entstehen, ohne Bausubstanz zu vernichten und neu zu bauen. In Genf sei das schon lange möglich und ein voller Erfolg. Dellenbach schob noch eine Einschränkung hinterher, die meine Vorstellung vom eklektizistischen Stilmix zwischen Alt und Neu sogleich zerplatzen liess: «Uns ist klar, dass das nicht überall Sinn macht. In der Altstadt, entlang der Flüsse, bei geschützten Ortsbildern und auch anderswo muss es Ausnahmen geben.»

Eine Beschränkung, die Stadrat André Odermatt (SP) zur Replik veranlasste: «Wenn verdichtet wird, soll das nicht im eigenen Quartier passieren, da höre ich den Widerstand aus der FDP sehr deutlich, wenn es ums Konkrete geht.»

Dellenbach und seine Fraktionskollegin Martina Zürcher argumentierten fast schon defensiv: Die Gegenseite solle sich doch bitte überlegen, mittels Textänderung zu einem für sie tragfähigen Motionstext zu kommen, das habe man schon im Vorfeld so kommuniziert. «Wir kennen auch Genossenschaften, die gerne aufstocken und so mehr Wohnraum schaffen wollen», versuchte es  Zürcher.

Doch der einzige, der die Einladung zur Textänderung annahm, war Reto Brüesch (SVP), der eine unterschiedliche Höhe in verschiedenen Wohnzonen sowie eine Bindung der Erhöhung an zusätzlichen Wohnraum im Bestand erfolgreich im Text unterbrachte. Sowohl Brigitte Fürer (Grüne) als auch Mischa Schiwow (AL) erklärten, sie hätten in ihren jeweiligen Fraktionen Textänderungen zum Beispiel zum Bau von preisgünstigem Wohnraum in Erwägung gezogen, doch eine Erhöhung der zulässigen Gebäudehöhe über die ganze Stadt hinweg sei schlicht zu pauschal und zudem durch die damit einhergehende höhere Ausnützungsziffer «eine präzise Einladung, abzubrechen und neu zu bauen» (Schiwow). Damit folgten sie in der Argumentation Stadtrat Odermatt, der erklärte, man brauche Qualität statt Quantität und müsse sich im Rahmen des geltenden Richtplans den Einzelfall anschauen.

Sven Sobernheim (GLP) fand, seine Fraktion sehe keinen Widerspruch zwischen dem Richtplan und der Motion und stimme zu. Der Richtplan sei in sich schon teilweise widersprüchlich, indem er an einzelnen Orten eine Verdichtung ohne eine entsprechende Erweiterung des ÖV-Angebots vorsehe. Auch Claudia Rabelbauer (EVP) sagte, sie teile die Angst vor einem grossflächigen Abriss nicht. Einzig aus der SP kam kein Wort zum Thema, was den Verdacht nährte, dass man der bürgerlichen Seite keinen Erfolg beim Wohnbauthema gönnen will. «Ich höre ein ohrenbetäubendes Schweigen von der selbsternannten Wohnpartei», kommentierte Martina Zürcher.

Die Abstimmung wurde zu einem kleinen Krimi: Zweimal kam es zu einem Gleichstand zwischen den bürgerlich-mittigen Befürworter:innen und den rotgrünen Gegner:innen des Vorstosses, bei denen aber jeweils einzelne Abstimmungsgeräte nicht funktionierten. Bei der dritten Abstimmung unterlag die rechte Ratsseite denkbar knapp mit 60 zu 61 Stimmen. Zürich wird also weiterhin kein Wien werden. Übrigens nicht nur beim Aufstocken der Wohngebäude, sondern auch beim Anteil an subventionierten Wohnungen, der in der österreichischen Hauptstadt bei 60 Prozent liegt.

Ein Reallabor innerhalb der planetaren Grenzen

«Ich freue mich sehr, dass wir heute über diese Motion diskutieren», eröffnete Dominik Waser die Vorstellung des gemeinsamen Vorstosses von Grünen, SP und GLP, der die Abgabe eines Grundstücks oder einer Liegenschaft im Baurecht an eine klimagerechte Genossenschaft verlangt. Die Forderung, die eine Art Reallabor für ein klimaneutrales Leben über die reinen Wohn-Aspekte hinaus und insbesondere mit Einbezug der indirekten Emissionen beinhaltet, war Waser schon länger ein Anliegen. «Wir müssen innerhalb der planetaren Grenzen leben», so Waser. Es reiche nicht, nach Minergie-Standard zu bauen und eine Solaranlage auf dem Dach zu installieren.

Ganz so freudig sah Waser irgendwann nicht mehr aus, als Hans Dellenbach (FDP) und Martin Götzl (SVP) von einem grössenwahnsinnigen Projekt auf Kosten der Steuerzahler:innen sprachen. Auch Stadtrat Daniel Leupi (Grüne) fand, als Postulat nehme er den Vorstoss gerne entgegen, als Motion dagegen verlange er Unmögliches. Schliesslich sei in der Begründung von «noch zu gründenden Genossenschaften» die Rede, was für ihn keinen Sinn ergebe. Zudem sei die bei Motionen vorgegebene Zeit von zwei Jahren bis zur Umsetzung völlig unrealistisch.

Auch Christian Traber (Die Mitte) sprach von einem «spannenden Projekt», das seine Fraktion aber nur als Postulat unterstützen werde. Die AL zeigte sich gespalten: Er selbst glaube, dass solch ein Referenzprojekt nicht nur der Öffentlichkeit, sondern auch dem Stadtrat zeigen könne, was möglich sei, und dass dies auch mit hoher Lebensqualität einhergehen könne, so Michael Schmid. Ein Teil seiner Fraktion habe aber Bedenken, ob das Experiment erfolgreich sein werde oder dazu geeignet, um in der Breite zu überzeugen.

Dieser Teil enthielt sich der Stimme, was jedoch die Mehrheit der Motion von 68 zu 37 Stimmen nicht gefährdete.

Besserer Hilfsmassnahmen für arme Menschen

Ein überwiegend positives Urteil fällten die Ratsmitglieder zu einem Bericht des Stadtrats über städtische Massnahmen für einen erleichterten Zugang zur Sozialhilfe und zu anspruchsberechtigten Personengruppen, die keine Sozialhilfe beziehen. Darin möchte der Stadtrat aufzeigen, wie er armutsgefährdete und -betroffene Menschen in verschiedensten Bereichen unterstützt, unter anderem durch Förder-, Beratungs- und Kinderbetreuungsangebote. Der Nicht-Bezug, beispielsweise durch Ausländer:innen, die fürchteten, durch Sozialhilfe ihr Aufenthaltsrecht zu verlieren, sei ein grosses Problem, erklärte Hannah Locher (SP). Der Stadtrat gehe von einer hohen Dunkelziffer und einer Nichtbezugsquote von 26 bis 37 Prozent aus.

«Armut gibt es nicht erst seit der Pandemie, aber sie wurde dadurch sichtbarer.»

Hannah Locher, SP, zum Bericht über Sozialhilfebezug

Ihr Fraktionskollege Marcel Tobler erläuterte, dass National- und Ständerat gerade einen SP-Vorstoss angenommen hätten, der das diesbezügliche Bundesgesetz anpassen werde. Samuel Balsiger (SVP) wetterte wie gewohnt gegen Armutseinwanderung und sprach von einer Pervertierung des Sozialhilfesystems durch zusätzliche Hilfsmassnahmen. Patrik Brunner lobte die Massnahmen in weiten Teilen, erkärte aber, es gebe verschiedene Punkte, die für seine FDP rote Linien darstellten. Dazu gehöre die städtische Basishilfe, die für Menschen vorgesehen ist, die aus Angst vor einer Ausschaffung keine Sozialhilfe beziehen, die Energiekostenzulage, mit der die Stadt Öl- und Gasheizungen subventioniere sowie der vorgesehene Mindestlohn.

Bis auf SVP und FDP nahmen alle Fraktionen den Bericht positiv zur Kenntnis. Zurückgegangen war er auf drei Vorstösse von Vera Ziswiler, Alan David Sangines (beide SP) und Katharina Prelicz-Huber (Grüne), die Verbesserungen für den armutsbetroffenen Teil der Bevölkerung gefordert hatten. Sie seien alle während der Pandemiezeit eingereicht worden, so Hannah Locher: «Armut gibt es nicht erst seitdem, aber sie wurde dadruch sichtbarer.» Es sei darum wichtig, dass die entsprechenden Massnahmen von Zeit zu Zeit angepasst werden.

Weitere Themen der Woche

  1. Nach der Neuvergabe des Kiosk der Badi Utoquai und des Primitivo am Letten im letzten Jahr hatte es eine Diskussion um die Vergabe städtischer Gastrobetriebe gegeben. Der Gemeinderat hat gestern zwei Vorstösse diskutiert, die in diesem Zusammenhang eingereicht worden sind: Die GLP wollte den Stadtrat per Motion beauftragen, eine Verordnung für die Vergabe auszuarbeiten, was Stadtrat Leupi sowie die FDP angesichts der Vielfalt der Betriebe für ein zu kompliziertes Unterfangen hielten. Die AL wollte per Postulat ein zusätzliches Bewertungskriterium für die Vergabe einführen, um eine Vielfalt an unabhängigen Anbieter:innen zu gewährleisten. Ein Antrag von Flurin Capaul (FDP), «unabhängig» durch «unterschiedlich» zu ersetzen, wurde abgelehnt, das Postulat gegen die Stimmen von FDP, Mitte und Teile der Grünen überwiesen. Die Motion der GLP fand ebenfalls eine Mehrheit gegen die Stimmen von FDP, Mitte und der gesamten Grünen-Fraktion.
  2. Mischa Schiwow (AL) und Marco Denoth (SP) forderten per Postulat ein neues Auswahlverfahren für das städtische Baukollegium. In dem Gremium, das den Stadtrat und die Bausektion in Fragen des Städtebaus berät und laut den Postulanten «einen entscheidenden Einfluss auf die Stadtentwicklung und das Baugeschehen in Zürich» hat, sitzen neben den Stadträt:innen André Odermatt und Simone Brander (beide SP) sowie der Direktorin des Amts für Städtebau fünf Architekt:innen als stimmberechtigte Mitglieder. Schiwow bemängelte den nicht-öffentlichen Charakter des Gremiums als intransparent und forderte einen Einbezug von Fachpersonen, die ökologische und soziale Aspekte des Städtebaus mit einbringen. Alle Mitglieder des Rats stellten sich hinter das Postulat, auch Stadtrat Odermatt zeigt sich offen gegenüber der Forderung.
  3. 2019 verlangten die damaligen Gemeinderätinnen Natalie Eberle (AL) und Katharina Prelicz-Huber (Grüne) per Postulat vom Stadtrat einen Bericht über die Umsetzung der UNO-Kinderrechtskonvention in Zürich in städtebaulicher, kultureller und schulpolitischer Hinsicht. In diesem März wurde der Bericht vorgestellt, zusammen mit der stadträtlichen Ankündigung, eine eigene Koordinationsstelle und einen vierjährigen Massnahmenplan zum Thema auszuarbeiten. Moritz Bögli (AL) und Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne) kritisierten vor allem, dass die Kinderrechte von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, deren Unterbringungsbedingungen immer wieder zu Diskussionen führen, kaum Erwähnung fänden. Schmaltz fand aber sonst, wie die meisten Ratsmitglieder, vor allem lobende Worte für den Bericht, der vom Rat einstimmig positiv angenommen wurde.
  4. David Ondraschek (Die Mitte) und Liv Mahrer (SP) forderten in einem Postulat, dass die Züri-Modular-Pavillons, die aktuell bei Schulgebäuden mit Raumknappheit eingesetzt werden, nach ihrem Einsatz zu anderen Nutzungszwecken weiterverwendet werden. Dies könnten zum Beispiel Werkstätten, Quartiertreffs oder Zwischennutzungen auf Brachflächen sein, so Ondraschek. Balz Bürgisser (Grüne) forderte eine Textänderung, um sicherzustellen, dass nach dem geplanten Stopp der Anschaffung neuer Pavillons 2027 auch tatsächlich keine Neuanschaffungen mehr stattfinden. Ondraschek wollte dieses Zugeständnis nicht machen, woraufhin eine Minderheit von Grünen und AL das Postulat ablehnte.
     
  5. Michele Romagnolo (SVP) nahm in einer persönlichen Erklärung Bezug auf die Drogenkonsument:innen, die in letzter Zeit auf der Bäckeranlage aufgetaucht sind. Es entwickle sich eine offene Drogenszene, so Romagnolo: «Wir müssen dafür sorgen, dass das nicht nochmal zum Albtraum wird.» Er forderte den Stadtrat auf, sich dem Problem anzunehmen und fügte an: «Die SVP verurteilt die neue Drogenszene.» Über das Auftauchen der Konsument:innen und den Zusammenhang mit der Schliessung der städtischen Kontakt- und Anlaufstelle haben wir bei Tsüri.ch berichtet.
     
  6. Als Nachfolgerin des zurückgetretenen Walter Angst begrüsste Ratspräsidentin Sofia Karakostas in der gestrigen Sitzung Sophie Blaser als neues Mitglied der AL-Fraktion im Rat.

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