Blickschutz statt Baugespann: Thujahecken als Mittel gegen Verdichtung

Während in einigen Zürcher Stadtteilen mit Ersatzneubauten verdichtet und verdrängt wird, bleibt der Wohnflächenkonsum am Zürichberg seit Jahren hoch. Sein Eigenheim verstecke man gerne hinter gut gepflegten Thujapflanzen, vermuten unsere Architektur-Kolumnist:innen – und fordern deshalb, dass Besitzstrukturen stärker hinterfragt werden.

thuja zürichberg
Eigentümer:innen halten sich unliebsame Gäst:innen mit Pflanzen vom Leib. (Bild: ZAS*)

Der kommunale Richtplan ist eines der wichtigsten planerischen Instrumente der Stadt Zürich. Eines seiner obersten Ziele ist es, zu erkennen, wo Verdichtung möglich ist – in Zürich bedeutet das in den meisten Fällen: Ersatzneubau. Welche Stadtteile sind am stärksten davon betroffen und was hat das alles mit dem Gesundheitszustand der Thujapflanze zu tun? 

Es ist Sonntagnachmittag und der Frühling versteckt sich noch hinter Windböen und wechselhaftem Wetter, wir befinden uns am Zürichberg: Die Trams in Richtung Dolder sausen in regelmäßigen Abständen und gut gefüllt den Berg hoch. Wir wenden uns von der Hauptstrasse ab und begeben uns auf einen Spaziergang durch die wenig befahrenen 30er-Zonen und Sackgassen in die weite Welt der Vorgärten. Lässt man erstmal den Strassenlärm hinter sich, erkennt man Einfamilienhäuser, hier und da auch mal einen Wohnblock.

Hoch oben am Fenster fällt der Vorhang zu. Wir werden beobachtet. Uns selbst bleibt die Sicht versperrt: Garageneinfahrten, Gartenzäune und Bambusbüsche säumen die Strassen. Wo alte Holzzäune nicht ausreichen, wurde mit baulichen Massnahmen nachgeholfen, um den Blick in den privaten Garten zu verwehren. Eine Pflanze sticht dabei ins Auge wie keine andere. Die Thujahecke – wir alle kennen sie, als Sinnbild des Schweizer Vorgartens, des Besitzes, des Eigenheims.

Eine Pflanze, die umsorgt werden will

Die Thujapflanze, auch Thuja Occidentalis genannt, etablierte sich in den 70er-Jahren als äusserst pflegeleichtes, immergrünes und somit ganzjährig blickdichtes Gewächs als perfekter Begleiter des Vorgartens. Ursprünglich stammt die Pflanze aus den sumpfigen Gebieten Nordamerikas und hat heute deshalb hierzulande mit den zunehmend heissen und trockenen klimatischen Bedingungen zu kämpfen. Die Wurzeln der Thuja wachsen oberflächlich in den Boden, eine regelmässige künstliche Bewässerung sowie häufiges Trimmen sind inzwischen zwingend notwendig geworden.

Der Lebensbaum, wie er auch genannt wird, bietet heimischen Tieren zwar keinerlei Lebensraum, schützt aber die menschlichen Bewohner:innen dahinter umso mehr. So schützt er vor den unerwünschten Blicken der Passant:innen, erspart zeitgleich aber auch den Anblick der Aussenwelt.

thuja zürichberg
Hinter den hohen Hecken verbirgt sich vermutlich ungenutzter Wohnraum. (Bild: ZAS*)

Woher stammt das Bedürfnis, sich einzuhausen, abzuschirmen und zu verstecken? Was würden wir zu sehen bekommen durch eine unzureichend bewässerte und somit löchrig gewordene Hecke? Etwa ungenutzte Pools, leere Klavierzimmer und überschüssige Quadratmeter?

Laut einer Statistik der Stadt Zürich aus dem Jahr 2023 ist der Wohnflächenkonsum der Eigenheimbesitzenden in Fluntern mit 77,1 Quadratmeter pro Person mit Abstand der höchste der Stadt. Der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch in Zürich über alle verschiedenen Wohnformen hinweg liegt bei 39,5 Quadratmeter pro Person. Würden wir denn mit dem ungehinderten Blick auf diese Flächen auf die Idee kommen, etwas von all dem Platz, dem Land, dem Boden abhaben zu wollen – oder sogar mit Forderungen nach mehr Verdichtung am Zürichberg? 

Wir kommen nicht einher, der Idylle und dem Charme der teils abstrusen, aber vielfältigen und personalisierten Gebilden auch etwas abzugewinnen. Nachverdichtung scheint hier irgendwie schwierig – eine Art Mindestbelegung für Wohnraum wäre wohl sinnvoller. 

Die Thuja kann nicht alle bewahren

Auch der Richtplan sieht das Potenzial zur Verdichtung woanders, die 2021 ausgewiesenen Gebiete zur baulichen Verdichtung liegen, wie an den vielen Baugespannen unschwer zu erkennen ist, vor allem im Westen und Norden der Stadt. Klar ist: Die Eigentümerstruktur dort ist eine andere als am Zürichberg. Denn die Stadt kann Hauseigentümer:innen keine minimale Ausnützungsziffer vorschreiben, und erst recht keine Mindestbelegung fordern.

Der kommunale Richtplan spricht Altstetten grosses Verdichtungs-Potenzial zu. (Bild: Isabel Brun)

Wir gehen nach Altstetten, einem Stadtteil, das eines der grösseren rosa Flächen im Richtplan aufweist. An der Baslerstrasse gegenüber des Letziparks sehen wir neben dem Trottoir einen schmalen Grünstreifen mit einzelnen tieferen, eher selten geschnittenen Thujahecken. Sie wird bald abgerissen mitsamt den 317 dahinterstehenden Wohnungen, schafft es also nicht, diese vor dem Abriss und der damit einhergehenden Verdrängung zu bewahren. Der Blick wird gesäumt von Baugespannen und Kränen. Altstetten, ein Quartier mit einem aktuellen durchschnittlichen Wohnflächenverbrauch von 37 Quadratmeter pro Person wird «ersatz-neu-gebaut».

Über die Zukunft einer Liegenschaft entscheiden schlussendlich die Eigentümer:innen, nicht die Mietenden. In Altstetten sind knapp jedes 20te Mal die Bewohnenden zugleich die Besitzenden, im Kreis 4 nicht einmal jedes 50te Mal. Auch die Thujahecken sind dort nur luminal vertreten: Unweit des vor kurzem verkauften Meyer’s Blocks gegenüber vom Lochergut sticht ein Exemplar ins Auge. In einem Quartier, wo Hecken meist nur Kniehöhe erreichen, kommt dieser eine grosse Wichtigkeit zu. Denn die Hecke gehört zu einem Haus im Besitz der Stadt. Und weil diese das Gebäude nicht verkaufen will, geht die Entwicklung des Areals mit seinen fünf Wohnhäusern ebenfalls nicht voran. Jener Ersatzneubau, den die neue Eigentümerschaft des Meyer-Hauses plant, ist so zum aktuellen Zeitpunkt nicht realisierbar.

Kreis 4 Haus
Im Kreis 4 kann auch die Thuja die Bewohnerschaft nicht vor der Verdrängung schützen. (Bild: ZAS*)

Dabei stellt sich die Frage, wie das Recht zu schützen, was Wert für Stadtbewohner:innen hat, auch ohne Eigentum gesichert werden? Und wie können wir dabei dennoch mehr Dichte und somit mehr Wohnraum schaffen? Aktuell sind die Möglichkeiten begrenzt: Kaufen, mieten oder auf den Einzug in eine Genossenschaft hoffen.

Auf unserem Spaziergang durch die drei Quartiere erkennen wir mit dem Blick durch die Thujahecke, wie stark Eigentumsstrukturen mit der Planungsstrategie der Verdichtung und damit einhergehenden Verdrängung zusammenhängen. Vielleicht brauchen wir mehr Formen, mehr Systeme die sich irgendwo zwischen Eigentum, Miete, Anteilseigentum, Zimmereigentum, Nutzrechten, Bodenrechten, Baurechten, Bleibebesitz, Leasing, Sharing, Wohngenossenschaften und noch viel mehr befinden. Wir benötigen mehr Experimente der Besitzstrukturen. Städte, die mehr Land kaufen und nicht wieder aufgeben. 

Es stellt sich deshalb die Frage, ob wir auch künftig mehr Thujahecken pflanzen wollen oder wir unsere Ansprüche an den Wohnflächenverbrauch anpassen. Anstatt an den Orten mit dem kleinsten Wohnflächenverbrauch zu verdichten, ist es Zeit über andere Modelle nachzudenken.

ZAS*

ZAS* ist ein Zusammenschluss junger Architekt:innen und Stadtbewohner:innen. Unter ihnen kursieren heute verschiedene Versionen darüber, wo, wann und warum dieser Verein gegründet wurde. Dem Zusammenschluss voraus ging eine geteilte Erregung über die kurze Lebensdauer der Gebäude in Zürich. Durch Erzählungen und Aktionen denkt ZAS* die bestehende Stadt weiter und bietet andere Vorstellungen an als jene, die durch normalisierte Prozesse zustande gekommen sind. Um nicht nur Opposition gegenüber den offiziellen Vorschlägen der Stadtplanung zu markieren, werden transformative Gegenvorschläge erarbeitet. Dabei werden imaginative Räume eröffnet und in bestehenden Überlagerungen mögliche Zukünfte lokalisiert. Die Kolumne navigiert mit Ballast auf ein anderes Zürich zu und entspringt einem gemeinsamen Schreibprozess. Zur Kontaktaufnahme schreiben an: [email protected]

Ohne deine Unterstützung geht es nicht

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 1500 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2000 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Jetzt unterstützen!

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare