«Wir sind atmende, blutende, lachende, mutige Menschen mit Träumen»

Unsere Kolumnistin Jane Mumford hat das Demonstrieren erst spät für sich entdeckt. Mittlerweile schätzt sie es, skandierend durch die Strassen zu marschieren – vor allem an Tagen wie dem 14. Juni.

Feministischer Streik Bern 2023
Am 14. Juni wird schweizweit zum feministischen Streik aufgerufen. (Bild: Danielle Liniger)

Happy Pride Month! Der Juni ist ein Monat, in dem wir unsere Einzigartigkeit feiern, uns gegenseitig bestärken und vor allem: bei bestem Wetter draussen aperölölöen können.

Natürlich nicht gemütlich in der Sonne sitzend, sondern: Demonstrierend! Marschierend. Skandierend. Mit dem Apérol Spritz in der Petflasche und recyclierbaren Shotgläsern im Gepäck…

Und Wasser! Ganz viel Wasser. Sorry, das vergesse ich immer. Und gerade bei den vorausgesagten 32 Grad Hitze am Samstag, dem 14. Juni ist Wasser dieses Mal vielleicht sogar wichtiger als Apérol Spritz. Vielleicht!

Aber zurück zum Thema: Demonstrieren. Diesen Akt habe ich sehr spät in meinem Leben entdeckt. Ich nutze meine Herkunft unger als Rechtfertigung, aber: die Kombination aus Britisch-Schweizerischem Haushalt hat mich genetisch nicht wirklich dafür gewappnet, laut und fordernd auf der Strasse meinen Unmut zu zeigen.

Vielmehr hat er mich dafür vorbereitet, Telefonate mit dem Steueramt zu führen und bei Familienbesuchen ganz sicher alles aufzuessen, auch wenn es grob versalzen war. 

Und ich bin auch heute noch kein Demonstrations-Profi! Mir ist es jetzt noch latent peinlich, wenn ich in der Mitte des Umzugs stehe und plötzlich die gemeinsamen Rufe verstummen und ich die Allerletze bin, die noch eine Runde «A-Anti-…!!» anstimmt, um dann die letzten paar Silben leise von mir weg zu husten. 

«Erst gemeinsam auf der Strasse mit tausenden anderen Leidensgenoss:innen wird so richtig klar: Wir sind nicht alleine.»

Jane Mumford

Aber es freut mich immer zu sehen, wie viel positive Energie um mich herum ist an Tagen wie dem feministischen Streiktag. Und ich staune nicht selten über den ganz anderen Vibe, der in meiner Stadt herrscht, wenn alle singend und klatschend durch die Strassen gehen und ihre Gefühle so offen zeigen!

Früher dachte ich: Das erste und letzte Mal wo ein:e Schweizer:in so richtig grosse Gefühle zeigt, ist bei der Geburt. Und ich meine nicht «beim Gebären», nein, vermutlich sind Schweizer Mütter während der Geburt extrem leise und höflich und wollen auf gar keinen Fall Umstände machen für ein Glas Wasser.

Ich spreche von der eigenen Geburt! Ach, damals, da konnte man noch ganz ungehemmt seinen Unmut kundtun. Auf ganz natürliche Weise! Einfach Fäustchen in die Luft recken und so laut wie möglich «AAAAAAH» schreien. Gegen das Patriarchat, gegen die eigenen Eltern, gegen das monatelange verharren im zu kleinen Wohnraum, egal was: raus damit!

Doch dann gibt’s einen kleinen Klaps auf den Hintern und uns wird fortan gesagt: «Du gäll, so machemers bi eus im Fall nöd.» Und schon wandert das Fäustchen in den Sack und bleibt dort achtundvierzig Jahre lang bis zum ersten Burnout nach der zweiten Scheidung. Ab dann heisst’s: «Gring abe und düre.»

Unser quasi-nationales-Motto inspiriert nicht wirklich zum Demonstrieren. Eher dazu, sämtliche strukturellen Ungereimtheiten zu schlucken und sich glücklich zu schätzen, wenn man den Winter überlebt hat. «Gring abe und düre», lässt nicht ahnen, dass das, was uns beschäftigt, durch den Austausch mit Anderen bewältigbar sein kann, und dass wir wahrscheinlich mehr Probleme gemeinsam haben, als uns lieb ist. 

Erst gemeinsam auf der Strasse mit tausenden anderen Leidensgenoss:innen wird so richtig klar: Wir sind nicht alleine. Und wir sind auch keine Zahl und keine Statistik. Wir sind atmende, blutende, lachende, mutige Menschen mit Träumen und Ideen. Und verdammt viel Apérol Spritz im Gepäck. 

Und falls ihr auch wie diese schreibende Halb-Schweizerin, Halb-Engländerinnen manchmal zu scheu seid, um gleich die krässesten Forderungen herauszuposaunen, habe ich eine für euch im Gepäck, die ziemlich sicher allgemeingültig ist:

«WIR SIND ALLE GLEICH IM GRUND: ZWEI LITER WASSER PRO TAG SIND GESUND!»

Vor allem bei 32 Grad Lufttemperatur. Stay hydrated! 

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