Der Traum vom eigenen Lohn – wie Geflüchtete Arbeit finden

Als geflüchtete Person im Schweizer Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, ist schwierig. Was es bedeutet, endlich einen eigenen Lohn zu verdienen, weiss Rabia.

Das Nähen hat Rabia viele Türen geöffnet. (Bild: Isabel Brun)

Rabia hat es geschafft. Die Handgriffe sitzen, die Nadel rattert durch den Stoff. Der rote Faden, sie lässt ihn nicht aus den Augen.

Er zieht sich durch ihr Leben – wenn auch nicht geradlinig.

Neun Jahre hat es gedauert, viele Mühen gekostet, doch heute verdient die 39-Jährige ihren eigenen Lohn. Zwei Tage die Woche arbeitet sie in einem Stoffladen in Hausen am Albis. Mit ihrer Geschichte will Rabia Mut machen: «Was ich kann, können andere auch, sofern sie von ihrer Familie unterstützt werden», sagt sie.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn wer als geflüchtete Person in der Schweiz arbeiten will, hat einige Hürden zu überwinden. Sprachbarrieren, rechtliche Bestimmungen und beschränkte finanzielle Mittel erschweren den Einstieg in den Berufsalltag. Dass dadurch viel Potenzial verloren geht und den Fachkräftemangel zusätzlich befeuert, sehen mittlerweile auch Expert:innen aus der Wirtschaft und Politik ein – und versuchen, Gegensteuer zu leisten.

Bis zu 75 Prozent finden keine Arbeit

Einer davon ist der Migrationsforscher Dominik Hangartner von der ETH. Ihm zufolge hat es politische Gründe, weshalb man es Geflüchteten so schwer macht: «Einerseits möchte man den inländischen Arbeitsmarkt schützen. Andererseits möchte man die Schweiz als Asylland möglichst unattraktiv machen», erklärte er vergangenen Mai gegenüber dem Tagesanzeiger. Dabei stelle sich jedoch die Frage, ob die Schweiz tatsächlich unattraktiv werde, «wenn wir es den Leuten, die hier bleiben dürfen, schwieriger machen, einen Job zu finden».

Laut Staatssekretariat für Migration (SEM) arbeiteten 2022 nur rund ein Drittel der Geflüchteten, die wie Rabia 2015 eingewandert waren. Auch Menschen, die aufgrund des Krieges in der Ukraine in die Schweiz gekommen sind, tun sich schwer: Lediglich 25 Prozent der insgesamt 66’000 Personen hätten bis heute eine Anstellung gefunden, meldete der Bundesrat kürzlich. Dabei sollte der Schutzstatus S eigentlich für einen vereinfachten Zugang sorgen, weil auf ein aufwändiges Asylverfahren verzichtet wird.

Um diese Quote zu verdoppeln, setzt der Bund deshalb auch auf Hangartner und sein Team vom Immigration Policy Lab. Gemeinsam mit der Universität Lausanne testen sie gerade die Plattform «Path2Work».

Sie soll die Stellensuche für Menschen mit Flüchtlingsstatus S, F oder B erleichtern, indem dank eines Tests Berufe angezeigt werden, die auf das Fähigkeitsprofil der Arbeitnehmenden zutreffen.

«Mein Mann und ich wollten, dass es unsere Töchter einmal besser haben, als wir.»

Rabia

Das würde den Blick für weitere Berufe öffnen, so Hangartner und nennt ein Beispiel: «Jemand, der zum Beispiel Zahnprothesen zusammengeschraubt hat, kann wahrscheinlich auch schnell lernen, eine Rolex zusammenbauen.» Das sei sinnvoll, wenn der Einstieg in den angestammten Beruf nicht realistisch sei. «Was ja leider bei Geflüchteten oft der Fall ist.» 

«Nirgends willkommen»

Rabia besuchte die Schule nur bis in die 3. Klasse. Mit 14 wurde sie verheiratet und gebar wenig später ihr erstes Kind. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihre Fluchtgeschichte schon lange begonnen. Als in Afghanistan der Bürgerkrieg ausbrach, war sie vier Jahre alt. Ihre Familie flüchtete daraufhin in den Iran, wo sie sich ein neues Leben aufbauten. Mit 19 wurde Rabia zum zweiten Mal Mutter und half im Nähatelier ihres Mannes aus. 

Doch auch im Iran war das Ankommen schwierig. Sie seien unterdrückt und diskriminiert worden, sagt Rabia: «Menschen aus Afghanistan sind nirgends willkommen.» Deshalb entschied sich die Familie schliesslich, weiter in die Türkei zu reisen.

Alles auf Anfang.

Rabias Augen sind wach, ihre Stimme bestimmt. Gebrochen ist diese Frau nicht, obwohl sie es noch nie leicht hatte. Die Afghanin erzählt davon, wie ihre ältere Tochter Bestnoten erzielt hatte, sich die Schule jedoch weigerte, sie ins Gymnasium zu schicken. «Mein Mann und ich wollten, dass es unsere Töchter einmal besser haben, als wir», sagt sie. Mit vier Koffern machten sie sich erneut auf die Flucht in ein neues Leben. In der Schweiz sollte alles besser werden.

Im Atelier von Social Fabric in Zürich fertigte Rabia unter anderem Produkte für Firmen. (Bild: Isabel Brun)

Rabia zieht sich die Hijab zurecht. Wegen ihres Kopftuchs wurde sie schon oft diskriminiert. Nicht zwingend von Arbeitgeber:innen, aber von der Kundschaft.

Trotz allem sei sie froh, hier zu sein. Die Hoffnung ist gross, für immer bleiben zu können. Als Afghanin besitzt sie nur den F-Ausweis, weshalb bis heute die Gefahr besteht, dass ihre Familie die Schweiz von heute auf morgen verlassen muss.

Ein Lichtblick: 84 Prozent der vorläufig Aufgenommenen in der Schweiz erhalten früher oder später einen B-Ausweis – gelten also als «anerkannte Flüchtlinge». 

Auf dem Arbeitsmarkt macht es, zumindest in der Theorie, keinen Unterschied, ob eine Person den F- oder B-Ausweis hat. Seit 2019 reicht eine Meldung bei den Behörden aus, um jemanden mit Fluchthintergrund anzustellen.

Verlorenes Potenzial

Die rechtlichen Hürden würden nur einen kleinen Teil des Problems ausmachen, sagt Caterina Meier-Pfister von Capacity. Der gemeinnützige Verein setzt sich dafür ein, dass hoch qualifizierte Geflüchtete und Menschen mit Migrationsgeschichte gut gewappnet auf Stellensuche gehen können.

Arbeitnehmer:innen müssten lernen, ihr Potenzial für den Schweizer Arbeitsmarkt zu erkennen und dieses nachvollziehbar zu kommunizieren, so Meier-Pfister. Dadurch könne man ein «Deskilling», also quasi ein «Verkaufen unter Wert», vermeiden: «Wenn eine erfahrene Führungsperson an der Kasse im Supermarkt eingesetzt wird, ist das verschwendetes Potenzial.»

«Studien zeigen, dass in diversen Teams eher Innovationen entstehen.»

Caterina Meier-Pfister von Capacity

Wie viel der Schweizer Wirtschaft durch dieses Missverhältnis durch die Lappen geht, bleibt unklar – denn eine Statistik darüber wird nicht geführt: «Bei der Behandlung und dem Entscheid über ein Asylgesuch ist der Bildungsstand der Gesuchstellenden nicht von Belang», hält das SEM gegenüber dem Recherchekollektiv Correctiv fest.

Caterina Meier-Pfister würde es begrüssen, wenn solche Daten gesammelt würden. Das könnte dazu beitragen, das brachliegende Potenzial von erfahrenen Fachkräften auf dem Schweizer Arbeitsmarkt sichtbarer zu machen: «Studien zeigen, dass in diversen Teams eher Innovationen entstehen.»

Ausserdem würde sie sich wünschen, dass Deutschkurse auch für höhere Niveaus als B1 für Geflüchtete kostenfrei sind. «In höheren Positionen werden in der Regel bessere Sprachkenntnisse gebraucht, doch die Kurse müssen selbst bezahlt werden», so Meier-Pfister. Eine Lücke, die man schliessen müsse.

Die Sprache als Schlüssel

Rabia hat Deutsch gelernt. Für sie sei schon früh klar gewesen, dass sie die Sprache beherrschen müsse, um sich in der Schweiz eine Zukunft aufzubauen. Immer wieder versuche sie, ihre afghanischen Freundinnen zu überzeugen, es ihr nachzutun. «Die Sprache ist der Schlüssel», so Rabia.

Von der Schweiz wünscht sich Rabia mehr Offenheit – auch in Bezug auf ihre Religion. (Bild: Isabel Brun)

Als sie während ihres Asylverfahrens noch nicht arbeiten durfte, besuchte sie zweimal in der Woche einen Deutschkurs. Gerne wäre sie noch öfter hingegangen, doch das sahen die Behörden nicht vor. Also übte sie vor und nach der Schule. Die Erwachsenenbildung sei anstrengend gewesen, erinnert sie sich. Doch die Anstrengung zahlt sich aus.

2021 macht Rabia eine Anlehre bei Social Fabric, wo sie Produkte für Firmengeschenke und den Shop näht. Die Non-Profit-Organisation bildet unter anderem auch Näher:innen aus. Das Atelier in der Binz wurde für ein Jahr ihr zweites Zuhause und der Grundstein für ihre jetzige Anstellung in Hausen am Albis.

Dankbar und stolz, das sei sie. Es war ein langer Weg, doch für Rabia hat er sich gelohnt. «Meine Töchter werden bald studieren können», sagt sie. Dann rattert die Nähmaschine wieder los.  

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Das Thema Fluchtmigration ist allgegenwärtig, heiss diskutiert und polarisiert. Doch Berührungspunkte mit Betroffenen sind rar und oft begegnen wir geflüchteten Menschen mit Vorurteilen. Dem geht nebst den fehlenden Begegnungsräumen oft mangelndes Wissen voraus.

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