«Wichtig, dass man keinen neuen Nationalismus kreiert»: Am Slavischen Seminar feiern Ukraine und Russland gemeinsam Butterwoche

Studentin Laura Truniger ist vor wenigen Tagen fluchtartig aus dem Auslandssemester in Russland zurückgekehrt. Viele Dozierende und Studierende am Slavischen Seminar der Universität Zürich haben nicht nur einen wissenschaftlichen Bezug zu Russland und der Ukraine, sondern auch einen privaten. Wie geht man damit um? Was kann Sprache und Literatur jetzt leisten?

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Laura Truniger, Nanina Graf, Giulia Morra und Jovanka Antic vom Fachverein Slavistik. (Bild: Alice Britschgi)

«Wie ein osteuropäischer Plattenbau», sagt Sylvia Sasse, «schrecklich». Sie lacht. Die Professorin für Slavische Literaturwissenschaft kommentiert das fast schon penetrant braune Gebäude – passenderweise an der Plattenstrasse 43 gelegen – mitten im Universitätsquartier: das Slavische Seminar der Universität Zürich. Auch das Innere des Plattenbaus ist braun: braune Wände, brauner Teppich, braune Treppe. Das Gebäude sei denkmalgeschützt, sagt Sasse und zuckt mit den Schultern.  

Im Traum aus Braun werden Slavische Sprach- und Literaturwissenschaft, Internationale Osteuropastudien und slavische Sprachen gelehrt, studiert und erforscht. Auch mit der Kultur des slavischen Raums beschäftigt man sich hier. Dazu gehören russische Filme genauso wie ukrainisches Theater, russische Literatur genauso wie ukrainische. Viele Dozierende und Studierende haben nicht nur einen wissenschaftlichen Bezug zu Russland und der Ukraine, sondern auch einen privaten. Manche haben Familie in den Ländern oder Freunde. Sie waren selbst einmal da, im Austauschsemester, in den Ferien oder besitzen den ukrainischen oder russischen Pass.

«Es geht hier nicht um eine nationale Frage»

Hier sind die ukrainische und russische Kultur gleichermassen beheimatet. Wie geht man am Slavischen Seminar nun mit den aktuellen Geschehnissen in Osteuropa um? Kommt es des Krieges in der Ukraine wegen zu Spannungen im braunen Plattenbau?

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Brauner Plattenbau unter Villen: das Slavische Seminar der Universität Zürich. (Bild: Alice Britschgi)

Eine hochinteressante Frage, findet Sasse und sie korrigiert: «Krieg gegen die Ukraine, wir achten hier sehr genau auf das Wording.» Spannungen gebe es eigentlich keine. Man achte darauf, dass die Atmosphäre gut bleibe. «Klar, es gibt immer wieder Leute, die auch nach ein paar Tagen Krieg noch dem Putin-Kitsch erliegen und begründen, man müsse beide Seiten sehen. Das sind allerdings oft Schweizer:innen, nicht Russ:innen», meint Sasse.

Die meisten Russ:innen im Ausland seien keine Putin-Anhänger:innen und es handle sich hier ja um einen Krieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine, nicht um einen Krieg von Russland gegen die Ukraine. «Es geht hier nicht um eine nationale Frage, sondern um eine politische, um ein diktatorisches Regime, das ein Land überfallen hat», macht Sasse ihren Standpunkt klar. Putin wolle alles auf nationale Fragen ausrichten. Darauf dürfe man sich nicht einlassen. Sie persönlich habe am Seminar glücklicherweise noch kein Mobbing gegen Russ:innen erlebt, doch sie hält fest: «Ich finde wichtig, dass man keinen neuen Nationalismus kreiert. Da würde man Putin auf den Leim gehen. Das will er.»

Anstelle von Spannungen erlebt Sasse am Seminar Engagement. Auch die russischen Mitarbeiter:innen und Studierenden engagieren sich gegen den Krieg. «Unsere Studierenden merken jetzt, dass Sprache nicht nur eine nette Beschäftigung ist, sondern sehr hilfreich sein kann», sagt Sasse. 

Abbruch des Auslandssemesters

Vier von ihnen sitzen an einem runden Tisch im braunen Gebäude und tauschen sich aus. Sie alle gehören dem Fachverein Slavistik an. Seit dem 24. Februar dreht sich in ihrem Alltag vieles um den Krieg. Eine von ihnen, Laura Truniger, war bis vor wenigen Tagen noch im Auslandssemester in der westsibirischen Stadt Tjumen. Die letzten Tage vor der Rückreise seien skurril gewesen: «Ich war nach Beginn des Krieges an einem Snowboard-Event», erzählt die Studentin, «der Moderator hat Stimmung gemacht, während ich den Krieg im Hinterkopf hatte.» Weil Truniger Grenzschliessungen befürchtete, entschied sie sich innerhalb eines Tages Russland zu verlassen – von Sankt Petersburg aus mit dem Bus nach Tallinn. Flugverbindungen gab es keine mehr. 

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Nicht alles braun: Studentin Giulia Morra hat ihre Nägel in den Farben der ukrainischen Flagge lackiert. (Bild: Alice Britschgi)

Im Bus traf sie auf viele andere Westeuropäer:innen, die sich ebenfalls vor einer Grenzschliessung fürchteten. Aber auch ein russischer Student sei dabei gewesen, der zu seinem Bruder nach Europa reiste, um aus dem Ausland online weiter zu studieren. «Spätestens jetzt, wo Mastercard und Visa in Russland nicht mehr funktionieren, hätte ich Probleme bekommen», stellt Truniger fest. Auch Jovanka Antic plante ein Auslandssemester in Russland. Denn einige Credits müssen die Studierenden im Ausland sammeln. Ob sie 2023 tatsächlich nach Sankt Petersburg reisen wird, ist nun völlig unklar.

Als erste Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine organisierte der Fachverein gemeinsam mit dem Slavischen Seminar ein Forum, in dem man sich austauschte und miteinander diskutierte. Wie geht man mit Desinformation um? Wie kann man sich informieren? Wie helfen? Das Interesse war gross. Etwa 70 Leute nahmen teil. Organisationen wie Libereco pitchten ihre Hilfsprojekte. «Die Idee, alle Informationen auf der Website des Slavischen Seminars zu sammeln und so eine Anlaufstelle zu kreieren, kam auf», erklärt Studentin Giulia Morra, deren Fingernägel in den Farben der ukrainischen Flagge lackiert sind. Gedacht, gemacht. Innerhalb weniger Tage stellten Studierende und Dozierende eine Informationsplattform auf die Beine.

«Literatur funktioniert wie Zeitzeug:innen»

Sprache ist Macht, das wird einem in sprachwissenschaftlichen Studiengängen schnell klar. Deshalb findet man auf der Website des Slavischen Seminars neben einem Solidaritätsstatement verlässliche Informationskanäle. Die Plattform Dekoder beispielsweise, die unter dem Slogan «Russland entschlüsseln» Hintergrundinfos und unabhängige Medien aus dem Russischen, Belarussischen und Ukrainischen ins Deutsche übersetzt  und dafür schon mehrfach ausgezeichnet wurde. Oder Meduza, wo unabhängige Stimmen aus Russland zu Wort kommen. Auch Übersetzungen von wichtigen Dokumenten wie die Rede von Wolodymyr Selenskyj an die russische Bevölkerung oder der Aufruf von russischen Wissenschaftler:innen und Wissenschaftsjournalist:innen gegen den Krieg finden sich auf der Website des Slavischen Seminars.

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Sylvia Sasse ist ist Professorin für Slavische Literaturwissenschaft und Seminarvorsteherin. (Bild: Alice Britschgi)

Doch nicht nur Sprachkenntnisse an sich, sondern auch Literatur kann in diesen Zeiten hilfreich sein. Auf der Website findet sich deshalb auch eine Liste von Buchempfehlungen. Die aktuelle ukrainische Literatur, sagt Literaturprofessorin Sasse, sage so viel über die Zeit von der Annexion der Krim 2014 bis heute aus. Den Fokus ihres Seminars für das Herbstsemester hat sie deshalb kurzerhand auf zeitgenössische ukrainische Literatur gelegt. «Literatur funktioniert wie Zeitzeug:innen», erklärt Sasse, «ich möchte den Studierenden die Gelegenheit geben, durch Literatur zu verstehen, was passiert ist.»

Die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass wir Menschen mit Osteuropakompetenz und slavischer Sprachkompetenz brauchen.

Sylvia Sasse, Professorin für Slavische Literaturwissenschaft

Literatur verbinde auch deshalb, weil die Autor:innen mehrsprachig seien. In der Ukraine werde Literatur auf Russisch und auf Ukrainisch geschrieben, erklärt Sasse. Das Slavische Seminar plant deshalb auch für die Sommerschule zur Mehrsprachigkeit einen Fokus auf die Ukraine. «Autor:innen sind Brückenbauer:innen», ist sich Sasse sicher. Historisch wurde auf dem Terrain der Ukraine jiddisch-, deutsch-, polnisch-, russisch- und ukrainisch gesprochen und geschrieben, diese sprachliche und kulturelle Vielfalt sei für die heutige Ukraine sehr wichtig.

Und das Slavische Seminar plant noch mehr. Im Herbstsemester soll eine Ringvorlesung mit dem Titel «Das andere Russland» stattfinden. Weil sich das Forschungszentrum URIS (Ukrainian Research In Switzerland) der Universität Basel auf die Ukraine konzentrieren werde, wolle man in Zürich einen Fokus auf die Opposition in Russland legen. «Wir dürfen jetzt die russischen und belarussischen Menschen nicht vergessen, die schon seit Jahren Repressionen ausgesetzt sind und jetzt auch fliehen», sagt Sasse. Viele Belaruss:innen seien in die Ukraine geflüchtet und hätten jetzt keinen Ort, wo sie hinkönnten. Jede:r, der:die sich für die Thematik interessiere, sei in der Ringvorlesung willkommen, merkt die Professorin an, nicht nur Studierende.

Studium gewinnt an Aktualität

Sich mit der Satzstellung des Russischen befassen? Jahre seines Lebens der slavischen Literatur widmen? Wieso? Bis vor Kurzem haben sich nicht viele Menschen für die Slavistik interessiert. Nun könnte sich das ändern. «Ich möchte nicht, dass wir mehr Studierende bekommen, weil die Länder mit denen wir uns befassen, Krieg führen», sagt Sasse, «aber die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass wir Menschen mit Osteuropakompetenz und slavischer Sprachkompetenz brauchen». Vertieftes Wissen sei wichtig, um Zusammenhänge zu verstehen und Desinformation zu erkennen. 

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Auch im Inneren ist das Slavische Seminar gut gebräunt. (Bild: Alice Britschgi)

Neben ernsthaften Veranstaltungen und einer Informationsplattform zum Krieg organisierte der Fachverein in den letzten Tagen ein Fest: die Butterwoche. Der Brauch, der im Russischen Masleniza genannt wird, geht auf vorchristliche Zeiten zurück und soll den Winter verabschieden. In der Woche vor der Fastenzeit wird nochmal ordentlich Butter gegessen und zwar in Form von Blini. In diesem Jahr fiel die Woche beinahe mit dem Kriegsbeginn zusammen. Der Fachverein entschied sich, trotzdem zu feiern.

Ob das Butterfest auch in der Ukraine gefeiert werde, wissen die Studentinnen nicht mit Sicherheit. Das Internet sagt ja. Aber es ist auch nicht so wichtig. Denn nationale Grenzen scheinen hier am Slavischen Seminar keine so grosse Wichtigkeit einzunehmen wie sonst gerade auf der Welt. Hier geht es um den slavischen Sprachraum, nicht um Russland, nicht um die Ukraine, nicht um Polen oder Bosnien. So platt seine äussere Erscheinung, so komplex und fein sein Inneres: Das Slavische Seminar schafft, was momentan irgendwie unmöglich scheint: Nämlich die Ukraine, Russland und den ganzen slavischen Sprachraum unter ein Dach zu bringen. Und das sogar mit Freude.

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