Alternative Liste: «Unsere Rolle ist es, die Linke vor uns her zu treiben»

Nach den diesjährigen Wahlen steht die Stadtzürcher AL vor einigen Herausforderungen. Welche das sind, haben wir im gestrigen Artikel beleuchtet. Heute fragen wir: Wo steht die Partei und wie gelingt ihr die Erneuerung? Sieben Protagonist:innen aus unterschiedlichen Generationen geben Auskunft.

Michael Schmid (AL)
(Bild: Steffen Kolberg)

Michael Schmid

Parteivorstand & Gemeinderat

«Die AL grenzt sich ab von klassischer Parteipolitik, inklusive Politkarrieren», so Parteivorstand Michael Schmid. Für die Karriere lohne es sich nicht, in die Partei einzutreten, da es aufgrund der momentanen lokalen Ausrichtung kaum Chancen gebe, auf nationaler Ebene Politik zu machen. Schmid selbst ist ein gutes Beispiel für eine «Karriere» innerhalb der AL: Am Ende seiner 20er habe er sich umgeschaut, wo er sich politisch engagieren könne, so der heute 36-Jährige. So sei er auf die offenen Vollversammlungen der AL gestossen. «Nach einer Weile wird man dann gefragt, ob man sich nicht vorstellen könne, etwas zu machen, Artikel zu schreiben oder ein Amt zu übernehmen», erzählt er: «So kam ich dann vor zwei Jahren in den AL-Vorstand.»

Er wolle Aufmerksamkeit für seine Themen schaffen, erläutert der Softwareentwickler. Für die Verkehrswende, die Gestaltung des öffentlichen Raums oder für finanzpolitische Themen: «Mir ist die Wirksamkeit wichtig, ich muss mich nicht profilieren.» Es stimme, dass das Bild der Partei nach aussen von älteren Männern wie Niklaus Scherr, Richard Wolff oder Walter Angst geprägt sei. Jahrelange Erfahrung und Expertise seien jedoch nichts Schlechtes: «Ohne die Expertise, ohne sich gut mit einem Thema auszukennen, betreibt man nämlich letztlich nur Populismus.»

Die Kantonsrationsfraktion, der Vorstand, die Arbeitsgruppen und auch die AL-Versammlungen gäben ausserdem ein deutlich diverseres Bild ab als die Gemeinderatsfraktion. Eines, in dem viele Frauen zu Wort kämen und die etablierten Männer sich auch mal zurückhielten. Auf die Frage, ob es sich nicht lohnen würde, dieses Bild mehr nach aussen zu tragen, verweist Schmid auf die begrenzten Ressourcen:  «Wir können nicht all unsere Energie auf gute Öffentlichkeitsarbeit verwenden. Wir wollen vor allem inhaltlich gute Arbeit machen.»

David Garcia Nuñez
(Bild: Steffen Kolberg)

David Garcia Nuñez

Co-Fraktionspräsident

Auch Co-Fraktionspräsident David Garcia Nuñez sieht die geringen Ressourcen der Partei als Herausforderung, wenn es um die Öffentlichkeitsarbeit und das Rekrutieren neuer Mitglieder geht. Das Problem sei in diesem Zusammenhang auch eine «False Balance» in den Medien, findet er: «In der NZZ und dem Tages-Anzeiger wird die Position der AL oft ausgeblendet, wenn nicht gar verzerrt wiedergegeben. Die Zeit, die ich brauche, um das bei denen richtig zu stellen, könnte ich besser nutzen, um mich zum Beispiel mit Interessierten auf ein Bier zu treffen.»

Das Thema Diversität könne man von verschiedenen Achsen aus betrachten, findet Garcia Nuñez: «Wenn man die unterschiedlichen Klassen anschaut, hat die AL eine hohe Diversität. Auch, wenn es um postmigrantische Biografien geht. In der letzten Legislatur hatten wir beispielsweise den einzigen Jenischen-Vertreter im Rat, Legislaturen zuvor hat sich die erste und bisher einzige trans Person im Zürcher Parlament innerhalb der AL-Fraktion problemlos geoutet.» Eine Verjüngung finde zudem durchaus statt, erklärt er. Schliesslich seien Co-Fraktionspräsidentin Tanja Maag und er als Mittvierziger durchaus deutlich jünger als andere AL-Urgesteine. «Muss man unbedingt Anfang 20 sein?», so Garcia Nuñez: «Oder kann man, wenn es um simple Altersrepräsentation geht, nicht auch fragen: Sind die Älteren, nämlich diejenigen über 75, überhaupt genug repräsentiert?»

Dem Eindruck, dass viele Entscheidungen in der Fraktion von Einzelpersonen ausgingen, hält er entgegen, dass die Diskussionen sehr kontrovers und von einer Produktivität gekennzeichnet seien, die andere Parteien nicht hätten: «Aber nach aussen muss das geschlossen wirken, und man muss nachvollziehbar aufzeigen, wie man zu seiner Entscheidung gekommen ist.» Trage man die Auseinandersetzungen – insbesondere bei wichtigen Geschäften – zu sehr hinaus, entstehe in der Öffentlichkeit schnell das Bild einer chaotischen und zerstrittenen Linken.

Der Arzt argumentiert oft auf intellektuell anspruchsvollem Niveau. Dass manche Argumentationen von ihm und seinen Mitstreiter:innen zu akademisch seien, findet er nicht, im Gegenteil: «Das Problem ist das tiefe Niveau der anderen», meint er. Es sei problematisch, wenn Politik so unterkomplex dargestellt werde wie bei vielen Ratsdebatten. Manche in der AL hätten vielleicht einen Hang zur Pädagogik, räumt er ein: «Aber so wie manche Leute von der SVP im Rat argumentieren, kann man es vielleicht in der Primarschule machen, aber nicht im Parlament. Und eine aufklärerische Linke muss da was dagegen tun.»

Richard Wolff
(Bild: Steffen Kolberg)

Richard Wolff

Alt Stadtrat

«Die AL ist für mich die intellektuellste Partei, auch vom Personal her», findet auch der ehemalige AL-Stadtrat Richard Wolff. Dennoch sei sie vielfältig, und vor allem sei sie nicht doktrinär und ideologisch. Der Stadtforscher hatte vor seinem Eintritt in die Partei 2010 Kampagnenarbeit für Stadtentwicklung gemacht und dabei mit allen linken Parteien zusammengearbeitet, wie er erzählt: «Die AL war für mich aber letztendlich attraktiver als die anderen, sie war jung, urban, bewegungsnah. Man hatte mehr Möglichkeiten sich einzubringen als bei der SP.»

Jetzt sei es an der Zeit, dass die Alten den Jungen Platz machten, «aber das ist nun mal nicht jedermanns Sache». Seit bald zehn Jahren sei die Frage nach einer Verjüngung in der Partei präsent. Und mit ihr diejenige danach, was solch eine Verjüngung wert sei. «Wird die Partei und ihre Politik besser, wenn die Alten jetzt sagen, dass sie gehen?», fragt Wolff und führt fort: «Oder ist es eine vernunftgeleitete Politik, den Jungen Platz zu machen, einhergehend mit dem potenziellen Verlust von Kompetenz, Erfahrung und Wähler:innenpotenzial?». Die letzten Wahlen hätten zwar gezeigt, dass Jugend auch ein Wahlargument sein könne, aber jung zu sein alleine sei noch kein Inhalt, betont er.

Inhaltlich stünden mit Klima und Ökologie gerade die Kernthemen der Grünen im Zentrum, da sei es klar, dass die Jungen sich dorthin bewegten. Doch es sei auch ein klassenübergreifendes Thema, deshalb müsse sich die AL diesem viel stärker widmen, ist Wolff überzeugt: «Bei der Verknüpfung von sozialen und ökologischen Fragen müsste sich die AL stärker positionieren. Vielleicht haben wir das bisher unterschätzt.»

Moritz Bögli
(Bild: Steffen Kolberg)

Moritz Bögli

Gemeinderat

Ähnlich wie Wolff sieht es auch Neu-Gemeinderat Moritz Bögli, der im September für Regula Fischer in den Gemeinderat nachrückte. «Bei der Klimakrise müssen wir die Leute abholen mit klar antikapitalistischer und radikaler Politik», findet er: «Zum Beispiel hätten wir uns deutlicher für 2030 als Netto-Null-Ziel einsetzen sollen. Ich hätte den 2040 Kompromiss im Parlament abgelehnt, auch wenn 2030 wahrscheinlich unrealistisch ist. Damit hätten wir uns von den Grünen abheben können.»

Sichtbarer müsse man auch wieder beim Thema Repression werden, wenn es beispielsweise um Polizeigewalt und um Grundrechte gehe. Die Rolle der AL als kleine Oppositionspartei sei es, «die Linke vor uns her zu treiben und das Spektrum, das immer weiter nach rechts gerückt ist, wieder nach links zu verschieben». Böglis erste Motion, die er kürzlich mit Luca Maggi (Grüne) einreichte, nimmt sich genau diesem Thema an: Darin fordern beide einen Verzicht auf Polizeibussen bei nicht bewilligten Demonstrationen.

Der 24-Jährige Student habe sich bisher vor allem hochschulpolitisch engagiert und zunächst gar nicht vorgehabt, ins Parlament zu gehen, wie er erzählt. Der frühe Rücktritt Fischers, die zum Abschied erklärte, sie könne sich die parlamentarische Arbeit nicht mehr leisten, sei unerwartet gekommen, so Bögli. Die AL sei keine Partei, die besonders viel Präsenz suche, erläutert er. Vielleicht liege das daran, dass viele auch noch in anderen Organisationen engagiert seien.

Auch er sieht die Zusammensetzung der Fraktion kritisch: «Eine Parlamentsfraktion sollte so aussehen wie die Bevölkerung, sie sollte ein Abbild davon sein. Und das schafft die AL im Gemeinderat momentan nicht.» Die Wahltaktik sei wohl ebenfalls nicht optimal gewesen: «Vielleicht war man etwas zu nett zu den Bisherigen, indem man sie ganz oben auf die Listen gesetzt hat. Denn es wurden ja insgesamt viele junge Frauen auf den Listen gewählt.»

Annabelle Ehmann (AL)
(Bild: Steffen Kolberg)

Annabelle Ehmann

Ex-Gemeinderatskandidatin

Eine dieser jungen Frauen ist Annabelle Ehmann. Sie kandidierte als Spitzenkandidatin im Kreis 12, wo die AL traditionell kaum Chancen hat. Ihr Nicht-Einzug in den Rat kam deshalb nicht überraschend, erklärt sie: «Es war eher unwahrscheinlich, einen Sitz zu holen. Ich wollte vor allem Stimmen holen für die AL in Schwamendingen.» Am Ende habe die Partei dort 180 Stimmen erhalten, sie selbst sogar 284. Zwar sei ihre Kandidatur eher als Unterstützung für die Partei gesehen, hätte sie den Sitz aber bekommen, hätte sie diesen auch angenommen, erklärt sie. Sie sei froh, dass sie ihr Thema, den Veloverkehr, im Kreis habe platzieren können und vor Ort Unterstützer:innen gefunden habe.

Ehmann sagt, sie sei vorher in der SP gewesen, habe aber den Eindruck gehabt, «dass sie meine Unterstützung nicht unbedingt brauchen». Sie erklärt, sie fände es schön, wenn die AL mehr finanzielle und personelle Ressourcen hätte: «Ich frage mich, warum alle zur SP rennen, die das alles eh schon hat.» Bei der AL sehe sie mehr Radikalität, mehr Freiheit und mehr Offenheit als bei den Sozialdemokrat:innen, es gebe keine faulen Kompromisse. Freund:innen, die bei den Grünen oder der SP seien, hätten teilweise das Bild, dass in der AL nur ältere Männer seien. «Ich finde es schade, wenn die AL und ihre Mitglieder nur auf das reduziert werden», meint Ehmann: ««In der AL steckt grosses Engagement und ein riesiger Erfahrungsschatz, was in der Vergangenheit schon viel bewegen konnte.»

Eine Identifikationsfigur in der Partei sei für sie Ex-Gemeinderätin Olivia Romanelli gewesen, erzählt sie. Diese unterlag Walter Angst Anfang Jahr parteiintern im Rennen um die Stadtratskandidatur. «Ich spüre einen Druck, als junge Frau eine Erneuerung zu verkörpern, die ich auch gerne wählen würde», meint die 29-Jährige: «Doch ich möchte mich dem nicht einfach so fügen, auch weil ich mich vielem, was die aktuelle parlamentarische Politik mit sich bringt, gerade nicht aussetzen möchte.» Sie romantisiere das Parlament nicht, sondern sehe auch viele Möglichkeiten, ausserhalb davon etwas zu bewegen. Beispielsweise durch ihre Arbeit bei der Empathie Stadt Zürich, die unter anderem Konfliktmediation anbietet.

Christina Schiller
(Bild: Steffen Kolberg)

Christina Schiller

Ex-Gemeinderätin

Ein junges weibliches Aushängeschild der AL-Fraktion war in der letzten Legislatur Christina Schiller. Die Tochter der bekannten Szeneanwältin und AL-Politikerin Manuela Schiller hatte sich aktiv in der Jungen Linken Alternative JuLiA eingebracht, die damals als Jugendorgansation der AL eine Blütezeit erlebt hatte und heute kaum mehr existent ist. «Das waren Leute, die zusammen auf Demos gingen und Bücher lasen», erzählt sie. Es seien immer kleine Gruppen von Freunden gewesen, die gemeinsam beschlossen der JuLiA beizutreten, so auch bei ihr.

Doch auch wenn die Jugendorganisation damals recht aktiv gewesen sei, sei die Verjüngung nicht erst seit dieser Legislatur Thema in der AL, bestätigt sie. Es sei allgemein schwierig, junge Leute zu finden, die Strukturarbeit machen wollten. Es kämen immer wieder viele Junge nach, doch sie blieben oft nicht lange. Die AL könne ihnen aufgrund ihrer Grösse auch nicht so viele Möglichkeiten und gute Plätze auf den Listen anbieten. Wenn es darauf ankomme, fehle es der Partei deshalb oft an Personal. Dafür habe sie ein Umfeld, aus dem sie Menschen für die parlamentarische Arbeit rekrutieren könne, wie zum Beispiel Moritz Bögli oder die ehemalige Gemeinderätin Ezgi Akyol. Den Stimmverlust bei den letzten Wahlen sieht Schiller eher als Momentaufnahme denn als Trend. Er sei ein Anlass, sich selbstkritisch zu hinterfragen, «aber auflösen müssen wir uns deswegen nicht».

Das Argument, in der Fraktion habe vor allem Walter Angst das Sagen, habe sie immer richtig wütend gemacht, erzählt sie: «Er hat Know-How und Wissen und deshalb fragt man ihn intern gerne, aber trotzdem haben sich Ezgi oder ich in den Auseinandersetzungen auch öfter durchgesetzt.» In der letzten Legislatur seien mit Ezgi Akyol, Andrea Leitner und ihr drei Frauen mit viel Sachverstand in ihren jeweiligen Sachkommissionen gesessen und hätte dort viele kritische Fragen gestellt: «Und am Ende hiess es, wir würden nur dem Wädi folgen.» Dabei habe sie den Eindruck, dass der früher so präsente Walter Angst in den letzten vier, fünf Jahren eher zahm geworden sei.

Walter Angst
(Bild: Steffen Kolberg)

Walter Angst

Gemeinderat & Ex-Stadtratskandidat

Walter «Wädi» Angst selbst, das wird schnell klar, redet viel lieber über Inhaltliches als über sich selbst. Nach der knapp verlorenen Stadtratswahl gehe es ihm sehr gut, versichert er: «Es war die Wahl zwischen institutionellem Einfluss oder Unabhängigkeit. Unabhängigkeit ist höchst attraktiv.» Problematisch sei, dass die AL nicht mehr im Stadtrat vertreten ist. Das Ergebnis der Kommunalwahl sei widersprüchlich: «Die vielen Neugewählten haben Diversität gebracht und Spielräume geöffnet. Für unsere Anliegen ist der Spielraum aber enger geworden.» Mit den Wahlerfolgen von FDP und GLP habe die klar sozialpolitisch ausgerichtete linke Politik der letzten vier Jahre an Einfluss verloren. Bei der GLP habe Diversität viel Platz, bei der FDP zum Teil auch, Spielräume hin zu dem von Jungen Grünen oder Juso gewünschten System Change gebe es aber selbst bei der GLP kaum.

Linke Parteien wie die AL seien ein zentraler Teil des gesellschaftlichen Wandels, ist Angst überzeugt. Als kleine Organisationen, die für sich genommen vielleicht gar nicht so wichtig seien, übernähmen sie die Rolle eines Katalysators für Veränderungen. Beispiele seien die demokratische Kontrolle der Energiewirtschaft und der Spitäler, die Einschränkung der Macht der Immobilienlobby oder die den politisch Verantwortlichen aufgezwungene Neuausrichtung der AOZ.

Auch das Nein der AL-Fraktion zum Kauf des Uetlihofs habe sich als richtig erwiesen. Dem Vorwurf, die AL-Fraktion sei dabei lediglich seiner Vorgabe gefolgt, widerspricht er: «Im Unterschied zu FDP, GLP und SP, die von Anfang an wussten, was richtig ist, haben wir bis am Tag der Abstimmung um unsere Position gerungen. Meine Aufgabe war es, die zahlreichen Fakten aufzuarbeiten, die für und gegen den Deal gesprochen haben.»

Ihm sei klar, dass er innerhalb der AL eine besondere Rolle habe, so Angst. Der Vorteil der AL-Fraktion sei, dass der Rat nicht der soziale Raum sei, der das Renommee einer Person bestimme. Das sei bei ihm nicht anders: «Der Rat ist nicht der soziale Raum, in dem ich mich wohl fühle. Im Rat geht es mir ums Geschäft. Kunst ist es, dabei nicht als arrogant zu wirken.»

«Ich bin zwar geprägt von den konfrontativen 80er-Jahren», erklärt er: «Man zählt mich aber nicht zu den Verbohrten. Es fällt mir auch leicht, Fehler einzugestehen.» Auch in der AL brauche es immer wieder neue Ansätze. Dass sich langjährige Mitglieder in kleinen Fraktionen zurücknehmen müssten sei selbstverständlich. Dass dies nicht immer gelinge, sei ebenfalls nichts Neues. «Die neue Fraktion ist aber gerade in diesem Punkt ein starkes Korrektiv.»

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