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Agota Lavoyers Buch über Rape Culture: unbequem und notwendig
In jeder Zürcher Buchhandlung ist es erhältlich: das neuste Buch von Agota Lavoyer «Jede_Frau». Es geht um Rape Culture und überzeugt durch einen ruhigen Erzählton. Eine Buchbesprechung.
«Jede_ Frau» heisst das neue Buch von Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt. Nur schon der Titel wird wohl in vielen Köpfen Fragezeichen aufploppen lassen. Frau? Bleibt das Buch in einer Binarität der Geschlechter stecken? Und das im Jahr 2024, in dem Nemo soeben den Eurovision Song Contest gewonnen hat und sich die Sensibilität für Geschlechtervielfalt ausrollt?
Lavoyer liefert die Antwort auf der ersten Seite des Buches. Dort erklärt sie, wer gemeint ist mit «Jede_ Frau». So ausführlich, dass es zu weit führen würde, die ganze Passage hier wörtlich zu zitieren. Wichtig ist vor allem, dass sie unter den Begriff «jede_» jene Menschen fasst, die sich als weiblich identifizieren oder die weiblich sozialisiert wurden. Gleichzeitig kritisiert sie das System der Zweigeschlechtlichkeit, das sich innerhalb des patriarchalen Systems herausgebildet hat.
Zumindest in progressiven Kreisen gehört die Kritik am Patriarchat zum guten Ton. Wahlweise stehen Liv Strömquist, Emilia Roig oder Margarete Stokowski im Bücherregal. Wozu braucht es also ein zusätzliches Buch, das sich mit dem Patriarchat beschäftigt?
«Ein Buch über Rape Culture fehlt bisher im deutschsprachigen Raum», erklärt Agota Lavoyer beim Besuch der «Hauptstadt» in ihrem Büro in Bern. Mit dem Fokus auf Rape Culture, also den gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt, in der Schweiz, Deutschland und Österreich, hat sie eine Nische gefunden.
Eine äusserst lesenswerte Nische.
Unbequeme Lektüre
Wer mit dem Wirken der 43-jährigen Bernerin auf Social Media vertraut ist, dürfte ihren Stil im Buch wiedererkennen. Ohne Kompromisse steht sie ein für die Position der von sexualisierter Gewalt betroffenen Menschen. Das allein wäre noch nicht so aussergewöhnlich. Lavoyer schafft das aber, ohne dabei die Männer kategorisch abzuwerten. Fair und unaufgeregt breitet sie ihre Argumente aus.
Dieser versöhnliche Tonfall ist eine Wohltat. Und taktisch klug: Die Lektüre ist unbequem. Wer ehrlich zu sich selbst ist, dürfte an vielen Stellen erkennen, wie fest das eigene Verhalten dazu beiträgt, dass weiterhin Menschen sexualisierte Gewalt ausüben. Etwa, wenn ein selbst erlebtes oder beobachtetes Nachpfeifen unwidersprochen bleibt. Denn, so schreibt Lavoyer, diese vermeintlich vernachlässigbaren Alltagsbelästigungen böten den Boden für Vergewaltigungen. Würde Lavoyer anklagend schreiben, könnte das dazu führen, dass viele das Buch verärgert oder beschämt zuklappen.
Lavoyer schreibt aus der Ich-Perspektive und richtet sich immer wieder per Du an die Leser:innen. Ein Vortrag auf Augenhöhe. Sie zitiert sehr viele Studien und Fallbeispiele aus Zeitschriften und ihrer eigenen Arbeit als ehemalige Schulsozialarbeiterin und Opferberaterin. Gleichzeitig räumt sie ein, dass auch sie lange Zeit verkannt habe, dass sexualisierte Gewalt ein strukturelles Problem sei und dass sie sogenannte Vergewaltigungsmythen geglaubt habe.
Vergwaltigungsmythen, so erklärt Lavoyer im Buch, sind Erzählungen und Überzeugungen über die Ursachen, den Kontext, die Folgen, die Täter und Opfer sexualisierter Gewalt. Sie sind Mythen, entsprechen also nicht den Fakten – und führen zu einem problematischen Umgang mit sexualisierter Gewalt.
Zum Beispiel werden Opfer für die Tat verantwortlich gemacht, wenn ihre Kleidung in Zusammenhang mit der Tat gebracht wird. Ein Mythos lautet, dass Frauen es sexuell erregend finden, zu Sex gezwungen zu werden. Ein anderer, dass Vergewaltigungen immer unter roher Gewaltanwendung stattfinden und von «Monstern» durchgeführt werden – keinesfalls von sogenannt normalen Männern.
In aller Ruhe und Ausführlichkeit entkräftet Agota Lavoyer diese Mythen. Dabei streicht sie die Tragweite heraus, die der Glaube an diese Mythen mit sich zieht: Opfer schweigen, statt über das erlittene Unrecht zu sprechen und es allenfalls zur Anzeige zu bringen. Und wenn Polizist:innen und Richter:innen ebenfalls an diese Mythen glauben, zieht sich das Unrecht weiter in der Strafverfolgung und in der Rechtsprechung.
Rape Culture «entlernen»
Eine weitere Stärke des Buches liegt darin, dass es eine breite Perspektive einnimmt. So nennt Lavoyer viele Beispiele, wie sich die Rape Culture in der Popkultur zeigt und gibt Tipps für Filme und Serien, die das Thema vorbildlich und konstruktiv aufgreifen.
Und sie schreibt über die besonderen Diskriminierungen, die sich gegen Menschen mit Behinderungen, Mehrgewicht oder nicht-weisser Hautfarbe richten und sich verstärken in Kombination mit einer nicht-cis-männlichen Geschlechtsidentität. Etwa im Fall einer jungen, mehrgewichtigen Frau aus Kanada, die einen Taxifahrer wegen eines sexuellen Übergriffs angezeigt hatte. Der Richter sagte ihr, dass sie sich womöglich «geschmeichelt» gefühlt haben müsse, weil es vielleicht das erste Mal gewesen sei, dass sich ein Mann für sie interessiere.
Agota Lavoyer ist es ein grosses Anliegen, dass alle Menschen das Denken und Verhalten, das dazu dient, Rape Culture aufrechtzuerhalten, «entlernen». «Das funktioniert, indem man sich Wissen aneignet», erklärt Lavoyer im Gespräch mit der «Hauptstadt». Einfach sei es natürlich nicht. «Aber die logische Folge, wenn man zur Einsicht gelangt, dass alle Menschen gleichberechtigt sind und eben das gleiche Recht auf ein unversehrtes Leben haben.»
Wer eine Checkliste für Anti-Rape Culture-Verhalten erwartet oder eine Liste mit konkreten Ideen für den Alltag, findet solche nicht im Buch. Zwar heisst das letzte Kapitel «Unlearn Rape Culture» – frei übersetzt auf Deutsch: Rape Culture entlernen – und die Untertitel geben Entwicklungsrichtungen vor (Reden/Wütend sein/Verantwortung übernehmen/Nur Ja heisst Ja). Trotzdem müssen die Leser:innen aktiv mitdenken und selbst überlegen, was die im Buch geschilderten Fakten für ihr eigenes Leben bedeuten und wie sie ihr Verhalten entsprechend anpassen wollen oder sollen.
Auch Agota Lavoyer entscheidet sich im Buch, die von ihr beschriebene Kultur des Schweigens zu durchbrechen. Im Kapitel «My Story» – meine Geschichte – schreibt sie von eigenen Erfahrungen sexualisierter Gewalt. «Es war das schwierigste Kapitel zum Schreiben», erzählt sie. Aber für sie sei rasch festgestanden, dass ihre persönlichen Erlebnisse reingehören. Denn: Solange keine Fachpersonen ihre eigenen Gewalterfahrungen teilen, entstehe der Eindruck, dass nur Nicht-Betroffene sich professionell zum Thema äussern könnten. «Und das ist falsch und führt zu einer weiteren Abwertung der Betroffenen», so Lavoyer.
Bald erscheint das nächste Buch
Vor zwei Jahren hat Agota Lavoyer bereits das Kinderbuch «Ist das okay?» publiziert zur Prävention von sexualisierter Gewalt. Mittlerweile liegt die dritte Auflage vor. Immer wieder postet Lavoyer auf Social Media Rückmeldungen von Leser:innen, die schreiben, dass sie dank des Buches bestärkt ihre Kinder über sexualisierte Gewalt aufklären können.
Ende September erscheint schon ihr nächstes Buch, geschrieben hat sie es zusammen mit Sim Eggler. Es ist ein Buch für Betroffene von sexualisierter Gewalt, das sie dabei unterstützen soll, das Erlebte und ihre Reaktionen besser einordnen zu können und ihnen Wissen zu Handlungsmöglichkeiten und Unterstützungsangeboten vermittelt.
Daneben gibt Agota Lavoyer ihr Fachwissen an Vorträgen und Workshops in Organisationen und Unternehnen oder an Strafverfolgungsbehörden, Fachhochschulen und Universitäten weiter. Jüngst hat sie die Stadt Bern beraten für die Kampagne «Bern schaut hin».
Das zunehmende Interesse an ihrer Arbeit und jener anderer Expert:innen für sexualisierte Gewalt stimmt sie zuversichtlich. Es passiere sehr viel. «Aber es muss noch viel mehr passieren», fügt sie bestimmt hinzu. «Bern schaut hin» findet sie gut und wichtig. Und schiebt auch hier gleich ein Und nach: «Es bräuchte: ‹Schweiz schaut hin›!»
In eine Aufforderung umformuliert klingt das wie ein passender Aufruf zur Lektüre ihres Buches: Schweiz, schau hin!
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