Höhere Bildungschancen: Tagesschulen sind gut, Kitas noch besser
Zürich stimmt im September über die flächendeckende Einführung der Tagesschule ab. Unter anderem sollen dadurch die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche erhöht werden. Ob die Tagesschule dieses Ziel erreichen kann, ist unklar, denn die Studienlage dazu ist dünn. Expert:innen aber treffen Annahmen.
Wie Kinder aufwachsen, bestimmt wichtige Fundamente ihrer Zukunft. Ungünstige Lernbedingungen, Armut, soziale Klasse, niedriger Bildungsstand der Eltern oder auch ein nicht der Mehrheitsgesellschaft entsprechender kultureller Hintergrund beeinflussen den Schulerfolg negativ, schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. Es mag brutal klingen, aber der Schulerfolg hängt stark mit der Bildung der Eltern zusammen. Die Kinder kommen mit unterschiedlichen Bildungsstandards in die Schule – teils mit grossen Defiziten.
Hier will die Stadt Zürich ansetzen: Am 25. September 2022 stimmen die Stimmberechtigten über die Einführung von Tagesschulen ab. Seit 2015 wurde der Tagesschulbetrieb etappenweise an verschiedenen Zürcher Schulen getestet. Bei einem Ja an der Urne wird die bisher andauernde Pilotphase beendet und die Tagesschulen definitiv eingeführt. Ein wegweisendes Projekt. Die Limmatstadt wäre somit eine der ersten in der Schweiz, die Tagesschulen flächendeckend einführt.
Die Abstimmung im Überblick Zur Abstimmung stehen zwei Tagesschule-Vorlagen: Eine günstige vom Stadtrat, eine teurere vom Gemeinderat. Die günstigere Variante kostet 75 Millionen Franken pro Jahr, die teurere 126 Millionen. Die Mehrkosten in der Gemeinderats-Variante entstehen, weil die Eltern weniger fürs Mittagessen bezahlen sollen (6 statt 9 Franken), die Stadt höhere Betreuungskosten finanzieren und längere Betreuungszeiten anbieten soll. Ausser der SVP sind alle Parteien grundsätzlich für die Einführung der Tagesschule. AL, EVP, GLP, Grüne und SP sprechen sich für die Variante Gemeinderat aus. FDP und Die Mitte für die Variante Stadtrat. Eine Zusammenfassung aller Abstimmungen findest du hier. |
Bildungschancen erhöhen – nur teilweise erfüllt
Neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und einem verbesserten Zusammenspiel von Schule und Betreuung ist eines der drei grossen Ziele der Vorlage die Erhöhung der Bildungsgerechtigkeit sowie der Bildungschancen für Kinder und Jugendliche. Was heisst, dass Kinder durch schulische und betreuerische Unterstützung und unabhängig von ihrem Elternhaus möglichst gleiche Chancen haben sollten. Die Datenlage zur Frage, ob die Tagesschule dieses Ziel erreichen kann, ist eher dünn. Die Stadt Zürich verweist in diesem Zusammenhang auf den Evaluationsbericht zur Pilotphase des Projekts, der vom Forschungsunternehmen Infras verfasst wurde.
Infras zieht dabei grundsätzlich eine positive Bilanz, wobei die Autor:innen ausgerechnet das Ziel, die Bildungschancen zu erhöhen, als einziges als nur «teilweise erfüllt» markieren. Das sei darauf zurückzuführen, dass der Faktor «Bildungschancen» schwierig zu messen sei. Zudem würden sich die Ergebnisse im Vergleich zu den anderen Zielen erst mittel- bis langfristig zeigen, heisst es bei Infras auf Nachfrage. Aber: «Es ist ein weit verbreiteter Konsens unter Fachpersonen, dass Tagesschulen die Bildungschancen erhöhen», sagt Susanne Stern, Mitglied der Geschäftsleitung von Infras.
Wichtig für die Verbesserung der Bildungschancen sei der flächendeckende Charakter, ein tiefer Einheitstarif von 6 Franken pro Mittag oder eine hohe soziale Durchmischung, die etwa durch das Abmelde- statt Anmeldeprinzip erreicht werde. Die aktuelle Abmeldequote variiert je nach Schulhaus stark und lag laut Stadt im vergangenen Schuljahr im Durchschnitt bei 12 auf Primarstufe und 36 Prozent auf Sekundarstufe. Auch ist laut Stern die vorgesehene Aufgabenhilfe wichtig: «So integrieren wir die Ufzgis in die Schule und nicht nur privilegierte Kinder bekommen dabei Hilfe. Das ist ein Paradigmenwechsel.»
«Wir können nicht nach Tagesschulen schreien und nicht in Kitas investieren.»
Susanne Stern, Sozialgeografin
Dennoch ist der Sozialgeografin bewusst, dass Familien sehr unterschiedlich sind und dies auch bleiben: «Es wäre illusorisch, zu denken, dass wir durch die Schule gleiche Chancen für alle Kinder ermöglichen. Tagesschulen können nur einen Teil dazu beitragen.» Es brauche auch andere gesellschaftliche Massnahmen, um die Defizite, mit welchen Kinder in die Volksschule eintreten, zu reduzieren. Etwa Investitionen im frühkindlichen Bereich, also die vorschulische Bildung von Kindern zwischen 0 und 4 Jahren. «Es braucht beides: Wir können nicht nach Tagesschulen schreien und nicht in Kitas investieren», sagt Stern.
Tagesschulen setzen spät an
Ein Verfechter der Bildung im Vorschulalter ist der Integrationsexperte Thomas Kessler. Er war lange Integrationsbeauftragter des Kantons Basel-Stadt und entwickelte das Integrationsmodell «Fördern und Fordern ab dem ersten Tag». Kessler plädiert für die gezielte Förderung von Kindern und Familien im Zeitraum zwischen Familienplanung und Kindergarteneintritt. Gegen die Tagesschule spricht er sich nicht aus, sie leiste einen wichtigen Beitrag «zur modernen städtischen Gesellschaft». Mit der Zielsetzung der Tagesschule dürfen einfach keine falschen Hoffnungen punkto Bildungschancen geweckt werden: «Wir müssen ehrlich sein, was die Tagesschule kann und was nicht: Sie ist wichtig für die Gleichstellung, mehr Frauen werden arbeiten gehen. Geht es uns aber um Integration, Bildungschancen und -gerechtigkeit, so brauchen wir auch Projekte, die früher ansetzen.»
Stern scheint weniger besorgt um Hoffnungen, die nicht erfüllt werden können: «Klar, es ist unbestritten, dass frühe Förderung effizient ist. Je früher desto besser. Aber die Tagesschule ist ein Teil einer Kette und diese gilt es auszubauen.»
Das BIP und der Lohn wachsen
Zu Tagesschulen gibt es nur wenige Studien. Zu frühkindlicher Bildung hingegen viele: Diverse Untersuchungen kommen zum Schluss, dass frühe Förderung einen positiven Effekt auf die soziale Integration, Sprachkenntnisse, Bildungschancen und schlussendlich auf die Volkswirtschaft hat.
Investitionen in die Förderung von Kindern zwischen 0 und 4 Jahren lohnen sich auch finanziell. So liegt beispielsweise der zukünftige Lohn von Kindern aus bildungsschwachen Familien, die eine Kita oder Tagesfamilie besucht haben, 4 Prozent höher. Auch das BIP wächst jährlich um 3,4 Milliarden Franken, wenn alle Effekte zusammengenommen werden, wobei die zusätzlichen Aufwendungen für die ausgebaute Betreuung bereits einbezogen sind. Zu diesem Schluss kam eine Untersuchung des Forschungsunternehmens BAK Economics. Martin Eichler, Chefökonom beim BAK, spricht von zwei zentralen volkswirtschaftlichen Nutzen, wenn Kinder im frühen Alter extern – qualitativ gut – betreut werden. Der kurzfristige Effekt sei, dass Eltern mehr arbeiten gehen, der langfristige, dass Kinder besser integriert sind. «Frühe Förderung trägt zu besseren Bildungschancen bei», sagt Eichler.
Kann man seine Resultate auf die Tagesschule adaptieren? Nicht eins zu eins. Die Wirkungsmechanismen der Tagesschule und der frühen Förderung seien zwar vergleichbar, aber auch Eichler geht davon aus, dass die Investitionen im jungen Alter bessere Effekte erzielen. «Das heisst aber nicht, dass Tagesschulen schlecht sind. Schlussendlich ist jeder positive Effekt positiv – sowohl für das Kind als auch für die Wirtschaft.» Für eine genaue Berechnung seien die Tagesschulen in der Schweiz aber zu wenig erforscht.
Frühe Förderung: Zürich investiert bereits viel
Die Expert:innen sind sich zudem einig, dass nur durch eine qualitativ gute Tagesschule die Ziele erreicht werden können. Und ein solcher Ausbau des Schulsystems kostet: Die Stadt Zürich budgetiert mit der günstigen Stadtrat-Variante 75 Millionen, mit der teuren Gemeinderatsvorlage 126 Millionen. Wie Zahlen zeigen, steht dieser Ausbau im Verhältnis zu den Investitionen im Bereich der frühen Förderung und ist somit im Sinne der Expert:innen: Die jährlichen Investitionen in die frühe Förderung werden in den nächsten Jahren von aktuell rund 5 Millionen Franken auf 5.7 Millionen Franken ansteigen, heisst es auf Nachfrage bei der Stadt. Hinzu kommen die Kosten für die subventionierte Kinderbetreuung, die die Stadt Zürich im Jahr 2021 rund 90 Millionen Franken kostete.
Dass diese Förderung wichtig ist, zeigen verschiedene Untersuchungen: 40 Prozent der Kinder in Zürich sprechen nicht gut Deutsch, wenn sie in den Kindergarten kommen, heisst es beispielsweise in der Sprachstandserhebung 2021. Um dem entgegenzuwirken, gibt es spezielle Kitas, in denen Kindern Deutsch beigebracht wird. Ebenfalls wendet sich die Fachstelle Frühe Förderung eineinhalb Jahre vor Kindergarteneintritt an die Erziehungsberechtigten: Sie müssen einen Fragebogen ausfüllen, der dann die Sprachniveaus der Kinder erhebt.
Und auch auf kantonaler Ebene ist man bedacht darauf, allen Kindern gute Startchancen zu bieten. Der Regierungsrat hat im vergangenen Juli eine Gesetzesänderung beschlossen, die das Angebot frühkindlicher Bildung stärken soll und Eltern finanziell entlastet. Gemeinden sollen beispielsweise künftig mindestens ein Drittel der Kita-Kosten übernehmen und Gemeinden sollen durch Subventionen dazu angeregt werden, Programme zur Sprachförderung anzubieten.
Die perfekte Tagesschule? Eine Illusion
Wie sich die Tagesschule auf die Bildungschancen für Stadtzürcher Kinder und Jugendliche auswirkt, dazu können die Expert:innen also momentan nur vage Annahmen treffen, der Tenor ist aber klar: Die Tagesschule ist eine gute Sache. Ein wichtiger Ausbau des jetzigen Systems, der sich mittel- bis langfristig auszahlen wird. So hofft man jedenfalls.
Susanne Stern spricht gar von einem «Kulturwandel». Einer, der seine Zeit benötigt: «Dass wir sofort die perfekte Tagesschule haben, ist eine Illusion.» Dieser Wandel unter den jetzigen Rahmenbedingungen wie etwa der Pandemie, alten schulischen Infrastrukturen oder Fachkräftemangel würde viel von den Lehr- und Betreuungspersonen einfordern. Ein generelles Umdenken sei nötig. Aber: «Zürich macht mit der Tagesschule eine wichtige Pionierleistung», sagt Stern.