Christoph Riedweg (GLP): «Wenn die Lohnschere derart auseinanderklafft, so hat dies soziale Sprengkraft»
Im Februar 2023 wählt der Kanton Zürich sein Parlament neu. Im Zuge dessen stellen wir aus jeder Partei eine spannende Person vor, die kandidiert sowie in der Stadt Zürich lebt. Der GLP-Politiker Christoph Riedweg erzählt, weshalb er mit seinem Gerechtigkeitssinn bei den Grünliberalen und nicht bei der SP gelandet ist.
Lara Blatter: Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, für die GLP zu politisieren?
Christoph Riedweg: Weil mir der Wahlkampfslogan «Liberal, aber mit Gemeinsinn. Natürlich geht das» regelrecht aus dem Herzen gesprochen ist. Zur GLP bin ich 2018 über die Operation Libero um Flavia Kleiner gestossen. Die Partei hat in meinen Augen die richtige Mischung, wenn es um die enormen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft geht. Sie ist Pionierin im Klimaschutz – und setzt zugleich auf das Innovationspotenzial der Wirtschaft. Sie steht für eine offene, chancengerechte Gesellschaft, in der man Verantwortung füreinander trägt – und in der zugleich jede:r einzelne die grösstmögliche individuelle Freiheit hat. Sie will nicht spalten, sondern die gesellschaftlichen Kräfte bündeln, um über Parteigrenzen hinweg die Zukunft kreativ zu gestalten. Ausserdem überzeugt mich das Personal der GLP, auf Bundes- genauso wie auf Kantons- und Gemeindeebene, von unserer tollen Kreispartei 7&8 ganz zu schweigen.
Was war Ihr grösster politischer Misserfolg?
Bei der letzten Bologna-Reform 2016 kämpfte ich zusammen mit vielen Kolleg:innen und Studierenden dagegen an, dass das zweite Nebenfach abgeschafft wird. Leider erfolglos. Das war und ist universitätspolitisch ein arger Verlust an interdisziplinärer Originalität und Weite der Perspektiven, zumal für Geisteswissenschaften.
Wohnen ist in der Stadt Zürich ein allgegenwärtiges Thema. Wie wohnen Sie und wie viel zahlen Sie für Ihre Bleibe – oder sind Sie gar Eigentümer?
Ich wohne seit 1996 in derselben 4-Zimmer-Wohnung plus Gartenzimmer im Klusquartier und bezahle im Augenblick monatlich 3180 Franken ohne Nebenkosten.
Welche Themen wollen Sie in den kommenden vier Jahren aufs politische Parkett bringen?
Im Zentrum steht fraglos die Umwelt: Es ist höchste Zeit, gemeinsam das Steuer herumzureissen, nicht zuletzt für die Generation unserer Kids – und dabei zugleich die Chancen zu nutzen, welche die überfällige Transformation auch wirtschaftlich eröffnet. Voraussetzung dafür ist, dass wir unserer fein ausdifferenzierten Bildungslandschaft Sorge tragen, mit der höheren Berufsbildung als tragendem Pfeiler, ohne den das Erfolgsmodell Schweiz nicht vorstellbar wäre. Die Hauptschwerpunkte meiner politischen Arbeit sollen also Klima-, Energie- und Verkehrs-, aber genauso auch die Bildungs- und Kulturpolitik sein. In allem ist darauf zu achten, dass auch die sozial Schwächeren mitgenommen werden und nicht einzelne Interessen, sondern das Gemeinwohl im Fokus steht.
Die Strassen Zürichs sind ein hart umworbenes Pflaster. Wie sind Sie in der Regel in der Stadt unterwegs?
Fast immer mit dem Velo – das schnellste und angenehmste Verkehrsmittel, auch wenn die Qualität der Velowege teilweise noch zu wünschen übrig lässt.
Vor wenigen Wochen haben wir die Züri Awards verliehen. Wen würden Sie zur:zum Zürcher:in des Jahres 2022 küren und weshalb?
Schwester Ariane Stocklin vom Verein Incontro. Sie tut zusammen mit Pfarrer Karl Wolf und vielen anderen unglaublich viel Gutes für Menschen am Rande der Gesellschaft – während der Corona-Zeit, aber auch darüber hinaus.
Oder der ETH-Professor Aldo Steinfeld. Er ist der geistige Vater der Startups Climeworks und Synhelion. Durch innovative Verfahren entziehen diese der Luft CO2 beziehungsweise stellen aus CO2 und Wasser mittels Sonnenenergie synthetische Kraftstoffe her. Steinfeld gibt mir so Hoffnung, dass Forschung und Technik substantiell zur Bewältigung der Klimakrise beitragen können.
Auf der Kampagnenseite der GLP heisst es, dass Sie in der Antike Impulse für morgen finden. Wo finden Sie solche für Zürich?
Die Impulse stammen hauptsächlich aus der politischen Philosophie und allgemein dem Nachdenken über die Situation des Menschen, im Spannungsfeld zwischen Selbstüberschätzung und ohnmächtiger Verzweiflung. Dabei wird zu Recht die Rolle von Erziehung und Bildung für ein gelingendes Leben betont: Nur wenn jeder und jede im Laufe des Bildungsgangs die individuell richtige Förderung bekommt und auch ethisch sensibilisiert wird, kann das Individuum sein Potential realisieren und später seinen Teil zum Wohlergehen der Gemeinschaft als Ganzes beitragen. Daher kommt für mich auch hier in Zürich der Bildung höchste Priorität zu.
«Das Ziel der Klimaneutralität wird zwangsläufig tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen mit sich bringen.»
Christoph Riedweg (GLP)
Um ebenfalls aus der Antike solche Impulse zu schöpfen, welche Lektüre würden Sie empfehlen?
Eine Fundgrube ist das sokratische-platonische Denken, wie es in Platons Dialogen zum Ausdruck kommt. Aber auch Aristoteles’ ethische und politische Analysen, Sophokles’ Tragödie Antigone, Senecas und Mark Aurels Reflexionen haben enormes Anregungspotential, sowohl für das eigene Leben als auch für das Gemeinwesen.
In einem Text, der in Ihrem Sammelband «Philosophie für die Polis» oder auch der NZZ erschienen ist, schreiben Sie ebenfalls über die Philosophen Platon und Aristoteles und über Besitzverhältnisse. «Jeder Bürger soll ein einziges, unveräusserliches Landlos zugeteilt bekommen, und im Hinblick auf das übrige Vermögen wird der Faktor 4 als Obergrenze bestimmt – nur so lasse sich eine Spaltung im Innern, die gleichermassen von schlimmer Armut wie auch von Reichtum erzeugt werde, verhindern», heisst es darin. Sind das nicht etwas sozialistische Ansichten für einen GLP-Politiker?
Über Zahlen kann man immer streiten, und Äusserungen wie diese sind nie eins zu eins zu übertragen, vielmehr muss den veränderten Verhältnissen Rechnung getragen werden. Unstreitig scheint mir, dass wir in den 90er-Jahren im Gefolge historischer Veränderungen eine zunehmende Entfesselung des Finanzkapitalismus erlebten, mit der Verabsolutierung des Shareholder-Values und der unkritischen Übernahme des amerikanischen Lohnmodells als Kennzeichen. Dabei ist auch bei uns einiges durcheinander geraten.
Wenn die Lohnschere zwischen Arbeitnehmenden und den Topmanager:innen derart krass auseinanderklafft, wie es vor 2008 besonders ausgeprägt der Fall war, so hat dies enorme soziale Sprengkraft. Gute Politik hingegen, das hat bereits Platon betont, zielt auf Interessenausgleich und Kohäsion im Innern. Sie versucht sicherzustellen, dass «jedem das Seine zukommt» – dies die sokratische Definition von Gerechtigkeit – und dass alle dieselben Chancen haben, ihre Fähigkeiten zu entfalten. Ganz unabhängig davon, woher jemand kommt.
Brauchen wir soziale Umverteilung, um zukunftsfähig zu bleiben?
Das Ziel der Klimaneutralität wird zwangsläufig tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen mit sich bringen. Da ist viel politische Klugheit gefragt. Innovative Lösungen, wie sie Frankreich bei den Erneuerbaren erprobt hat, könnten dabei leitend sein: Staatliche Anreize und Stützmassnahmen beschleunigen die Transformationsprozesse, zugleich werden sie um die Verpflichtung der Nutzniesser:innen ergänzt, eventuelle Übergewinne ab einer gewissen Höhe wieder an die Gemeinschaft zurückfliessen zu lassen. Auch im wirtschaftlichen Bereich markiert insofern der Slogan der GLP «Liberal, aber mit Gemeinsinn. Natürlich geht das» aus meiner Sicht genau die richtige Balance.