538 Zürcher Ampeln setzen falsche Prioritäten

Menschen zu Fuss haben in Zürich laut unserem Kolumnisten Thomas Hug-Di Lena klar das Nachsehen. Ein Beweis dafür seien sogenannte Bettelampeln, bei denen sich Fussgänger:innen den Vortritt erbitten müssen.

Ampel
Vortritt auf Verlangen: sogenannte Bettelampeln sind in Zürich keine Seltenheit. (Bild: Thomas Hug)

Kürzlich habe ich eine schöne Entdeckung gemacht. Ein wenig bekanntes Lied des Schweizer National-Troubadours brachte mich ins Stolpern. Stolpern trifft es gut, denn nicht wie bei der sonst üblichen Liftmusik, hat es meine Gedanken länger beschäftigt. In dem Lied «Nei säget sölle mir» besingt Mani Matter die Monotonie und Einschränkungen des städtischen Lebens. Menschen müssen auf die «Erlaubnis» eines grünen Lichts warten, um eine Strasse überqueren zu dürfen – wer es nicht tut, wird überfahren. 

Die Banalität dieser Metapher liess mich etwas verwundert zurück – Ampeln scheinen doch gerade in der Stadt eine Selbstverständlichkeit zu sein.

Sind Ampeln Ausdruck der Unterdrückung des Menschen zu Fuss vom modernen Automobil? Müssen wir uns die Grünzeiten tatsächlich von ihm erbitten, um lebendig über die Strasse zu kommen?

Beim zweiten Hinsehen erscheint der Gedanke nicht mehr so abwegig. Ampeln versprechen zwar den Fussgänger:innen Schutz, in den meisten Fällen stellen sie aber primär die Vorfahrt der motorisierten Zeitgenossen sicher. Denn die Ampeln nehmen den Leuten zu Fuss den Vortritt an Zebrastreifen, den sie sonst in der Schweiz per Gesetz immer hätten.

Besonders deutlich wird dies bei den sogenannten Bettelampeln – hier müssen die Menschen zu Fuss mit den orangen Tastern um Grünzeit bitten. Viele Städte, die sich der Verkehrswende verschrieben haben, haben dieses Paradoxon in der Prioritätensetzung noch nicht erkannt. Wenn die aktive Mobilität, zu Fuss und mit dem Velo, die Basis der urbanen Fortbewegung sein soll, erscheint es sonderbar, dass sie dafür bitten müssen, eine Strasse überschreiten zu dürfen.

Zürich gehört auch zu jenen Städten, die an den orangen Leuchttastern festhalten wollen. Im vergangenen Jahr sind an verschiedenen Orten neue Bettelampeln installiert worden – eine besonders grosse Anlage beispielsweise an der Birmensdorferstrasse. Eine genaue Statistik zur Zunahme führt die Stadt Zürich nicht. Inzwischen sollen aber rund 538 Ampeln mit «Anmelde-Drücker» ausgestattet sein. Bestrebungen, dies zu reduzieren, scheint es in Zürich nicht zu geben – im Gegenteil: An Schulwegen sollen mehr davon installiert werden.

Dass es anders ginge, zeigen verschiedene europäische Beispiele. In Delft beispielsweise gibt es Kreuzungen, wo sich der Autoverkehr anmelden muss, um das grüne Licht zu erhalten.

Eine solche Umkehrung der Prioritäten ist inzwischen technisch dank Kameras deutlich einfacher umsetzbar. Eine ähnliche Lösung wäre auch auf Zürcher Schulwegen denkbar: Autos melden sich für ihre Grünzeit an, wenn die Ampel während der Schulzeiten aktiviert ist. In Zürich regeln über 5000 Detektoren den Verkehr – bei Schulwegen sieht man aber von solchen innovativen Lösungen ab.

In Konstanz gibt es noch einfachere Ansätze. Sie nennen sich Dunkel-Ampeln. Diese sind grundsätzlich ausgeschaltet, das heisst Menschen zu Fuss dürfen die Strasse auch queren, ohne die Ampel zu aktivieren. Wer mehr Sicherheit wünscht, kann sich die Ampel zuschalten. In Hamburg laufen erste Versuche mit Dauergrün für Menschen zu Fuss – eine Wärmebildkamera erfasst anfahrende Autos und schaltet ihnen nur bei Bedarf den Weg frei.

Einen anderen Weg geht New York, die selbsternannte Hauptstadt des sogenannten Jaywalkings. Es bezeichnet das illegale Überqueren einer Strasse ausserhalb markierter Übergänge oder bei roter Ampel.

Bis vor Kurzem wurde es mit saftigen Bussen bestraft – seit wenigen Monaten ist es in New York legal, bei Rot über die Strasse zu gehen. Die Zebrastreifen-Ampel wird so vielleicht etwas mehr Hilfsmittel für Menschen zu Fuss statt Kontrollinstrument der städtischen Ordnung.

Das erwähnte Lied hat Mani Matter übrigens vor über fünfzig Jahren geschrieben. Sein Lied soll uns auch heute noch Warnung sein, dass wir die Strassen nicht ihrer Eigendynamik als Verkehrsräume überlassen. Sondern dass sie wieder mit Leben gefüllt werden, das die Vielfalt des städtischen Lebens widerspiegelt. Damit die Troubadours von heute nicht mehr über die Herrschaft der Ampeln singen müssen.

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