365-Franken-Abo: Die Krux mit der ÖV-Verbilligung
In einer Woche stimmt die Stadtbevölkerung über die 365-Franken-Initiative ab und entscheidet darüber, ob der öffentliche Verkehr massiv vergünstigt werden soll. Die Vorlage werde als verkehrspolitische Errungenschaft statt Sozialpolitik verkauft, kritisiert Thomas Hug in seiner Kolumne.
Zürich erlebt einen verkehrspolitischen Herbst der Superlative. Erst kommen in zwei Wochen die ÖV-Initiative und die Parkkartenverordnung an die Urne – letztere der überfällige Biss in den sauren Apfel, über den ich bereits vor einem Jahr geschrieben habe.
Dann folgt Ende November der absolute Endgegner: die sogenannte «Mobilitätsinitiative», die in Wahrheit ein Tempo-30-Verbot festsetzen will. Wem die Gesundheit der Stadt am Herzen liegt, merkt sich den Termin schon mal vor. Es wird jede Stimme brauchen, um diese kantonale Verbotspolitik zu stoppen.
Zwischen diesen Schwergewichten droht die 365 Franken-ÖV-Initiative fast unterzugehen – dabei verdient auch sie unsere Aufmerksamkeit. Sie kommt sympathisch daher: 365 Franken fürs Jahresabo, ein Franken pro Tag für unbegrenzte ÖV-Mobilität. Zumindest in der Stadt Zürich für die Stadtzürcher:innen. Wer könnte da schon Nein sagen?
Die Logik der Initiative klingt bestechend einfach: Machen wir den ÖV billiger und die Leute steigen um. Doch die internationale Bilanz solcher ÖV-Experimente liest sich wie ein Lehrbuch für unbeabsichtigte Konsequenzen.
Die Hauptstadt von Estland, Tallinn, wagte 2013 das radikale Experiment mit komplett kostenlosem ÖV. Das Resultat? Die meisten neuen Fahrgäst:innen kamen vom Fussverkehr oder Velo, nicht vom Auto. Die Blechlawine rollte nahezu wie gehabt weiter.
Luxemburg wiederholte 2020 das Experiment landesweit. Die Zahlen stiegen zwar um 12 bis 18 Prozent, die Staus aber blieben praktisch unverändert und die CO2-Einsparung war marginal.
Selbst Wien, wohl die Inspirationsquelle der Initiant:innen, erzählt eine andere Geschichte. Das 365-Euro-Ticket in der österreichischen Hauptstadt funktionierte nur, weil parallel hunderte Millionen in neue U-Bahnen und dichtere Takte flossen. Nun wird der Preis wieder um rund 100 Euro erhöht – das Experiment mit dem 365-Euro-Ticket liess sich nicht mehr finanzieren.
«Die Stadt sollte die 400 Franken direkt an die Bevölkerung verteilen, statt den ÖV als Plattform dafür zu nutzen.»
Thomas Hug-Di Lena
Hier liegt der Denkfehler: Die 365-Franken-Initiative verspricht mehr Nachfrage, ohne zusätzliches Angebot zu schaffen. Mehr Nutzer:innen, aber gleich viele Fahrzeuge und Strecken.
Das Resultat sind vollere Trams und Busse, längere Fahrzeiten und frustrierte Passagier:innen. Der städtische ÖV – vielerorts schon heute am Anschlag – dürfte so einen Teil seiner Attraktivität verlieren. Ohne Einbezug der Agglomerationen und deren Bevölkerung macht das 365-Franken-Abo nur begrenzt Sinn, so sagte das auch kürzlich die ETH-Professorin Eva Heinen.
Menschen steigen nicht primär wegen des Preises um. Entscheidend sind Pünktlichkeit, Komfort, direkte Verbindungen. Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) bestätigt dies in einer Studie: Angebotsverbesserungen wirken stärker als Preisreduktionen.
Die 365-Franken-Initiative wird als verkehrspolitische Vorlage verkauft, ist aber in Wahrheit Sozialpolitik. Das ist durchaus legitim in einer Stadt, wo die Lebenshaltungskosten immer weiter steigen. Allerdings würden hier primär die 38 Prozent der Stadtbevölkerung mit bestehenden ÖV-Abos profitieren.
Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht, gibt es einen einfacheren Weg: Die Stadt sollte die 400 Franken direkt an die Bevölkerung verteilen, statt den ÖV als Plattform dafür zu nutzen. Dann profitieren alle gleichermassen – auch jene, die kaum ÖV fahren, weil sie lieber zu Fuss oder mit dem Velo unterwegs sind. Gleichzeitig bliebe der öffentliche Verkehr von den negativen Folgen der Übernachfrage verschont.
Als verkehrspolitische Massnahme taugt die Initiative hingegen nicht. Menschen steigen nicht wegen günstiger Preise um, sondern wegen besserer Qualität. Dafür braucht es Investitionen in Infrastruktur, nicht in Rabatte.
Am Ende ist billiger ÖV wie ein Energy-Drink: Der Kick ist real, aber der schale Nachgeschmack hält länger an.
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