«Gesundheit ist immer eine Investition in die Menschen»

Die Ärztin und Psychiaterin Maja Hess ist Hauptrednerin der diesjährigen 1. Mai-Veranstaltung in Zürich. Im Interview erzählt sie, warum die Gier nach stetigem Wachstum uns krank macht.

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Maja Hess kämpft seit 40 Jahren für eine globale Gesundheitsversorgung. (Bild: Noëmi Laux)

Noëmi Laux: Unser kapitalistisches System basiert auf Wachstum. Sie kritisieren, dass das ständige Streben nach mehr unsere Lebensgrundlagen zerstört. Würden Sie sich als Antikapitalistin bezeichnen?

Maja Hess: Politisch ideologisch ja, aber ich lebe in einem kapitalistischen System und profitiere auch davon. Was klar ist: Der Kapitalismus basiert auf einem permanenten Wachstumsmodell, das auf unbegrenztem Ressourcenverbrauch und endlosem Konsum beruht. Aus unserer westlichen Sicht funktioniert das wunderbar, weil die Mehrheit von uns auf der Sonnenseite dieses Systems lebt. Gleichzeitig macht es mir Angst und ich lehne dieses System ab, weil die Welt daran kaputt geht. Bislang gibt es jedoch kein nationales Gegenmodell zum Kapitalismus, das langfristig funktioniert und nicht von den kapitalistischen Systemen zerstört und bekämpft wird.

Nach Ihrem Medizinstudium sind Sie Mitte der 80er-Jahre als junge Ärztin nach Mittelamerika gereist. Was hat Sie damals bewogen, die Schweiz zu verlassen? 

Ich hatte das Gefühl, dass ich es mir hier im reichen Westen nicht einfach gemütlich machen kann, solange es Menschen gibt, die viel mehr auf medizinische Versorgung angewiesen sind als wir hier in der Schweiz. Das klingt vielleicht etwas plump, aber ich wollte einfach den Menschen helfen, denen es schlechter geht als uns. Als ich von der Revolution erfahren habe, bin ich nach Nicaragua und habe dort auf einer staatlichen Kaffeeplantage als Ärztin gearbeitet. Damals war ich fest davon überzeugt, dass die Revolution Gerechtigkeit herstellt, in jeder Hinsicht. Rückblickend war das natürlich utopisch, aber mein Glaube an Gerechtigkeit war schon sehr früh sehr stark. Meine eigene Herkunft spielt da aber sicher auch eine grosse Rolle.

Inwiefern?

Ich komme nicht aus einer Akademikerfamilie, wir lebten in sehr einfachen Verhältnissen. Als ich dann plötzlich mein Medizinstudium in der Tasche hatte, habe ich mich gefragt, wer ich als Ärztin eigentlich sein will. Mir wurde bewusst, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass ich studieren konnte. Ich denke, dieses Bewusstsein, gepaart mit einem tiefen Gerechtigkeitsempfinden, hat schliesslich zu meinem Entschluss geführt, die Schweiz zu verlassen. 

Als Präsidentin von Medico International Schweiz setzen Sie sich nicht nur politisch für das Menschenrecht auf Gesundheit ein, sondern reisen als Ärztin noch immer regelmässig in Krisen- und Kriegsgebiete. Zuletzt waren Sie im vergangenen Herbst in Nordsyrien. Was haben Sie dort erlebt?

Ich war im Nordosten von Syren, in Rojava und habe mit dem dortigen Kurdischen Roten Halbmond vor allem im psychosozialen Bereich gearbeitet; mit Kriegsversehrten, Betreuer:innen von Waisenkindern, Gesundheitspersonal und Medizinstudent:innen. Ausserdem haben wir gemeinsam Projekte von medico mit dem Kurdischen Halbmond begleitet.

Können Sie von einem Projekt erzählen?

In Rojava versucht die kurdische Bewegung, mit einem konföderalen, basisdemokratischen System die Bevölkerung in wichtige Entscheidungen einzubeziehen und ein multiethnisches und multireligiöses Zusammenleben zu ermöglichen. Das ist übrigens auch ein spannender alternativer Ansatz zum Kapitalismus, der sich an den konföderalen Strukturen der Schweiz orientiert. 

Sie wirken sehr entschlossen. Was treibt Sie an?

Wir haben das Gefühl, dass die Welt so ist, wie wir sie hier im Westen sehen. Ich finde es sehr befreiend, aus diesem engen Blickwinkel, aus dieser weissen Arroganz herauszukommen. Die Zeit in Nicaragua hat mir geholfen, die Welt, die Menschen und gewisse Prozesse besser zu verstehen. Ich habe gelernt, dass auf historisch erfolgreiche Momente tiefe Niederlagen folgen können. Dass man mühsam etwas aufbaut, das dann wieder zusammenbrechen kann und dass es wehtut. Dennoch wäre ich ohne all die Kämpfe, den Widerstand und die Erfahrungen, die ich gemacht habe, nicht der Mensch, der ich heute bin.

In Ihrem Kommentar in der 1. Mai-Zeitung schreiben Sie, dass unsere kapitalistische Wirtschaftsstruktur vielen Menschen auf der Welt den Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung verwehrt. Inwiefern hängt das zusammen?

Es ist eine Tatsache, dass Menschen aus ärmeren Regionen schlechteren Zugang zu wichtigen Medikamenten haben, was hauptsächlich am Patentschutz liegt. Grosse Pharmakonzerne blockieren über die Preise den Zugang zu notwendigen Medikamenten für die Bevölkerung des globalen Südens. 

Können Sie ein Beispiel nennen?

Kuba hat erfolgreich allen Bürger:innen den Zugang zu einem Gesundheitssystem ermöglicht, versucht selbst Generika herzustellen, wo immer möglich. Aber gerade in der Krebsmedizin wurde dieser Erfolg wegen profitorientierten Pharmaunternehmen nur teilweise erzielt. Denn nur wenige Medikamente sind als Generika erhältlich. Viele Betroffene können sich die benötigten Medikamente nicht leisten. Das Paradoxe ist, dass Pharmafirmen in Indien, Brasilien oder Südafrika Generika zwar herstellen könnten und auch die Kapazitäten dazu hätten. Aber solange die Medikamente unter Patentschutz stehen, sind ihnen die Hände gebunden. Ein Beispiel: Um die «sogenannten» HIV Medikamente wurde ein heftiger Kampf geführt, bis der Zugang zu den überlebensnotwendigen Präparaten allen Menschen gewährleistet werden konnte. Bis das möglich war, mussten Millionen Menschen in Afrika sterben. Das ist ein kaum vorstellbares Verbrechen an der Menschheit.

Sie sagen, wenn die Gesundheit ein profitables Gut wäre, würde mehr in sie investiert werden?

Unser kapitalistisches System funktioniert nur, solange Wachstum generiert wird. Das Gesundheitssystem schafft aber keinen Mehrwert, ausser eben die Gesundheit. Diese bringt, zumindest kurzfristig, keinen monetären Gewinn. Gesundheit ist immer eine Investition des Staates in die Menschen. Aber statt Geld dafür auszugeben, haben viele Staaten höhere Budgets für das Militär und Kriege. 

Gleichzeitig hat sich die Lebenserwartung seit Beginn der Industrialisierung mehr als verdoppelt.

Bei uns ja, aber auf einen Grossteil der Menschen auf dieser Erde trifft das nicht zu. Kriege, schlechte Ernährung und Gewalt führen dazu, dass immer mehr Menschen im globalen Süden an Diabetes oder psychischen Störungen erkranken. Ausserdem: Nicht das System hat unsere Gesundheit massiv verbessert, sondern der Zugang zu sauberem Trinkwasser, ausreichender Ernährung und genereller Hygiene. Darüber hinaus spielen Impfungen eine entscheidende Rolle, ebenso wie die Entdeckung von Antibiotika. Diese Faktoren sind die Hauptgründe dafür, dass wir heute viel länger leben. Es liegt nicht primär an der Spitzenmedizin. Sicherlich profitieren wir von ihr, aber sie allein führt nicht zwangsläufig zu einem längeren Leben. 

Sie haben es zu Beginn des Interviews selbst gesagt: Die Abschaffung des Kapitalismus ist utopisch, weil es bislang kein mehrheitsfähiges Gegenmodell gibt. Wäre eine radikale Reform des Kapitalismus nicht zielführender als die gänzliche Abschaffung zu fordern?

Nein. Der Kapitalismus an sich basiert auf Ausbeutung. Natürlich mildert ein funktionierender Sozialstaat die Folgen für ärmere Bevölkerungsschichten. Was ich jedoch faszinierend finde, sind die lokalen Ansätze anderer Gesellschaftsformen, wie zum Beispiel die zapatistischen Gemeinden in Chiapas im Süden Mexikos. Sie versuchen, sich auf alternative Weise zu organisieren und zu überleben. Das Hauptziel ist es, allen Mitgliedern der Gemeinschaft Zugang zu Nahrung und Wasser zu gewährleisten. Gemeinsam schützen sie ihr eigenes Territorium vor Ausbeutung, wie etwa den Schutz ihrer Wälder. Sie haben ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass man die natürlichen Ressourcen nicht rücksichtslos ausbeuten kann, ohne die Konsequenzen dafür zu tragen. Diese Initiativen sind nicht an ein nationales Bewusstsein gebunden und zeichnen sich durch ihren starken Antikapitalismus aus.

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