Zwischen Überstunden und Kriegs-Traumata: Zürcher Schulen am Limit

Der Personalmangel an den Zürcher Schulen ist sowieso schon gross, hinzu kommen ukrainische Schüler:innen. Wie können diese integriert werden mit einem Personalmangel so gross wie noch nie? Wir waren zu Besuch im Schulhaus Schanzengraben. Über die Arbeit mit traumatisierten Kindern und das Berufsbild Lehrer:in, das immer unattraktiver wird.

Schanzengraben
Das Schulhaus Schanzengraben steht mitten im Zürcher Bankenquartier. (Bild: Alice Britschgi)

Das «Schanzi» steht wahrhaftig wie eine Burg am Wassergraben im alten Stadtkern von Zürich. Einen Steinwurf vom grauen Bankensektor entfernt, findet sich da plötzlich eine ganz andere, verspielte Welt. Rund 200 Schüler:innen im Kindergarten- und Primarschulalter strömen täglich ein und aus und verleihen dem historischen Gebäude Leben. Schulleiterin Georgina Bachmann musste sich bis vor Kurzem nie um zu wenige Bewerbungen sorgen. Doch auch ihr fehlt aktuell Personal. Offene Stellen bleiben lange unbesetzt. 

Aufgrund des akuten Lehrer:innenmangels, der auch im Kanton Zürich herrscht, hat die Bildungsdirektion eine Reihe von Massnahmen eingeführt: Unterrichten dürfen nun auch Personen ohne anerkanntes Lehrdiplom sowie vorzeitig eingesetzte Studierende der Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH). Die Berufsverbände sind alles andere als begeistert. Der Dachverband Lehrer:innen Schweiz und der Zürcher Lehrer:innenverband (ZLV) kritisieren den eingeschlagenen Kurs scharf. Auch für Bachmann ist klar: «Die pädagogische Qualifikation ist für die Arbeit mit Kindern zentral. Bevor ich jemanden einstelle, der:die nicht minimal in Pädagogik ausgebildet ist, stehe ich zuerst selbst vor die Klassen.»

«Die Unsicherheit ist immer da. Wir wissen nie, was kommt und müssen auf alles vorbereitet sein»

Georgina Bachmann, Schulleiterin Schanzengraben

Auch andere Lehrer:innen im Schanzengraben sind bereit,  ihre Pensen zu erhöhen – trotz lange erreichter Kapazitätsgrenzen. Im bestehenden Schulteam hat man die vorhandenen Optionen aus der Krise ausführlich diskutiert. Auch Kandidat:innen ohne Lehrzeugnis wurden zu Gesprächen eingeladen, am Ende aber nicht eingestellt. Die Schulleiterin erklärt: «Fachfremde Personen ohne schulischen Hintergrund neu einzuarbeiten, hätte zu Mehraufwand für uns geführt. Da ist es weniger belastend, selbst mehr Schule zu geben.» Die Anstellung von Student:innen der PHZH könnte aber eine Lösung sein. Bachmann: «Auch das bleibt anspruchsvoll fürs bestehende Schulteam. Aber angehende Lehrpersonen haben immerhin eine didaktische Grundausbildung und sind begleitet durch die PHZH. Das prüfen wir momentan.»

Um neu rekrutierte Lehrpersonen zu unterstützen, hat die PHZH Weiterbildungen aufgegleist. Das anerkennt Bachmann, räumt aber ein: «Man macht nicht umsonst ein Studium, um die Lehrbefähigung zu bekommen. Ich habe grosse Bedenken, wie Personen ohne dieses gut begleitet werden können und wie sie den Ansprüchen an sie gerecht werden wollen.»

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Schanzengraben-Schulleiterin Georgina Bachmann. (Bild: Alice Britschgi)

Herausforderung durch ukrainische Schüler:innen

Mit der zunehmenden Zahl ukrainischer Geflüchteten fällt die Kreisschulbehörde Zürichberg Mitte März einen folgenreichen Entscheid: Ein grosser Teil der Kinder von ukrainischen Geflüchteten aus den Stadtkreisen 1, 7 und 8 soll gesammelt in der Schuleinheit Hirschengraben-Schanzengraben unterrichtet werden. Jetzt müssen zusätzlich Lehr- und Betreuungspersonen gefunden werden, die der ukrainischen Sprache mächtig sind. 

Das Schanzengraben kann dazu auf seine Erfahrung im Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) bauen. Diese Unterrichtsform unterstützt Schüler:innen nichtdeutscher Erstsprache, den Lektionen sprachlich zu folgen. Je eine DaZ-Klasse auf Unter- und Mittelstufe führt das Schanzengraben bereits. Für die Schüler:innen aus der Ukraine ohne Deutschkenntnisse hat man eine eigene weitere Aufnahmeklasse geschaffen. Dort erhalten sie ein Jahr täglich DaZ-Anfangsunterricht, dann wird der Anschluss in einer Regelklasse geprobt. 

Schon nach kurzer Zeit finden sich zwei ukrainische Lehrerinnen mit Status S, zwei weitere für die Betreuung sowie eine Heilpädagogin. 20 ukrainische Schüler:innen zählt die neue Aufnahmeklasse zurzeit. «Gleich zu Beginn hatten wir sehr viele Anmeldungen. Inzwischen hat sich die Situation etwas beruhigt», sagt Bachmann. Auch nachdem die drei Monate vorbei waren, für die sich private Gastfamilien zur Beherbergung von Geflüchteten verpflichtet haben, blieben grosse Wechsel und ein erneuter Ansturm aus. Aber die Wohnsituation der Geflüchteten kann sich schnell ändern. Einige werden in andere Gemeinden, Kantone oder sogar Länder ziehen. «Die Unsicherheit ist immer da. Wir wissen nie, was kommt und müssen auf alles vorbereitet sein», räumt sie ein.

«Die schlimmen Erlebnisse, Trauer und Ängste überwältigen die Kinder immer wieder.»

Catherine Paterson, Fachleiterin Notfallpsychologie & Trauma des SPD

Gerade um den Kindern die eigenen Unsicherheiten zu nehmen, will man ihnen hier eine Perspektive geben. «Wir nehmen an, dass sie längerfristig in der Schweiz bleiben. Deshalb unterrichten wir sie inhaltlich nach dem Lehrplan 21 – wie alle anderen Kinder», sagt Bachmann. Ukrainische Lehrmittel, die vom Lehrmittelverlag Zürich und dem ukrainischen Bildungsministerium kostenlos online angeboten werden, kommen nicht zum Einsatz. Andernorts mag dies Sinn machen, wie im Hirschengraben gleich nebenan. Dort besuchen acht Jugendliche die Sekundarschule und zwei Kleinkinder den Kindergarten.

Hilfe bei Traumata

Kinder, die Krieg und Flucht erleiden, die Zeug:innen von Gewalt werden und vielleicht sogar ihre Liebsten verlieren, erleben ein Trauma. Einige der Neuankömmlinge im Schanzengraben dürften aufgrund ihrer schlimmen Erfahrungen besondere Betreuung benötigen. Wie damit umgehen? Die Schulleitung konnte auf vorhandenes Wissen in ihrem Team setzen. Zwei der Mitarbeiterinnen verfügen bereits über Erfahrungen im Umgang mit Traumata und gaben diese in einem Schnellkurs ans Team weiter. Darin wurde erklärt: «Traumata können sich unmittelbar oder erst nach Wochen im Schulalltag bemerkbar machen. Fehlende Konzentration, beim Unterricht nicht mitkommen, auffällig in sich gekehrt sein, Misstrauen oder gar dissoziative Zustände und aggressives Verhalten – das alles können Anzeichen sein. Es ist wichtig, dass wir bei Verdacht von möglicherweise traumatisierten Flüchtlingskindern an die entsprechenden Stellen weiterverweisen.»

Pädagogische Fragen werden einerseits schulintern besprochen, aber auch die Schulsozialarbeit wird beigezogen. Findet sich keine Lösung, kann die zuständige Schulpsychologin fürs Schanzengraben, Zorana Grošin vom Schulpsychologischen Dienst Zürichberg (SPD), aufgesucht werden. Sie sagt: «Mit mir werden die Fälle vorbesprochen, um zu klären, ob eine weitergehende schulpsychologische Abklärung Sinn macht. Ist diese angezeigt und sind die Eltern einverstanden, folgt die offizielle Anmeldung beim SPD.» 

Matthias Obrist, der Leiter des SPD für die ganze Stadt Zürich, nennt Zahlen: «Schulpsycholog:innen sind jeweils für rund 1150 Schüler:innen verantwortlich. Sieben Prozent aller Schüler:innen in der Stadt Zürich kommen so jährlich mit dem SPD in Kontakt.» Bei Bedarf kann der SPD Therapieplätze vermitteln. So im Fall einzelner Kinder aus dem Schanzengraben. Sie besuchen nun während der regulären Schulzeit eine Stunde jede Woche eine der zurzeit drei geführten Trauma-Gruppen der Stadt Zürich

Catherine Paterson, die Fachleiterin Notfallpsychologie & Trauma des SPD, erklärt: «Zuverlässige Tagesstrukturen wie die Schule vermitteln zwar Stabilität. Doch die schlimmen Erlebnisse, Trauer und Ängste, überwältigen die Kinder immer wieder. Diese müssen sie erst verarbeiten. In den Therapiegruppen werden sie dabei in einem geschützten Rahmen begleitet.» Oft sind die Kinder im Schweigen gefangen. Mit Hilfe von Spielen, Musik und Bewegung lernen sie, ihre Gefühle auszudrücken. Gestalterische Mittel wie Malen oder Trommeln erinnern an gute Zeiten vor den belastenden Erfahrungen. 

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Aus zeitlicher Überlastung reduzieren zahlreiche Lehrpersonen kontinuierlich ihr Pensum. (Bild: Alice Britschgi)

Die Kinder können sich so ihrer neuen Realität langsam annähern und die traumatischen Ereignisse hinter sich lassen. Obrist: «Verhältnismässig wenige Kinder aus der Ukraine nutzen bisher das Angebot. Wir sind daran, dies bei Schulen und Eltern bekannter zu machen und prüfen, eine eigene Gruppe für ukrainische Geflüchtete einzuführen.»

Politisch braucht es Bewegung

Die Schanzengraben-Schulleiterin zeigt sich grundsätzlich motiviert, Herausforderungen anzupacken: «Wir sind ein junges, engagiertes Team und möchten mit unserer Arbeit etwas beitragen.» Damit dies so bleibt, braucht es Bewegung in der Politik. Auch ihr Elan kann kippen. Rund acht Wochen unbezahlte Überzeit leisten Zürcher Volksschullehrpersonen heute im Schnitt, wie Arbeitszeiterhebungen des ZLV zeigen. Aus zeitlicher Überlastung reduzieren zahlreiche Lehrpersonen kontinuierlich ihr Pensum. Immer mehr Lehrpersonen verabschieden sich auch ganz vom Beruf – gemäss dem Bundesamt für Statistik sieben Prozent  pro Jahr. «Die heutige Misere war vorhersehbar», sagt Christian Hugi, der Präsident des ZLV. Er findet für die bisher getroffenen Abhilfen deutliche Worte: «Das sind nur Pflästerli-Massnahmen, die höchstens kurzfristig wirken und bereits mittelfristig der Schule schaden.»

Ohne langfristig wirksame Korrekturen an der Jahresarbeitszeit im Berufsauftrag der Lehrpersonen, wird sich an der Mangelsituation nichts ändern. Schlimmer noch: Die Schulqualität nimmt ab und das Lehrerberufsbild wird weiter unattraktiv. Da die Regierung diesen Zusammenhang negiert, hat sich der ZLV in einem offenem Brief an die Legislative gewandt. Hugi proklamiert: «Wir rufen die Mitglieder der Kantonsrätlichen Kommission für Bildung und Kultur dazu auf, sich aktiv für bessere Arbeitsbedingungen in der Zürcher Volksschule einzusetzen.»

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