Zukunft der Agrarpolitik: Zwischen Kosten, Ökologie und Wettbewerb

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(Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Comet Photo AG (Zürich) / Com_LC0017-003-001 / CC BY-SA 4.0)

Kaum ein Thema ist momentan so umstritten wie die Zukunft der Schweizerischen Agrarpolitik. Das zeigte sich im Abstimmungskampf der beiden Agrarinitiativen im Juni besonders deutlich: Die gegenseitigen Anfeindungen der Lager waren ungewohnt heftig, gipfelten in Angriffen auf Landmaschinen bis hin zu Morddrohungen. Auch der Einsatz, den die Akteur:innen in ihre Kampagnen steckten, war immens. Die Doppel-Nein-Kampagne des Bauernverbands sei die grösste in der Verbandsgeschichte gewesen, schätzte ihr Koordinator im Vorfeld gegenüber dem SRF. Und sie war erfolgreich: Etwas über 60 Prozent der Abstimmenden lehnten die Initiativen letztlich ab.

Bereits zuvor hatte der Bauernverband ein anderes Ziel erreicht: Im März 2021 wurde die schon lange anstehende Agrarreform AP 22+ nach dem Ständerat auch im Nationalrat sistiert. In der NZZ hatte Verbandspräsident Markus Ritter gedroht, bei einem Beschluss der Reform im Ständerat seinerseits das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur zu bekämpfen. Wie damals berichtet wurde, hatte Ritter einen Deal mit den liberalen Kräften ausgehandelt: Der Bauernverband engagierte sich im Gegenzug für die Sistierung gegen die Konzernverantwortungsinitiative.

Der Verband möchte eine Neuverhandlung der Reform erreichen und sie dieses Mal im Kontext einer umfassenderen «Ernährungspolitik» betrachtet sehen, die zum Beispiel auch Lebensmittelimporte und -exporte umfasst. Die Verhandlungen über die AP 22+, die eigentlich per 2022 hätte in Kraft treten sollen, werden nun frühestens im Frühjahr 2023 wieder aufgenommen. Zeit genug, sich die einzelnen Streitpunkte einmal genauer anzuschauen.

Von der Preisgarantie zum Verfassungsartikel

«Die Schweiz ist klein.» So lautet der erste Satz zur Agrarpolitik auf der Website des Bundesamtes für Landwirtschaft. Der Platz für die landwirtschaftliche Nutzung ist also begrenzt. Und weil das so ist, ist Agrarpolitik in der Schweiz schon lange ein Stück weit Ernährungspolitik im Sinne des Bauernverbands, umfasst also auch handelspolitische Strategien.

Bis Anfang der Neunziger Jahre funktionierte das im wesentlichen über garantierte Preise für Landwirtschaftserzeugnisse und handelsprotektionistische Massnahmen zum Schutz der heimischen Erzeugnisse. Zwei Faktoren machten jedoch Reformen notwendig: Zum einen ein gestiegenes Bewusstsein für Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen. Zum anderen der Abschluss der achten Welthandelsrunde, bei der sich die Schweiz zum Abbau von Preisgarantien und Exportsubventionen verpflichtete.

Im Laufe der Neunziger Jahre wurde das System, wie in der EU auch, auf Direktzahlungen umgestellt. Schon seit den 1950er Jahren wurden sie zur Existenzsicherung der Schweizer Bergbauern eingesetzt. Im Gegensatz zu Preisgarantien lassen sich Direktzahlungen gut mit politischen Vorgaben wie Umweltauflagen verknüpfen: In der Schweiz werden sie nur an Betriebe ausgezahlt, die den Ökologischen Leistungsnachweis ÖLN erbringen, einen Minimalstandard für unter anderem Tierhaltung, Düngemittel-und Pestizideinsatz. 97 Prozent der Betriebe wirtschafteten im Jahr 2004 nach dem ÖLN und erhielten im Gegenzug die Gelder. 1996 wurde in einer Volksabstimmung die «Agrarpolitik 2002» angenommen, als Grundlage kam der Landwirtschaftsartikel 104 in die Bundesverfassung.

Seither wird in regelmässigen Abständen über den Rahmen der Direktzahlungen und damit auch über Änderungen agrarpolitischer Vorgaben entschieden: Der AP 2002 folgten AP 2007, AP 2011, AP 14-17 und AP 18-21, alle kamen relativ problemlos durchs Parlament. Die AP 22+ sollte nun ein grösserer Wurf sein, unter anderem die Umweltbelastung reduzieren und die Effizienz des Agrarsektors steigern.

Sie enthielt auch ein Massnahmenpaket zur Sicherung der Trinkwasserqualität als Gegenentwurf zur Trinkwasserinitiative. Im Gegensatz zum Bauernverband und der Economiesuisse wurde die Reform von der Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittelindustrie Fial und von der IG Detailhandel, in der Migros und Coop organisiert sind, unterstützt. Auch von IP-Suisse und Bio Suisse, die etwas mehr als die Hälfte aller bäuerlichen Betriebe in der Schweiz repräsentieren.

Pestizide, Nährstoffe und das Trinkwasser

Klar ist: Zu viel Pestizid- und Nährstoffaustrag ist schlecht für Umwelt und Trinkwasser und geht zulasten der Biodiversität, zu stark ausgelaugte Böden machen es zukünftigen Generationen schwerer, diese weiter für die Lebensmittelproduktion zu nutzen. Klar ist auch: Die Schweiz steht in diesen Punkten nicht besonders gut dar. Zwar hält sich hartnäckig das Image der deutlich umweltfreundlicheren Landwirtschaft im Vergleich zu den Nachbarländern. Es ist vor allem geprägt durch die Vorstellung von malerischen Bergbauernhöfen in den Alpenregionen.

In den nächsten Jahren wird also sehr viel passieren und sowieso zu grossen Verbesserungen führen.

Sandra Helfenstein, Bauernverband

Doch wo in der Fläche produziert wird, gleichen sich die Probleme mit denen der Nachbarn. In ihren jüngsten Publikationen hält die Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften SCNAT fest, dass der Austrag von Pestiziden noch deutlich zu hoch ist. Die beiden Initiativen des Frühjahrs wollten daran etwas ändern. Die Pestizid-Initiative forderte ein Verbot aller synthetischen Pestizide sowie ein Importverbot von Lebensmitteln, die mit synthetischen Pestiziden behandelt wurden. Die Trinkwasser-Initiative wiederum wollte die Anforderungen an Direktzahlungen und Subventionen dahingehend verändern, dass diese nur noch an Betriebe gehen, die weder Pestizide noch prophylaktische Antibiotika einsetzen und den betrieblichen Tierbestand nur mit selbst produziertem Futter ernähren können.

Patrick Dümmler, Agrarexperte beim liberalen Think-Tank Avenir Suisse, konnte der Trinkwasserinitiative persönlich etwas abgewinnen: «Das hätte einiges in die richtige Richtung gelenkt», meint er. Die Pestizid-Initiative dagegen hätte ihm zufolge den Schweizerischen Grenzschutz noch weiter zementiert und somit noch weiter «in eine antiliberale, abschotterische Politik» geführt.

Sandra Helfenstein, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit beim Schweizerischen Bauernverband, sieht es genau umgekehrt: «Die Trinkwasser-Initiative war überhaupt nicht durchdacht und hätte keinerlei Fortschritt gebracht.» Die Pestizid-Initiative sei dagegen viel konsequenter gewesen, weil sie den Einsatz von Bio-Mitteln weiterhin zugelassen und dem Import die gleichen Auflagen gemacht hätte: «Für die Landwirtschaft wäre diese Initiative machbar gewesen», meint sie: «Dann würde man einfach die gesamte Schweiz auf Bio umstellen. Wir würden sicher weniger produzieren und müssten mehr importieren, aber für die Importe würden dann immerhin die gleichen Auflagen gelten.» Offensichtlich sei die Bevölkerung aber nicht bereit gewesen, auf ihre Wahlfreiheit zu verzichten und nur noch Bio zu kaufen.

Helfenstein meint, der Bauernverband sehe durchaus die Notwendigkeit, Pestizide zu reduzieren. Das gehe auch ohne komplexe politische Prozesse wie die Agrarreform: «Es gibt ja alle Jahre neue Verordnungen.» Seit 2017 gebe es zum Beispiel den Aktionsplan Pflanzenschutzmittel, in diesem Frühjahr wurde die Parlamentarische Initiative Absenkpfad verabschiedet: «In den nächsten Jahren wird also sehr viel passieren und sowieso zu grossen Verbesserungen führen.»

Der Agrarsektor und die Klimaziele

Die Schweiz hat sich zum Klimaziel von Netto-Null bis 2050 verpflichtet und auch der Landwirtschaftssektor muss mit einem Anteil von ungefähr 13 Prozent am Gesamtausstoss seinen Beitrag dazu leisten. Die AP 22+ beinhaltete dementsprechend den konkreten Zielwert von 20 Prozent weniger Treibhausgasen im Jahr 2030 gegenüber 1990. Doch was wären konkrete Massnahmen zur Reduktion der Emissionen im Agrarbereich? Vieles liesse sich mit Innovationen machen, meint Patrick Dümmler von Avenir Suisse. So gebe es bereits Firmen, die Futtermittel entwickelten, um den Methanausstoss von Kühen erheblich zu senken. Auf dem Acker gebe es Methoden, um CO2 unterzupflügen und so langfristig zu binden. Und während Abluftanlagen zum Beispiel bei Mastbetrieben jetzt schon viel verändern könnten, würde die Möglichkeit der Laborzüchtung von Fleisch die Tierhaltung in Zukunft drastisch verändern.

CO2-Einsparmöglichkeiten bestünden auch bei der Lagerung und beim Ausbringen von Gülle, meint Sandra Helfenstein vom Bauernverband: «Es gibt noch Potenzial, es ist einfach nicht endlos. Denn natürliche Prozesse lassen sich nicht beliebig steuern wie technische Prozesse.»

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Dieser Bauernhof in Bänikon hatte der Swissair gehört. Wie die Zeiten sich ändern... (Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz / Fotograf: Swissair / LBS_SR05-001432-26 / CC BY-SA 4.0)

Neben dem Binden von CO2 im Boden könnten landwirtschaftliche Betriebe auch mit Biogasanlagen Teil der Lösung sein, betont sie. Hansjürg Jäger ist Geschäftsführer der Agrarallianz, einer Organisation, die Konsumenten-, Umwelt-, Tierwohl- und Landwirtschaftsorganisationen «von der Heu- zur Essgabell» vereint. Er hält eine ganze Liste von Klimamassnahmen in der Hand: «Kurz zusammengefasst geht es um Standortanpassung», erklärt er: «Man muss andere Grundvoraussetzungen berücksichtigen können.» Grundsätzlich gehe das mit ökologischem bis agrarökologischem Wirtschaften und dem Schliessen von Kreisläufen, am besten im Austausch mit den Konsument:innen.

Agrarökologisches Wirtschaften meint eine Art der Landwirtschaft, die versucht, die gesamten Zusammenhänge des Ernährungssystems miteinzubeziehen. Es geht damit über den ökologischen Landbau hinaus. Isabel Sommer von der Bewegung Landwirtschaft mit Zukunft hat dieses Konzept im Blick für eine zukunftsfähige Landwirtschaft. Die systemische Herangehensweise sei notwendig, weil gleichzeitig an ganz vielen Stellschrauben gedreht werden müsse, sagt sie. Es gehe um einen globalen systemischen Wandel, auch wenn das Konzept in der Schweiz in der Umsetzung noch in den Kinderschuhen stecke. Um die Klimaziele zu erreichen, plädiert auch sie für die Schliessung von Nährstoffkreisläufen, nicht unbedingt auf einem Hof, aber doch regional: «Es muss einfach alles mit einbezogen werden, inklusive der Futtermittelimporte. Wir müssen natürliche Grenzen wieder mehr wahrnehmen, anstatt immer weiter zu pushen.»

Die Klimaanpassung: Mehr Trockenheit, mehr Nässe

Das Bremsen der Klimaerwärmung ist das eine, eine Anpassung an veränderte klimatische Bedingungen mit immer mehr Extremwetterlagen ist aber genauso notwendig. Im Weltagrarbericht des Weltagrarrats heisst es, dass landwirtschaftliche Kleinbetriebe besser mit dem Klimawandel zurechtkommen als Grossbetriebe. Auch Sandra Helfenstein vom Bauernverband findet, dass die vergleichsweise kleinen Betriebe in der Schweiz hier einen Vorteil hätten: Sie würden ihre Flächen und Tiere und deren Ausgangslage kennen und könnten so individuell auf die jeweils vorherrschende Lage reagieren.

In einem so nassen Jahr wie diesem seien Pflanzen extrem pilzanfällig, weshalb die Bauern ohne Pflanzenschutzmittel Totalausfälle bei der Ernte gehabt hätten. Um auf der anderen Seite den zunehmenden Trockenphasen zu begegnen, brauche es zum einen andere Kulturen: «Vielleicht gibt es ja zum Beispiel andere Grasarten, die etwas tiefer wurzeln und so länger überleben.» Zum anderen gehe es um eine zunehmende Bewässerung und deren Optimierung, zum Beispiel über Sonden zur Messung des noch verfügbaren Wassers oder sparsame Bewässerungssysteme.

Eigenversorgung versus Freihandel

2017 wurde der Landwirtschaftsartikel durch einen Zusatz ergänzt. Bei einer Volksabstimmung sprach sich eine grosse Mehrheit für den Bundesbeschluss für die Ernährungssicherheit aus, der ein Gegenvorschlag zu einer Initiative des Bauernverbands war. Der neu aufgenommene Verfassungsartikel 104a soll die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherstellen und legt fest, dass der Bund sich unter anderem um die Sicherung der Grundlagen für die landwirtschaftliche Produktion kümmern muss. In der öffentlichen Debatte wird der Artikel oft so verstanden, als solle er eine möglichst hohe Selbstversorgung der Schweiz garantieren. Dabei ist von Selbstversorgung darin gar keine Rede, vielmehr von einer «standortangepassten und ressourceneffizienten Lebensmittelproduktion», einer «auf den Markt ausgerichteten Land- und Ernährungswirtschaft», «grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen, die zur nachhaltigen Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft beitragen» und einem «ressourcenschonenden Umgang mit Lebensmitteln».

Christof Dietler ist Geschäftsführer der IG Agrarstandort Schweiz IGAS. Sie setzt sich für den Zugang der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft zu den internationalen Märkten ein und vereint unter ihrem Dach so unterschiedliche Akteure wie Bio Suisse, Nestlé, Migros und Coop sowie die Stiftung für Konsumentenschutz. Auch er hebt den Unterschied zwischen der in der Verfassung erwähnten Versorgungssicherheit und der Selbstversorgung hervor.

Die Frage ist nur: Wie kann man die Anbindung an internationale Märkte so gestalten, dass die Nährstoffkreisläufe geschlossen sind?

Hansjürg Jäger, Agrarallianz

Die in der Selbstversorgungsdebatte immer wieder benutzte Messgrösse der Kalorien - eine Methode aus Weltkriegszeiten - hält er für sinnlos: «Man kann das auf die Spitze treiben und einfach viele Zuckerrüben anbauen, dann hat man diese Kalorien.» Das gesellschaftliche Interesse im Rahmen der Versorgungssicherheit, Know-How zu Anbau und Verarbeitung von Lebensmitteln im Land zu halten - «dass man zum Beispiel noch weiss wie eine Ölmühle funktioniert» - hält er jedoch für legitim.

Auch Hansjürg Jäger sieht den Fokus auf den Selbstversorgungsgrad kritisch. Er führe zur falschen Antwort, man müsse mehr produzieren, sagt er. Dabei müsse man auch Themen wie Foodwaste mitdenken: Ohne weitere Produkionssteigerung liessen sich mit der Vermeidung von Foodwaste in der Schweiz ungefähr 1,5 bis 2 Millionen Menschen mehr ernähren. Die Versorgungslage eines Landes könne man zum Beispiel mit dem Food Security Index weitaus besser erfassen, da dieser wesentlich umfassender sei als der Grad der Selbstversorgung. Einer Marktöffnung, meint Jäger, könne man sich schlussendlich nicht verschliessen: «Aber es gibt schon Wege, so etwas möglichst verträglich zu gestalten. Die Frage ist nur: Wie kann man die Anbindung an internationale Märkte so gestalten, dass die Nährstoffkreisläufe geschlossen sind?»

Christof Dietler vom IGAS bezieht sich auf den Handels-Paragrafen des Artikels 104a, wenn er sagt: «Mehr Handel bringt mehr Ökologie und mehr Nachhaltigkeit. Das ist meine Vision.» Mehr Handel und offene Grenzen dürften nicht blind eingeführt werden, sondern sollten Dietler zufolge «clever» von der Politik begleitet werden - «so dass sie zu besseren Wettbewerbsbedingungen führen für ökologisch orientierte Unternehmen und Bauern.» Das Beispiel des Freihandelsabkommens mit Indonesien, in dem erstmals Nachhaltigkeitsstandards festgelegt wurden, müsse der Standard für die Zukunft sein.

Laut Patrick Dümmler von Avenir Suisse leistet sich die Schweiz eines der komplexesten Zollsysteme weltweit. Für Früchte und Gemüse gebe es beispielsweise ein Phasen-System: «Je nach Saisonalität wird der Zollsatz auf eine so schwindelerregede Höhe geschraubt, dass sich ein Import des entsprechenden Lebensmittels nicht mehr lohnt», erklärt er: «Wenn in der Schweiz dann keine Saison mehr ist, wird der Zollsatz quasi auf null abgesenkt, weil dann der inländische Markt von den Detailhändlern versorgt werden möchte, aber man keine inländischen Waren mehr beziehen kann.»

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(Foto: Michael Schallschmidt)

Ein einziges landwirtschaftliches Produkt handle die Schweiz frei mit der EU, den Käse. Die Liberalisierung des Käsemarktes zwischen 2002 und 2007 sei ein Erfolg gewesen, erklärt er: «Vor der Öffnung ging der Käseexport der Schweiz konstant zurück. Es wurde vor allem Emmentaler exportiert, doch da stimmten Qualität und auch Marketing nicht mehr. Seit der Öffnung sind die Exporte wieder angestiegen, und zwar nicht nur mengenmässig, sondern insbesondere auch wertmässig.» Das liege an der Spezialisierung auf qualitativ hochwertige Nischenprodukte, welche ihm zufolge ein Modell für einen vollständig liberalisierten schweizerischen Landwirtschaftssektor wäre.

Die Wirtschaftlichkeit: Viel Geld und abhängige Bauern

Die Schweizerische Landwirtschaft ist hochgradig technisiert. Doch technische Ausrüstung heisst nicht automatisch materieller Wohlstand. Nach wie vor hat der Landwirtschaftssektor Nachwuchsprobleme, es schliessen eher Betriebe als dass neue entstehen. Und das hat viel mit wirtschaftlichen Perspektiven zu tun. Die soziale Absicherung, gerade auch der Lebenspartner:innen, wird als reformbedürftig angesehen und soll im Herbst Thema im Parlament werden.

Gleichzeitig leistet sich die Schweiz eines der teuersten Agrarsysteme der Welt. Zu diesem Schluss kommt das «Privilegienregister der Schweizer Landwirtschaft» von Avenir Suisse, das aus der Feder Patrick Dümmlers stammt. Es schlüsselt die volkswirtschaftlichen Kosten des Schweizer Agrarsektors auf und kommt dabei für 2020 auf über 20,6 Milliarden Franken. Mit einberechnet werden direkte Kosten wie die Direktzahlungen von Bund und Kantonen an landwirtschaftliche Betriebe genauso wie indirekte Kosten wie zum Beispiel Biodiversitätsverluste, die volkswirtschaftlichen Mehrkosten von Lebensmitteln durch den Grenzschutz oder niedrigere Steuersätze für Pflanzenschutzmittel.

Auch Christof Dietler von der IGAS meint: In der Schweiz sei sehr viel, wohl zu viel Geld im Agrarsystem, und viel Geld heisse mehr Anreiz zu intensiver Landwirtschaft - zu grösseren Maschinen, grösseren Ställen und unnötigen Investitionen. Auch wenn heute ungefähr 80 Prozent des Gesamterlöses von Landwirtschaftsbetrieben am Markt erzielt werde, behindere das viele Geld Umweltschutz und eine höhere Wettbewerbsfähigkeit. Eine Möglichkeit, die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, sei die Senkung von Zöllen.

Eine Alternative zu dieser sehr unpopulären Massnahme sei zum einen Bildung, so Dietler: «Damit meine ich eine Befähigung, die eigene Strategie zu finden und erst dann zu schauen, was der Staat liefert.» Eine andere Möglichkeit für bessere Leistungen zeige die Parlamentarische Initiative Absenkpfad auf, die noch vor den Volksinitiativen des Frühjahrs verabschiedet wurde. Sie gibt eine Senkung der Stickstoff- und Phosphorverluste in der Landwirtschaft vor, doch wie die Betriebe diese erreichen, ist Sache ihrer Innovationskraft in Feldern wie Zucht, Standortwahl oder Vermarktung.

Es gibt kaum ein anderes Land in Europa, wo Detailhändler eigene Produktionsstätten betreiben.

Patrick Dümmler, Avenir Suisse

Auch Patrick Dümmler von Avenir Suisse sieht im Fokus auf Qualität statt Quantität den Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg der Bauern. Als grosses Vorbild dient ihm Österreich, das vor seinem EU-Beitritt 1995 eine ähnliche Agrarpolitik wie die Schweiz verfolgt habe. Mit der Öffnung des Agrarmarktes habe eine Umstrukturierung und Spezialisierung stattgefunden: «Man spricht heute vom Feinkostladen Österreich im EU-Binnenmarkt.» Nischenprodukte, bio-zertifiziert und regional, hätten die Bauern dort erfolgreich gemacht, sie generierten mit ihnen eine höhere Wertschöpfung und könnten so ihre höheren Kosten decken. Ausserdem sei das Bauernhofsterben in Österreich seit dem EU-Beitritt stark zurückgegangen. Was in der Schweiz schon beim Käse gelungen sei, könne auch in anderen Bereichen funktionieren: Kleine Mengen, hoch spezialisierte Produkte und hohe Wertschöpfung, analog zur Schweizer Industrie, die ja in der Regel auch nicht im weltweiten Massenmarkt tätig sei.

Hansjürg Jäger von der Agrarallianz sieht in den Kosten des Agrarsektors kein schlechtes Zeichen: «Sie zeigen vor allem, wie viel die Landwirtschaft der Schweizer Bevölkerung wert ist.» Da die Direktzahlungen nur noch 20 Prozent des durchschnittlichen Umsatzes eines Betriebes ausmachten, seien sie inzwischen weniger wichtig für Entscheidungen des Betriebs: «Das zeigt, dass die Landwirtschaft vielfältiger wird.» Bei der Abschaffung von Subventionen, die nicht an konkrete Leistungen gebunden sind, gehe die Agrarallianz gerne mit, genauso bei der Optimierung von Direktzahlungen. Gleichzeitig müsse aber auch klar sein, dass die Landwirtschaft nicht so im Wettbewerb stehen könne wie andere Wirtschaftssektoren, schliesslich sei sie an den Boden gebunden und stelle neben der Produktion von auf Märkten nachgefragten Gütern auch nicht-marktfähige Leistungen bereit – etwa Biodiversität oder das Landschaftsbild.

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Ob sie sich auch für Agrarpolitik interessieren? Diese Wasserbüffel leben auf dem Riedenholzhof. (Foto: Isabel Brun)

Auch Sandra Helfenstein vom Bauernverband sieht die Kosten nicht als problematisch an: «Bis jetzt ist Wettbewerbsfähigkeit nicht das oberste politische Credo gewesen, sondern man wollte eine nachhaltige und tierfreundliche Landwirtschaft fördern.» Die Schweizer:innen gäben 6,7 Prozent ihres Haushaltseinkommens für Lebensmittel aus, das sei trotz der vergleichsweise hohen Preise ein weltweiter Tiefststand: «Das Potenzial zum Sparen ist andernorts grösser als beim Essen.»

Ein Problem sei auch die strukturelle Abhängigkeit der Schweizer Bauern, meint Patrick Dümmler. Zum einen ist der Markt der Abnehmer extrem konzentriert und besteht fast nur aus den beiden Detailhändlern: «Es gibt kaum ein anderes Land in Europa, wo Detailhändler eigene Produktionsstätten betreiben, wie das Migros und Coop machen», meint er: «Wir schätzen, dass etwa 70 bis 80 Prozent des täglichen Bedarfs an Lebensmitteln durch die beiden Detailhändler verkauft werden.» Sandra Helfenstein sieht die Detailhändler als das dünne Mittelstück einer Sanduhr, das zwischen vielen Produzierenden und vielen Konsumierenden liegt: Mit ihrer Marktmacht könnten sie beispielsweise die Qualitätsrichtlinien für Obst und Gemüse beliebig steuern, wodurch zum Beispiel nicht makellose Produkte, für die es bei reduziertem Preis durchaus Abnehmer:innen gebe, gar nicht in die Läden kämen.

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Fun Fact: Die Farbe der Eierschalen kann an den Ohrläppchen der Hennen vorhergesagt werden. Eine Henne mit roten Ohrläppchen legt braune Eier, eine mit weissen Ohrläppchen legt weisse Eier. (Foto: Jenny Bargetzi)

Neben den Detailhändlern spielt auch die Agrargenossenschaft Fenaco eine Rolle bei der Abhängigkeit der Bauernschaft. Sie macht sowohl im vor- und nachgelagerten Bereich der Produktion ihre Geschäfte, verkauft Bauern Saatgut, Dünger und Futtermittel, besitzt aber auch die Verteil- und Verkaufsnetze von Landi und Volg und kauft in diesem Zuge den Landwirten ihre Produkte auch wieder ab.

Ein weiteres Hindernis bei der Wirtschaftlichkeit wird in den komplexen politischen Vorgaben gesehen. «Man hat heute die Tendenz, jede Eventualität in der Landwirtschaft regulieren zu wollen», meint Hansjürg Jäger: «Aber man sieht, dass das an Grenzen stösst: Die Betroffenen, die Bauern und Bäuerinnen, verstehen sehr oft gar nicht mehr, was die Politik jetzt eigentlich von ihnen will.» Das müsse man ernst nehmen, denn es könne nicht sein, dass man Regulierungen mache, die am Ende niemand mehr versteht. Die Forderung des Bauernverbandes nach einer Einbettung des Agrarthemas in die Ernährungspolitik verlagere die Diskussion auf die übergeordnete Ebene und potenziere die Komplexität noch einmal, meint Jäger: «Wir nehmen dann die Agrarpolitik mal die Gesundheitspolitik mal die Umweltpolitik mal die Klimapolitik. Wo das hinführt, ist noch unklar.»

Er sieht aber auch die Vorteile dieser Betrachtung: «Damit haben wir einen gedanklichen Rahmen, in dem man ganz neue Fragen stellen kann. Damit können wir Instrumente wie die Absatzförderung für Fleisch- und Milchprodukte zum Beispiel in ihrer Wirkung auf Konsum und Gesundheit überprüfen.» Doch so sinnvoll das Konzept sei: «Es darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir heute schon Möglichkeiten zum Handeln haben.»

Die Mitbestimmung: Wer redet mit, wie geht es weiter?

Im Abstimmungskampf des Frühjahrs war von einem tiefen Stadt-Land-Graben die Rede: In der Stadtbevölkerung dominierte die Sorge um Umwelt, Klima und die Qualität des Trinkwassers. Auf dem Land wiederum sah man sich von den Städter:innen bevormundet und durch die Initiativen die Lebensgrundlage der Bauern gefährdet. Sandra Helfenstein vom Bauernverband sieht den Graben vor allem als Wissenslücke zwischen Konsument:innen und Bauern. Der Abstimmungskampf des Frühjahrs habe gezeigt, dass Konsument:innen die Zusammenhänge nicht mehr verstünden und kein Verständnis dafür hätten, warum Bauern Pflanzenschutzmittel brauchten: «Weder kennen sie die ganzen Vorsorgemassnahmen, die es gibt, um Pflanzenschutzmittel zu vermeiden. Noch wissen sie über Bio-Pflanzenschutzmittel bescheid. Wir müssen auf der einen Seite versuchen, diese Wissenslücke zu schliessen. Und auf der anderen Seite unsere Bauern sensibilisieren, sich als Botschafter zu sehen und zu erklären.» Wie das am besten gelinge? In der Direktvermarktung auf dem Markt oder im Hofladen, meint Helfenstein: «Genau da bringt man Produzent:innen und Konsumierende zusammen.»

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(Foto: Jenny Bargetzi)

Neben den Ansprüchen an Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit sind es aber auch schlicht die Preise, die die Kaufentscheidung der Konsument:innen beeinflussen. «Ich glaube, die Schweizer Konsument:innen wären schon bereit, für Schweizer Produkte 10 bis 20 Prozent mehr zu bezahlen», so Patrick Dümmler von Avenir Suisse. Er stellte in einer Studie 2018 fest, dass das Preisniveau für Lebensmittel jedoch bei 178 Prozent des EU-28-Durchschnitts liege. Gerade für einkommensschwächere Haushalte sei es deshalb ökonomisch attraktiv, zum Beispiel von Zürich aus am Wochenende ins deutsche Konstanz für den Wocheneinkauf zu fahren.

In der Fahrt über die Grenze sieht auch Sandra Helfenstein ein zentrales Element der Wahlfreiheit der Konsument:innen, genauso wie beim Einkauf: «Jedes Produkt, das über die Ladenkasse geht, ist eine Bestellung. Wenn die Leute jetzt alle Bio kaufen, dann wird in der Schweiz auch mehr Bio produziert. Aber Tatsache ist, dass momentan der Bio-Anteil bei 11 Prozent liegt. Es gibt also eine Diskrepanz zwischen dem, was der Einzelne gerne hätte und dem, was er selbst tut.»

Das war auch die Argumentation des Bauernverbands bei der Pestizid-Initiative: Da die Lebensmittel in der Schweiz durchweg teurer geworden wären, hätte sie letztlich nur den Einkaufstourismus befeuert, weil die Konsument:innen dort günstigere und nach weniger strengen Standards hergestellte Lebensmittel gekauft hätten. Auch die anstehende Tierwohl-Initiative, die die Standards der Tierhaltung verbindlich auf Bio-Niveau heben möchte, sei unnötig, so Helfenstein: Sie nehme den Konsument:innen die Wahlfreiheit, ob sie Bio kaufen wollten oder nicht. Tierische Produkte würden teurer, der Einkaufstourismus würde angekurbelt.

Wir nehmen das ernst und gehen jetzt mal voran, anstatt sich immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu besinnen.

Isabel Sommer, Landwirtschaft mit Zukunft

Um jetzt agrarpolitisch im Sinne aller Beteiligten weiterzukommen, brauche es zunächst das Verständnis, dass die Politik als Projektionsfläche für Wünsche an die Landwirtschaft eigentlich nicht taugt, so Hansjürg Jäger: «Der Ausgleich der verschiedenen Interessen, der eigentlich Teil des politischen Diskurses wäre, wurde mit der Sistierung der AP 22+ verschoben. Aber das Parlament als Gremium dieses Interessensausgleichs ist im Moment nicht in der Lage, diesen herzustellen.»

Wo eigentlich der Bundesrat den Takt vorgebe - er vernehmlasst in der Regel einen Botschaftsentwurf und verabschiedet danach eine Botschaft, die vom Parlament beraten wird - liege der Taktstock gerade beim Parlament, das dem Bundesrat Prüfaufträge gibt, ohne aber die Botschaft materiell zu behandeln. Aus Jägers Sicht bräuchte es jetzt vor allem lokale und regionale Initiativen und praktische Lösungen, die eine gesunde Ernährung und nachhaltige Produktion ermöglichen.

Damit ist wohl genau jetzt der richtige Zeitpunkt für das Projekt von Landwirtschaft mit Zukunft, das Isabel Sommer momentan vorbereitet: Den Bürger:innenrat für Ernährungspolitik. Er soll aus 100 zufällig ausgewählten Bürger:innen bestehen und über ein halbes Jahr einen Dialog über strittige Fragen im Agrar- und Ernährungskontext ermöglichen. Vor dem Hintergrund der sistierten Agrarpolitik meint Sommer: «Ich erhoffe mir, dass die Bürger:innen sich dort mit ein paar Knackpunkten beschäftigen, an die sich sonst keiner ran traut. So dass sich die Politik später darauf berufen kann und sagt: Wir trauen uns jetzt auch. Wir nehmen das ernst und gehen jetzt mal voran, anstatt sich immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu besinnen.»

Wenn man Menschen die Informationen gebe und die Möglichkeit gehört zu werden, dann kämen sie oft zu radikaleren Beschlüssen als die Politik, so Sommer. Das hätten Bürger:innenräte zu verschiedenen Themen auf der ganzen Welt gezeigt. Das mache die Agrarpolitik nicht weniger komplex, «aber ich glaube, dass sich allein durch die öffentliche Debatte etwas bewegen kann und man so wegkommt von diesen Initiativen mit ihrem einfachen Ja oder Nein.»

Möchtest du noch mehr zum Thema Agrarpolitik erfahren? Am 15. September diskutieren wir im Rahmen unseres Fokus-Monats Stadt-Landwirtschaft genau über dieses Thema. Hier kannst du dich gratis anmelden.

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