Stadtplaner: «Die Werdinsel ist unverzichtbar für ein diverses Zürich»
Zürich streitet über die Nacktzone auf der Werdinsel. Für Stadtplaner Tim Van Puyenbroeck ist der Ort mehr als ein FKK-Bereich. Ein Spaziergang über eine Insel, auf der Zürichs Freiheitsverständnis verhandelt wird.
Nackt stapft ein Mann durchs Wasser und schichtet grosse Steine aufeinander. Am Spitz der Zürcher Werdinsel, wo Nacktheit geduldet wird, baut er seelenruhig eine kleine Staumauer in die Flussströmung. Dass er das nackt machen darf, wollen einige Anwohner:innen verhindern. Sie forderten im Juli 2025 mit einer Petition die Auflösung des Nacktbereichs auf der Werdinsel. Dabei seien Orte wie die Werdinsel unverzichtbar für eine diverse Stadtgesellschaft, meint Tim Van Puyenbroeck. Er ist Stadtplaner und beschäftigt sich mit sozialen Aspekten in der Raumplanung.
Auf einem gemeinsamen Spaziergang zeigt er, wie die Insel für verschiedenste Menschen Platz bietet und weshalb das nicht selbstverständlich ist.
«Du kannst diesen Ort nicht planen, aber zulassen»
Die Werdinsel beginnt beim Höngger Wehr. Hier schliesst Tim Van Puyenbroeck sein Fahrrad ab, denn in der öffentlichen Badeanlage sind Fahrräder verboten. Auch sonst verläuft im offiziellen Flussbad das Meiste in geregelten Bahnen. Unter den Augen der Bademeister:innen springen Jugendliche ins kalte Nass und versuchen gegen die Strömung anzuschwimmen, am Kiosk gibt es Würste vom Biohof und die vielen Enten durchkämmen den Rasen nach Essensresten.
Weiter flussabwärts, ausserhalb des offiziellen Flussbads, kommen die ersten «Hündeler» entgegen. «Es gibt hier verschiedene Communitys, die ihren Space haben», erklärt Van Puyenbroeck. Es gebe Leute, die grillieren und baden, andere, die Sport treiben, mit dem Velo durchfahren, dem Hund rausgehen oder eben jene, die nackt sind. «Jede Gruppe findet hier ihre Nische.»
Wie gelingt ein Ort wie die Werdinsel, wo diverse Nutzungsansprüche nebenher funktionieren?
«Du kannst ihn nicht planen, aber zulassen», meint Van Puyenbroeck. Das klinge erstmal banal, sei es jedoch nicht. Wenn man einen Ort entstehen lassen will, könne man ein bisschen nachhelfen, indem man Bänke aufstellt oder Bäume pflanzt. Die Stadtplanung müsse dezent eingreifen, ohne dabei Freiräume zu verhindern. Darin liege die Kunst, so Van Puyenbroeck.
Ein queerer Treff entsteht
Diesem feinfühligen Eingreifen geht eine lange Geschichte voraus. Vor über 100 Jahren kanalisierte ein Unternehmer die Moorlandschaft und baute das Kraftwerk Höngg. So entstand ein abgetrenntes Stück Land – die Werdinsel –, das seither ein Badeort ist. Ab den 80ern teilte eine imaginäre Linie auf der Höhe des Kraftwerks die Insel in den oberen Teil und den unteren Bereich, wo vermehrt nackt gebadet wurde.
Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, wieso die Leute anfingen, sich im unteren Teil der Werdinsel zu entblössen: Der Ort war abgeschieden und versteckter. Dass sich der Inselspitz auf der Höhe der Kläranlage befindet, dürfte auch einen wesentlichen Teil dazu beigetragen haben, dass sich dort weniger Menschen aufhielten.
Zu dieser Zeit entwickelte sich die Werdinsel zu einem Treffpunkt für homosexuelle Männer. Das bestätigt Marc Eggenberger von der Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich (HAZ): «Die Werdinsel war schon immer ein wichtiger Freiraum, unter anderem für queere Menschen. Gerade für schwule und bisexuelle Männer hatte sie historisch eine grosse Bedeutung als Treffpunkt – in einer Zeit, als das offene Ausleben von Sexualität gesellschaftlich kaum möglich war.»
Mit den queeren Menschen zogen auch die Vorurteile über die Werdinsel ein. Gerüchte, Binsenweisheiten und Erzählungen mit homophobem Unterton entstanden.
So führte die Zunahme von öffentlichem Sex vermehrt zu Beschwerden und es entstanden Interessensgemeinschaften, um gegen den «schwulen Sex-Treffpunkt» vorzugehen.
2017 räumte die Stadt auf. Um Sexwillige zu vertreiben, wurde das gesamte Wäldchen und die Uferbestockung auf eine Höhe von zwei Metern ausgedünnt, indem Büsche und Unterholz entfernt wurden.
Im Juli 2025 forderten einzelne Anwohner:innen mit einer Petition die Auflösung des Nacktbereichs auf der Werdinsel. Die Atmosphäre auf dem Inselspitz führe dazu, dass Familien das gesamte Landstück meiden würden, obwohl der Nacktbereich fast die Hälfte der Fläche beanspruche, heisst es im Schreiben, das in den umliegenden Briefkästen verteilt wurde.
Belästigungen müssten ernst genommen werden, meint Marc Eggenberger. Doch Nacktheit per se sei nicht das Problem. «Gerade wenn queere Räume sichtbar werden, gibt es leider reflexartig Widerstand. Verbote bringen nichts, es braucht Massnahmen gegen Belästigung, nicht gegen Nacktheit», so Eggenberger.
Auch Van Puyenbroeck hält nichts von Verboten. Den Petitionär:innen sei nicht bewusst, dass ein Verbot vielen Leuten einen einzigartigen Ort wegnehmen würde. Wer sich an der Nacktheit störe, könne die restlichen 99 Prozent der städtischen Fläche nutzen.
Ein grosser Andrang auf der Werdinsel ist vor allem ein Zeichen dafür, dass es zu wenige solcher Orte gibt.
Tim Van Puyenbroeck, Stadtplaner
Schlussendlich geht es um die Frage, wie viel Freiraum anderen zugesprochen wird, auch wenn man selbst nichts davon hat. Seit über 50 Jahren ist die Werdinsel ein Ort der Sichtbarkeit, des Austauschs und ein Symbol für ein diverses Zürich. Auch wenn das einigen wenigen nicht passt.
Auch heute sei die Werdinsel ein beliebter Cruising-Spot, schreibt Marc Eggenberger auf Anfrage. Also ein Treffpunkt für schnellen, anonymen Sex. Cruising sei Teil der schwulen Kultur, die sich an manchen Orten über Jahrzehnte entwickelt habe. Wer nicht suche, werde das in der Regel gar nicht bemerken. Gerade das Versteckte und Zurückgezogene gehöre dazu, so Eggenberger. «Und historisch zeigt sich auch: Solche Plätze verschwinden nicht durch Verbote.»
Immer wieder grosser Andrang
Auch an diesem frühen Abend beginnt sich die Werdinsel zu füllen. Jüngst machte die angespannte Verkehrssituation rund um die Insel Schlagzeilen. Für die Gegner:innen der Nacktzone sind auswärtige Männer mitschuldig, die von weit her für den Nacktbereich anreisen würden. Van Puyenbroeck hält dagegen: Ein grosser Andrang sei vor allem ein Zeichen dafür, dass es zu wenige solcher Orte gebe, so Van Puyenbroeck.
Nach dem Kraftwerk weisen mehrere Tafeln auf den Nacktbereich hin, damit keine Spaziergänger:innen unverhofft in nackte Angelegenheiten geraten. Für Van Puyenbroeck endet hier der Spaziergang. Er scheint die Ruhe und Abgeschiedenheit der nackten Gäste nicht stören zu wollen. «Ich wünsche mir, dass es nicht ständig wieder Diskussionen gibt, ob der Nacktbereich geschlossen werden soll», sagt Van Puyenbroeck zum Schluss.
In dem Moment passieren zwei junge Männer das Schild und ziehen sich aus. Nackt stapfen sie durch das knöchelhohe Gras in Richtung Inselspitz.
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Yann hat an der Universität Zürich einen Master in Germanistik, Sozialwissenschaften und Philosophie abgeschlossen. Erste journalistische Erfahrungen sammelte er bei 20Minuten, Tsüri.ch und der SRF Rundschau. Beim Think & Do Tank Dezentrum war Yann als wissenschaftlicher Mitarbeiter und in der Kommunikationsleitung tätig. Seit 2025 ist er Teil der Tsüri-Redaktion. Nebenher ist er als Freelancer im Dynamo Zürich und bei Dachsbau Sounds unterwegs.