Neue Strategie

Zürich überdenkt seine Denkmäler: Stadt schafft Fachstelle Erinnerungskultur

Von rassistischen Inschriften bis zu zahlreichen Denkmälern für die weisse Elite: Zürich will seinen Umgang mit der städtischen Vergangenheit künftig systematischer gestalten – und bislang wenig beachtete Geschichten sichtbarer machen.

Statue von Alfred Escher am Bahnhofsplatz
Wie umgehen mit Denkmälern für umstrittene Persönlichkeiten wie Alfred Escher? Die Stadt will klare Leitlinien schaffen. (Bild: Kai Vogt)

Wer mit dem Zug in Zürich ankommt, wird auf dem Bahnhofplatz von Alfred Escher empfangen – dem «Eisenbahnpionier» und Begründer der Schweizerischen Kreditanstalt, die später zur Credit Suisse wurde. Neuere Forschungen zeichnen Escher jedoch auch als Nutzniesser kolonialer Strukturen. Seine Familie besass etwa eine Sklavenplantage auf Kuba.

Wie soll öffentlich an eine solche Persönlichkeit erinnert werden?

Für Fragen wie diese plant die Stadt die Einrichtung einer neuen «Fachstelle Erinnerungskultur». Sie ist Teil einer Strategie, die Stadtpräsidentin Corine Mauch am Montag gemeinsam mit Historiker:innen und städtischen Mitarbeitenden vorgestellt hat. 

«Die Stadt ist in den vergangenen Jahren mit vielen Vorstössen im Bereich Erinnerungskultur konfrontiert worden», sagte Mauch. Gefordert wurden etwa neue Denkmäler oder die Umbenennung von Plätzen und Strassen. Zudem sorgten Holzfiguren im Schulhaus Hirschengraben, rassistische Inschriften im Niederdorf sowie der Umgang mit der Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich für breite Diskussionen. 

Bis anhin habe die Stadt einzelfallbezogen gehandelt, sagt Mauch, ohne strategische Grundlage und ohne Abstimmung zwischen den Departementen. Das soll sich nun ändern.

Gelder für erinnerungskulturelle Projekte

Die neue Fachstelle werde die Aktivitäten der Stadt in diesem Bereich koordinieren und als zentrale Anlaufstelle fungieren. Zudem soll sie erinnerungskulturelle Initiativen im öffentlichen Raum betreuen und Austauschformate initiieren. Unterstützt wird sie von einer beratenden Kommission, die fachliche Perspektive einbringen und Gesuche prüfen soll.

So will die Stadt neu Gelder für erinnerungskulturelle Projekte vergeben. Welche Formen diese annehmen können, ist noch offen – das Feld sei breit, sagte Mauch: «Erinnerungskultur kann viele Ausdrucksformen haben, von Gebäudenamen und historischen Führungen über Schulmaterialien bis hin zu Filmen, Fotos, Denkmälern oder Traditionen.» Selbst wolle die Stadt nicht inhaltlich steuernd eingreifen.

Corine Mauch an der Medienkonferenz
«Jüdische wie auch Frauenperspektiven sind in der Geschichte Zürichs bislang zu wenig beleuchtet worden», sagte Stadtpräsidentin Corine Mauch. (Bild: Kai Vogt)

Zwei Beispiele für solche Projekte wurden am Montag präsentiert. 

Einerseits das Museum «Schauplatz Brunngasse» im Zürcher Niederdorf, wo auch die Medienkonferenz stattfand. Das Haus war im Mittelalter im Besitz einer wohlhabenden jüdischen Familie; an den Wänden sind noch heute farbige Wappen mit hebräischen Inschriften zu sehen. Der Ort ist seit November 2020 öffentlich zugänglich. 

Andererseits der «Frauenstadtrundgang Zürich»: Mit Führungen, Publikationen und Ausstellungen macht das Projekt Frauen- und Geschlechtergeschichte sichtbar. Beide Initiativen sind durch privates Engagement entstanden.

Kontextualisierungen als «Königsweg»

Sowohl jüdische als auch Frauenperspektiven seien in der Geschichte Zürichs bislang wenig berücksichtigt worden, so Mauch. Ihnen, ebenso wie der Migrationsgeschichte und der Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, solle die neue Strategie besondere Aufmerksamkeit widmen. Die Stadt will dadurch ein differenzierteres Verständnis ihrer Vergangenheit fördern. 

Noch sei die Erinnerungskultur stark einseitig geprägt, sagte Barbara Kieser, Projektleiterin der städtischen Strategie Erinnerungskultur. «Heute sind auf Denkmälern vor allem Vertreter der männlichen Elite des 18. und 19. Jahrhunderts zu sehen.» Solche Monumente spiegelten ein heroisierendes Geschichtsverständnis wider. 

«Eine Einzelperson wird auf den Sockel gestellt, komplexe historische Prozesse und das Umfeld ausgeblendet», so Kieser. Das sei heute überholt. Dennoch sollen bestehende Denkmäler grundsätzlich nicht abgerissen werden. Vielmehr sollen kontextualisierende Ansätze unterstützt werden, dies sei der «Königsweg».

Im Leitbild der Strategie heisst es zudem: «In Härtefällen kann eine Entfernung oder Anpassung geprüft werden.» Einen definierten Prozess zur Beurteilung solcher Fälle gibt es laut Stadt derzeit noch nicht. Die Verantwortlichen betonten an der Medienkonferenz, Entscheide würden auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter Wahrung der Menschenwürde getroffen.

FDP warnt vor Denkmal-Abriss

In der Politik stösst die neue Initiative der Stadt auf Zustimmung. «Für uns klingt das grundsätzlich positiv», sagt FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois. Entscheidend sei, dass die Fachstelle auf wissenschaftlicher Grundlage arbeite – und dass keine Denkmäler abgerissen, sondern kontextualisiert würden.

Auch die SP begrüsst das Vorhaben. Für Gemeinderätin Maya Kägi Götz ist zentral, dass historische Ungleichheiten stärker sichtbar werden. Diese zeigten sich auch im öffentlichen Raum, wo deutlich weniger Plätze und Strassen nach Frauen als nach Männern benannt sind. «Dass der Dialog über unsere Geschichte nun breiter gefördert wird, begrüssen wir sehr», sagt Kägi Götz.

Das ganze Projekt kostet die Stadt jährlich 375'000 Franken. Das Geld muss jedoch erst noch vom Gemeinderat gesprochen werden. Er entscheidet voraussichtlich im Frühjahr 2026.

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