Jéssica Teixeira: «Mein Körper ist meine Waffe»

Mit «Monga» bringt die Regisseurin Jéssica Teixeira eines der meistdiskutierten Stücke Brasiliens ans Theater Spektakel. Ein Interview über Teixeiras schonungslose Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Körperidealen.

Jéssica Teixeira mit Monga am Theater Spektakel
«I'm not afraid of my body. If I was, would you be more comfortable?», fragt Teixeira in ihrem Solostück «Monga». (Bild: Lilia Zanetti)

Yann Bartal: Sie kommen bald nach Zürich ans Theater Spektakel mit Ihrem Stück «Monga», das den renommiertesten Theaterpreis Brasiliens gewonnen hat. In einem Satz: Worum geht es in «Monga»?

Jéssica Teixeira: «Monga» ist eine grosse Zusammenkunft, ein «Safer Space», in dem man gemeinsam singen, tanzen und Cachaça trinken kann.

Das klingt nach einem Ritual. 

Ja und nein. Ich möchte Räume schaffen, in denen wir mit all unseren Ängsten und Unsicherheiten zusammenkommen und lachen können. Monga ist eine Reflexion darüber, wie die Gesellschaft mit Körpern umgeht, die als anders angesehen werden.

Die Menschen sollen das Theater mit einem Gefühl der Unruhe oder Verwirrung verlassen, mit Bildern und Ideen, die ihnen im Kopf bleiben. Ich sage zu Beginn des Stücks: «Wir haben Cachaça. Nehmt euch davon, denn ihr werdet es vielleicht brauchen, um Monga zu überstehen.»

In dem Stück erzählen Sie die Geschichte von Julia Pastrana. Wer ist sie?

Julia Pastrana war eine mexikanische Künstlerin und ein Genie. In den 1850er-Jahren sang und tanzte sie und sprach mehrere Sprachen. Sie wurde weltweit bekannt aufgrund ihres Aussehens.

Pastrana wurde mit Hypertrichose geboren, einer genetischen Störung, die übermässigen Haarwuchs verursacht, und aufgrund ihrer körperlichen Besonderheit trat sie in Zirkussen auf und tourte durch ganz Europa. 

Jéssica Teixeira mit Monga am Theater Spektakel
Nur mit einer Gorillamaske bekleidet beginnt Teixeira ihre Performance. (Bild: Camilla Rios)

Als «bärtige Frau» wurde Julia Pastrana in sogenannten Freakshows ausgestellt. Inwiefern spricht Sie ihre Geschichte an?

Als ich jung war und meine berufliche Laufbahn in der darstellenden Kunst begann, habe ich mich oft gefragt: Engagieren mich die Leute und applaudieren sie mir, weil ich eine grossartige Künstlerin bin, oder wegen meines Körpers?

Diese Frage stelle ich auch heute noch bei vielen Festivals: «Warum wollen Sie Monga oder Jéssica Teixeira in Ihrem Programm haben?» Diese Frage bringt die Leute oft in Verlegenheit. Und ich selbst habe keine Antwort darauf.

Zu Beginn des Stücks betreten Sie die Bühne nackt, nur mit einer Gorillamaske bekleidet. Wie fühlt es sich an, nackt zu sein?

Es ist sehr lustig. Ich liebe es, nackt zu sein. Ich fühle mich in meinem Körper vollkommen wohl. Die Leute erwarten, dass ich mich schäme oder blossgestellt fühle. Aber wenn das Publikum sieht, dass ich selbstbewusst und entspannt bin, während sie selbst vollständig bekleidet sind und sich dennoch unwohl fühlen, löst das in vielen ein Entsetzen hervor.

In Zürich gibt es die «Werdinsel» ein kleiner Flussabschnitt, wo es offiziell erlaubt ist, nackt zu sein. Immer wieder versuchen einige Leute, dies zu verbieten. Wie wird Nacktheit in Brasilien behandelt?

Brasilien ist ehrlich gesagt nicht so liberal. Die Leute meinen oft, Brasilien sei wegen des Karnevals sehr offen, aber wirklich nackt zu sein, ist immer noch ein Tabu.

Was steckt hinter der Angst vor dem nackten Körper?

Ich denke, es hat mit Verletzlichkeit zu tun. Die Menschen haben Angst vor ihrer eigenen Verletzlichkeit und der anderer. Wenn jemand nackt ist, gehen wir davon aus, dass diese Person verletzlich ist. Und weil die meisten Menschen Kleidung, eine Schutzrüstung brauchen, um sich sicher zu fühlen, fühlen sie sich unwohl, wenn sie jemanden sehen, der das nicht braucht.

Sie fühlen sich nicht verletzlich, wenn Sie nackt sind?

Nein, das tue ich nicht. Ich hoffe, dass ich niemals eine Waffe in die Hand nehmen muss, aber ich denke, mein Körper hat eine eigene Kraft – er ist meine Waffe.

Laut dem Bundesamt für Statistik leben heute rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung der Schweiz mit einer Behinderung. Gleichzeitig sind auf der Bühne kaum Menschen mit Behinderung zu sehen. Was raten Sie Theaterinstitutionen in Zürich, um inklusiver zu werden?

Ich bin nicht gut darin, Ratschläge zu geben (lacht). Ich wurde oft nach Ratschlägen zur Barrierefreiheit gefragt. Aber lange Zeit kannte ich nur Ausgrenzung. Ich hatte nicht einmal die Sprache, um über Barrierefreiheit zu sprechen. Ich konnte nur darüber sprechen, wie es sich anfühlt, ausgeschlossen zu sein. Erst 2017 oder 2018 begann ich mich bewusst und aktiv mit Barrierefreiheit auseinanderzusetzen.

Grundsätzlich müssen wir die Vorstellung überwinden, dass wir nur fünf Sinne haben. 

Inwiefern?

Wir können mit unseren Fingern lesen, mit unserer Zunge sehen, mit unseren Augen hören. Es gibt so viele weitere Möglichkeiten. 

Barrierefreiheit sollte keine einseitige Geste sein, bei der man anderen Teilhabe gibt. Wenn wir beginnen, uns neu zu erfinden, wird dies zu einem wechselseitigen Prozess – einem Raum, in dem wir voneinander lernen. Ich integriere Barrierefreiheit nicht in meine Arbeit, um blinde oder gehörlose Menschen im Publikum zu haben. Ich tue es, weil ich mich als Künstler weiterentwickeln möchte. 

Vom 28. bis 30. August werden Sie «Monga» in Zürich aufführen. Worauf freuen Sie sich?

Ich bin sehr aufgeregt und neugierig. Ich werde am 25. August ankommen – ein paar Tage vor den Aufführungen. Ich weiss noch nicht viel über die Schweiz. Nur, dass es in Zürich Schokolade, Käse und einen See gibt.

Dann werden Sie sicher nicht enttäuscht sein.

Grossartig, ich freue mich darauf.

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