Sexarbeit: «Sagt das Gegenüber ja zum Geld oder ja zum Geschlechtsverkehr?»

Die Frauenzentrale Zürich fordert ein Sexkaufverbot, um die Situation für Prostituierte zu verbessern. Olivia Frei von der Frauenzentrale und Nathalie Schmidhauser von Procore, einem Netzwerk für Sexarbeitende, diskutieren über günstigen Sex, Vorurteile und Konsens in der Sexarbeit.

Olivia Frei, Geschäftsleiterin Frauenzentrale Zürich, und Nathalie Schmidhauser, wissenschaftliche Mitarbeiterin Procore, diskutieren über ein Sexkaufverbot. (Bild: Lara Blatter)

Wieso sind Wörter wie Schlampe oder Hure für Frauen abwertend? 

Olivia Frei: Dass diese Begriffe als Schimpfwörter verwendet werden, hat viel damit zu tun, wie wir gesamtgesellschaftlich weibliche Sexualität sehen und werten. Es herrscht die Meinung, Männer hätten den Trieb, das Verlangen und häufig wechselnde sexuelle Kontakte und das ist ok. Frauen, die so leben, werden hingegen abgewertet. Es gib Hure oder Heilige.

Nathalie Schmidhauser: Es zeigt, wie stigmatisiert Sexarbeiterinnen sind. Und das nicht nur aufgrund ihres Berufs, sondern auch weil viele Migrantinnen sind, weil sie Frauen of Colour sind oder weil sie arm sind. 

Olivia Frei, bei der Frauenzentrale Zürich habt ihr kürzlich einen Leitfaden zu Prostitution in der Schweiz herausgebracht. Darin propagiert ihr das nordische Modell. Dieses ist ein Massnahmenpaket mit vier Grundpfeilern. Zwei davon sind die Entkriminalisierung von Prostituierten – sie sollen das Recht haben, sich zu prostituieren – und gleichzeitig machen sich Freier strafbar. Wieso sollen Freier bestraft werden?

O.F.:  Das nordische Modell anerkennt, dass die Nachfrage Kern des Problems ist. Wäre die Nachfrage kleiner, hätten wir weniger Frauen in der Prostitution. Im nordischen Modell werden die Käufer gebüsst und nicht die Prostituierten. In Zürich ist es genau andersherum: Arbeite ich in Zürich als Prostituierte und werde ausserhalb der drei Strichzonen erwischt, kann ich heute gebüsst werden. Während die Frauen entkriminalisiert werden, werden die Männer, welche die Dienstleistungen kaufen und damit die Ausbeutung von Frauen in Kauf nehmen, strafbar gemacht.

Nathalie Schmidhauser, ihr bei der Organisation Prostitution Collective Reflexion (Procore) stellt euch klar gegen ein Sexkaufverbot. Wo sehen Sie Lücken im nordischen Modell?

N.S.: Ich bin auch für eine Entkriminalisierung von Sexarbeiter:innen. Doch beim nordischen Modell werden Sexarbeitende durch die Hintertüre kriminalisiert. Denn alle, die von der Sexarbeit profitieren oder Sexarbeitende unterstützen, werden kriminalisiert. Also auch Vermieter, Taxifahrer oder Sexarbeitende, die zu ihrem eigenen Schutz zusammenarbeiten. Sie machen sich der wechselseitigen Zuhälterei strafbar. Das ergibt in unseren Augen keinen Sinn. Gewalt, Repression und Stigma steigen. 

«Die Prostitution abzuschaffen, wäre zwar wünschenswert, aber illusorisch.»

Olivia Frei, Frauenzentrale Zürich

Heisst, das Sexkaufverbot drängt die Frauen eher in die Illegalität?

O.F.: Das ist ein Scheinargument welches suggeriert, dass Prostitution in einer legalen Gesetzgebung total transparent stattfindet. Illegal verhält sich im nordischen Modell, wer von der Prostitution profitiert, sie aber nicht selbst ausübt. Gerade letzte Woche kam die Nachricht, dass das erste amtlich bewilligte Bordell der Schweiz, das Petit Fleur in Wollishofen, schliessen wird. Aber auch dort arbeiteten Frauen ohne Bewilligung. Das zeigt, dass auch unser jetziges System nicht vor Illegalität schützt.

N.S.: Da stimme ich dir zu. Aber ein gutes Beispiel ist Frankreich: Dort wurde ebenfalls das nordische Modell eingeführt. Im Park Bois de Boulogne in Paris wurde schon zuvor Sexarbeit angeboten. Seit aber das Sexkaufverbot eingeführt wurde, wurde die Arbeit noch prekärer. Die Freier wollten sich nicht mehr auf der beleuchteten Strasse blicken lassen und so verschob sich die Sexarbeit ins Dunkle, in den Wald. Gewalt und Raub sind massiv angestiegen.

O.F.: Frankreich setzt nicht alle Pfeiler des nordischen Modells gut um. Nur Sexkäufer zu bestrafen, bringt wenig. Das Modell basiert auf Aufklärung, Prävention, Entkriminalisierung und eben dem Sexkaufverbot. Es braucht auch Programme, die Frauen helfen, wenn sie das Gewerbe verlassen wollen. Hier hat Frankreich versagt.

Worin sie sich einig sind: Sexarbeit überschneidet sich mit Migrations- und Sozialpolitik – und macht es deshalb so komplex. (Bild: Lara Blatter)

Wie funktionieren diese Ausstiegsprogramme?

O.F.: Es gibt nicht das perfekte Programm für alle. Die Prostitution abzuschaffen, wäre zwar wünschenswert, aber illusorisch. Darum müssen wir jenen Frauen, welche die Branche verlassen wollen, helfen, auszusteigen. Es braucht unter anderem Umschulung, rechtliche Beratung und Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern.

N.S.: Umschulungen sind wichtig und unsere Basisorganisationen bieten diese bereits an. Es braucht aber auch gute Arbeitsbedingungen. Denn nicht alle Sexarbeitende können oder wollen den Job wechseln. Viele sind migrantische Personen mit prekärem Aufenthaltsstatus, finanziellen Nöten und Sprachbarrieren. Ihnen allen müsste man einen Grundlohn, ihre Umschulung und Sprachkurse bezahlen. Zudem bräuchten sie eine permanente Aufenthaltsbewilligung. Dafür fehlt aber der politische Wille. Zudem kann es auch nicht die Lösung sein, dass sie in anderen prekären Jobs landen. Ausbeutung, Gewalt und miserable Löhne sind bei Hausangestellten, Nannys, Pflegende im Privatbereich genauso ein Thema. Auch dort arbeiten mehrheitlich Migrant:innen.

«Unser kapitalistisches System produziert weiter arme Frauen, deren einziger Ausweg die Sexarbeit oder andere prekäre Jobs sind.»

Nathalie Schmidhauser, Procore

O.F.: Du kannst Prostitution nicht mit einer Anstellung in der Pflege vergleichen. Dass der politische Wille fehlt, Ressourcen zu sprechen, da gebe ich dir recht. Aber ich bin der Meinung, dass im nordischen Modell die Nachfrage zurückgeht und so auch weniger Frauen in die Schweiz kommen, um sich zu prostituieren. Ein Land mit dem nordischen Modell wird für Menschenhändler unattraktiver. Angebot und Nachfrage sind die Grundprinzipien der Marktwirtschaft. Aber wir brauchen Lösungen auf gesamteuropäischer Ebene. Sonst verschiebt sich die Prostitution auf die Nachbarländer. Das hat auch das EU-Parlament erkannt und Mitte September beschlossen, europaweite Leitlinien, ähnlich wie im nordischen Modell, zu erarbeiten. 

N.S.: Nur weil die Nachfrage von Freiern zurückgeht, geht das Angebot nicht automatisch auch zurück. Dafür gibt es strukturelle Gründe: Armut, Diskriminierung, tiefe Frauenlöhne. Unser kapitalistisches System produziert weiter arme Frauen, deren einziger Ausweg die Sexarbeit oder andere prekäre Jobs sind. Das Schwedenmodell macht ihr Leben härter und gefährlicher.

In einer Gesellschaft, die die Gleichstellung der Geschlechter fordert, gebe es keinen Platz für Prostitution, findet Olivia Frei. (Bild: Lara Blatter)

Eine kürzlich erschienene SRF Doku zeigte, dass in Zürich viele Sexarbeiterinnen aus Nigeria kommen. Die meisten Frauen seien Zwangsprostituierte und Opfer von Menschenhändlern. Schauen die Behörden zu sehr weg? 

O.F.: Ich würde nicht unterstellen, dass es ein bewusstes Wegschauen ist. Kürzlich habe ich mit Vertreter:innen vom Kanton gesprochen. Sie sagten klar: Wo es keine gesetzliche Grundlage gibt, können wir nichts machen. Und die kriminellen Netzwerke nutzen oft legale Strukturen für ihre Geschäfte. Ausserdem sind die Behörden überfordert – Prostitution und Menschenhandel sind globale Probleme, die wir nicht alleine in Zürich lösen können.

N.S.: Will man Menschenhändler verfolgen, ist man auf die Aussagen von Opfern angewiesen. Doch diese erhalten in der Schweiz keine permanente Aufenthaltsbewilligung, auch wenn sie sich für ein Strafverfahren entscheiden. Das ist problematisch, weil die Schweiz ihnen so keine Sicherheit bietet. 

O.F.: Opfer von Menschenhandel sind oft traumatisiert und gar nicht in der Lage, Aussagen zu machen. Und es trifft arme People of Color und die breite Öffentlichkeit interessiert sich überspitzt gesagt leider nicht für sie.

«Die Nachfrage nach billigem Sex ist problematisch.»

Nathalie Schmidhauser, Procore

Schätzungen der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) sprechen von 13‘000 bis 20‘000 Sexarbeiter:innen in der Schweiz. Und von 350‘000 Männern ist die Rede, die mindestens einmal pro Jahr Freier sind, das heisst, fast jeder fünfte Mann in der Schweiz zwischen 20 und 65 Jahren. Blenden diese Männer die teils prekäre Lage der Frauen aus?

O.F.: Ja. Freier, die realisieren, dass Prostituierte unter prekären Bedingungen arbeiten, melden dies kaum. Freierstudien zeigen genau das: Auch wenn sie Zwang vermuten oder gar davon wissen, tun sie nichts. Das heisst für mich, dass ihnen die Frauen egal sind.

N.S.: Ich stimme zu, dass die Nachfrage nach billigem Sex problematisch ist. Aber Freier werden auch stark stigmatisiert: Sie gelten alle als pervers und gewalttätig. Sexarbeiter:innen haben hier eine nuanciertere Meinung, sie haben teils auch geschätzte Stammkundschaft. 

O.F.: Dass wir glauben, nur bestimmte Männer seien Freier, ist ja auch ein Schutzmechanismus. Denn am Ende des Tages sind sie unsere Männer, Väter und Söhne. 

Das nordische Modell geht davon aus, dass Sexarbeit per se eine Menschenrechtsverletzung ist. Bezahlung und Konsens, geht das zusammen?

O.F.: Nein. Die meisten Freier wissen nicht, welchen prekären Bedingungen die Frauen ausgesetzt sind. Sie gehen das Risiko ein, dass sie Sex mit einer Person haben, die nicht selbstbestimmt über ihren Körper verfügen könnte. Der Fluss von Geld stellt den Konsens in den Hintergrund. Denn sagt das Gegenüber ja zum Geld oder ja zum Geschlechtsverkehr?

N.S.: Bezahlung verhindert doch nicht per se Konsens, wie bei anderen Jobs auch nicht. Klar, die Selbstbestimmtheit kann durch wirtschaftlichen Druck eingeschränkt werden. Studien von Menschenrechtsorganisationen zeigen, dass dieser Druck im nordischen Modell steigt. Plus ist Sexarbeit nicht per se eine Menschenrechtsverletzung. Was ich von unseren Basisorganisationen immer wieder höre, ist: Die sexuelle Dienstleistung ist nicht das grösste Problem für Sexarbeitende. Sondern es ist das Stigma, das dazu führt, dass viele ein Doppelleben führen.

Nathalie Schmidhauser: «Die Arbeitsbedingungen werden nicht besser, wenn deine Kundschaft und alle um dich herum Kriminelle sind.» (Bild: Lara Blatter)

Sie beide nutzen unterschiedliche Begriffe. Der Begriff Sexarbeit hebt die selbstbestimmte Prostitution hervor und will die negative Konnotation reduzieren, die dem Begriff Prostitution anhaftet. Gibt es selbstbestimmte Prostitution?

N.S.: Ja, und sie ist kein Randphänomen. Bei der Sexarbeit wird diese Frage immer wieder gestellt. Das macht man bei keinem anderen Beruf. Dabei könnte man auch fragen: Wer putzt schon gern freiwillig? Wer arbeitet freiwillig zwölf Stunden pro Tag in einer Textilfabrik für einen Minimallohn? Niemandem käme es jedoch in den Sinn, Hausarbeit oder Textilfabriken zu verbieten.

O.F.: Aber das kann man doch nicht vergleichen. Prostituierte haben viel mehr Traumata und gesundheitliche Folgeschäden von ihrem Job. Wenn man das vergleicht, ist das aus meiner Sicht eine Verhamlosung der psychischen und physischen Folgen der Prostitution. In einer Gesellschaft, die Gleichstellung der Geschlechter als Ziel hat, hat Prostitution keinen Platz. 

N.S.: Was ich mit dem Beispiel der Textilfabrik zeigen will: Es gibt sehr viele Menschen, die keine Wahl haben und einen Job machen, um zu überleben. Und lediglich bei der Sexarbeit haben wir die Erwartung, dass sie es gern und freiwillig machen müssen. Wichtiger ist, dass sie die Arbeit selbstbestimmt und frei von Diskriminierung und Kriminalisierung machen können.

O.F.: Ich gebe dir recht, dass das Suchen von Erfüllung in einem Job eine privilegierte Position ist. Aber Erfüllung und Selbstbestimmung sind nicht dasselbe.

N.S.: Aber Sexarbeit ist eine Arbeit, mit der Menschen ihre Existenz sichern. Je besser die Arbeitsbedingungen sind, desto selbstbestimmter kann jemand arbeiten. Und da komme ich zurück auf das nordische Modell – die Arbeitsbedingungen werden nicht besser, wenn deine Kundschaft und alle um dich herum Kriminelle sind. Jene Menschen, die keine andere Möglichkeit als die Sexarbeit haben, für diese wird die Situation schlechter. Man trägt das moralische Ziel – eine Gesellschaft ohne Sexarbeit – auf dem Rücken der Vulnerabelsten aus. Es ist ein Gesetz gegen Frauenrechte. 

O.F.: Da widerspreche ich. Das Ziel ist nicht eine Gesellschaft ohne Prostitution, sondern eine Gesellschaft, in der so wenige Frauen wie möglich in der Prostitution ausgebeutet werden. Wie sieht eure konkrete Vorstellung aus, wie mehr Frauen selbstbestimmt in der Prostitution arbeiten können?

N.S.: Sexarbeiter:innen brauchen überall Zugang zu Beratungsstellen und niederschwelligen Gesundheitsangeboten, sie brauchen bezahlbare Wohn- und Arbeitsräume. Sie brauchen Zugang zu Arbeiter:innenrechten und sozialversicherungsrechtlichem Schutz. Dafür braucht es Kontrollen, die Behörden müssen hinschauen. Und wir müssen das Stigma abbauen.

Das Stigma scheint für Sie beide ein wichtiger Faktor. Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass betroffene Frauen entstigmatisiert werden?

O.F.: Die Behörden sind oft nicht sensibel im Umgang mit prostituierten Menschen. Geregelt werden Melde- und Bewilligungsverfahren, aber es gibt wenig Bewusstsein dafür, in welchen vulnerablen Positionen diese Menschen sind. Zudem kommen viele der prostituierten Frauen aus Regionen, wo wenig Vertrauen in Behörden herrscht. Diesem Umstand wird durch unsere Behörden oftmals auch wenig Rechnung getragen. 

N.S.: Ja, und auf der individuellen oder gesellschaftlichen Ebene kann man da ansetzen, wie man über Sexarbeitende spricht. Setzt man Sexarbeitende als urteils- und handlungsunfähige Personen herab, oder akzeptiert man sie als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft? 

Procore und Frauenzentrale Zürich

Nathalie Schmidhauser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prostitution Collective Reflexion (ProCoRe). Procore ist der Dachverband von Beratungsstellen für Sexarbeitende in der Schweiz. Sie vertreten 28 Basisorganisationen, die täglich Sexarbeitende beraten und in der Nacht aufsuchend im Milieu unterwegs sind. 

Olivia Frei ist Geschäftsleiterin der Frauenzentrale Zürich. Der Verein ist der grösste Dachverband von Frauenorganisationen im Kanton Zürich. Sie unterstützen, vernetzen und vertreten Anliegen von Frauen in der Politik, der Arbeitswelt und der Gesellschaft. 

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