Drogenexperte zur Bäckeranlage: «Das Problem ist die Gentrifizierung»

Michael Herzig kennt Zürichs Drogenszene wie kaum ein anderer: Als ehemaliger Drogenbeauftragter der Stadt erlebte er die offenen Szenen hautnah. Im Interview warnt er davor, die Situation in der Bäckeranlage dramatischer darzustellen, als sie ist.

Ehemaliger Drogenbeauftragter Michael Herzig steht in der Bäckeranlage, Zürich
Michael Herzig kann sich noch an ganz andere Zeiten in der Bäckeranlage erinnern. (Bild: Yann Bartal)

Yann Bartal: Was geht Ihnen als ehemaliger Drogenbeauftragter der Stadt Zürich durch den Kopf, wenn wir hier in der Bäckeranlage sitzen?

Michael Herzig: Ich habe diesen Platz noch in Erinnerung, als hier eine viel sichtbarere Drogenszene existierte als heute. Damals war die Situation deutlich problematischer. 

In den 2000er-Jahren wurde hier am Brunnen, wo wir sitzen, offen Heroin verkauft. Auf der Wiese haben ganze Gruppen von Menschen zusammen Crack geraucht. 

Ich klinge wie ein alter Sack, aber ich habe erlebt, wie hier Crack-Wolken über die Bäckeranlage zogen. Das ist heute nicht mehr der Fall. 

Seit zwei Jahren wird intensiv über das Drogen-Problem in der Bäckeranlage berichtet. In dieser Woche alleine schrieben Watson und der Blick über die hiesige offene Drogenszene. Auch wir berichteten über den neuen Drogen-Hotspot. Übertreiben wir Medien?

Das «grosse Crackproblem», über das seit ein paar Jahren berichtet wird, ist übertrieben. Das war damals genauso ein Thema. Natürlich will niemand – ich auch nicht –, dass die Zustände von früher zurückkehren. Aber die Situation ist heute nicht so dramatisch, wie sie oft dargestellt wird.

Wenn es gar nicht schlimmer geworden ist, warum wird dann jetzt intensiv über eine drohende offene Drogenszene diskutiert?

Das hat mit der Gentrifizierung zu tun. Wer heute 3'000 Franken für eine Dreizimmerwohnung bezahlt, erwartet ein ruhiges, sauberes Quartier. Wenn dann im Hinterhof gedealt oder konsumiert wird und wenn es nachts laut ist, weil Leute Kokain nehmen, fühlen sich viele vor den Kopf gestossen: «Ich zahle so viel, ich habe das Recht, mich nicht mit Junkies auseinanderzusetzen.»

An einer städtischen Infoveranstaltung für Anwohnende haben viele Leute geschildert, dass sie aus Angst die Bäckeranlage meiden. Können Sie verstehen, woher die Angst kommt?

Man muss unterscheiden zwischen einer objektiven Bedrohung und subjektiver Angst. Das ist nicht dasselbe. Angst ist real, und die muss man ernst nehmen. Aber oft ist es das Unbekannte, das Angst macht. Das grösste Problem sehe ich im fehlenden Kontakt.

Inwiefern?

Ich wohne seit 20 Jahren im Kreis 5 direkt an der Langstrasse. Als ich dort einzog, lagen im Hauseingang regelmässig Spritzen und im Hinterhof wohnte ein Junkie. Ich habe jedes Mal mit ihm gesprochen. Diese Begegnungen haben mir die Angst genommen. Deshalb sage ich: Redet mit ein paar Abhängigen oder auch mit Dealern, dann nimmt die Angst möglicherweise ab.

Heisst das, die Anwohnenden sind selbst schuld an ihrer Angst?

Niemand soll mit Angst leben müssen. Aber ich wünsche mir, dass Menschen auch bereit sind, selbst etwas gegen ihre Angst zu unternehmen. Wer erwartet, dass Stadt, Polizei oder irgendjemand das Problem einfach löst, verdrängt, dass wir uns immer noch im Kreis 4 befinden.

An der Infoveranstaltung forderten viele Anwohnende durchgehende Polizeipräsenz. Wie beurteilen Sie das?

Die Polizei kann die Leute vertreiben, nicht heilen. Sie macht das Leben der Süchtigen nicht besser, eher schlimmer. Für die Nachbarn wäre der Gewinn, dass sie dadurch besser schlafen können.

Und was wäre der Preis?

Permanente Polizeipräsenz rund um die Uhr wäre extrem teuer. Und ich bin sicher: Viele Anwohnende würden sich auch unwohl fühlen, wenn ständig uniformierte Personen präsent sind.

Wieso?

Wenn die Polizei mit schärferen Mitteln vorgeht, hat das zwar gewisse kurzfristige Effekte, aber immer auch Nebenwirkungen. Stellen Sie sich durchgehende Polizeipräsenz mit Ausweiskontrollen vor. Wenn sich jemand wehrt, endet das auf dem Boden mit Handschellen. Dann muss man sich fragen, ob alle Anwohnenden diese Form von «Ordnung» als Lebensqualität ansehen werden.

Das heisst also, wir sollten mehr Verständnis zeigen. Aber warum soll ich solidarisch sein mit Menschen, die auch keine Rücksicht auf mein Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf nehmen?

Dieses Argument könnte ich akzeptieren, wenn man es konsequent auch gegenüber Autofahrer:innen oder der Partyszene anwenden würde. Faktisch richtet es sich aber fast nur gegen sogenannte «Randständige». Der Lärm von Drogenkonsumierenden oder Alkoholabhängigen stört offenbar mehr als der von Autoposern. Die Hemmschwelle, sich gestört zu fühlen, ist bei stigmatisierten Gruppen tiefer. Das ist der entscheidende Punkt.

Einem Verbot für Autokorso würde ich mich sofort anschliessen.

Wir lesen aber kaum in den Medien, dass das ein Problem sei. Dann heisst es meist, wie toll die Stimmung an der Langstrasse gewesen sei. Das zeigt die Vorurteile: Es gibt Menschen, deren Verhalten sozial akzeptiert wird, und solche, von denen wir nicht einmal wollen, dass sie sichtbar sind. Ich vertrete eine andere Haltung: Am Ende gehören alle zu dieser Gesellschaft.

Fakt ist: Drogensüchtige machen der Zürcher Bevölkerung Sorgen.

Ja, aber das Problem, über das wir hier sprechen, ist nicht die Sucht oder die Süchtigen an sich, es ist der Konsum.

Die wenigsten Leute interessieren sich für Sucht und Süchtige, sie wollen einfach nicht, dass öffentlich konsumiert wird. Und schon gar nicht Crack oder Kokain, weil das laut macht und manchmal auch aggressiv. Die Art, wie wir das Problem benennen, bestimmt auch die Antwort darauf.

Was heisst das konkret?

Entscheidend ist, ob man die Menschen oder ihr Verhalten zum Problem erklärt. Wenn man die Menschen für das Problem hält, ruft man nach durchgehender Polizeipräsenz. Das führt in eine Sackgasse. Wenn man aber sagt: Das Verhalten stört – die Lautstärke, Aggression, Trinkgelage – dann eröffnen sich andere Möglichkeiten, die weniger Schaden anrichten.

Welche Möglichkeiten meinen Sie?

Jemand muss mit diesen Menschen reden: «Bitte seid etwas leiser» oder «Nach dem vierten Pack Weisswein reicht’s». Das ist eine Aufgabe für die Stadt, für Institutionen wie die Sozialambulanz sip, nicht für die Polizei. Natürlich hat auch das einen gewissen repressiven Charakter, weil man Regeln durchsetzt. Aber der grosse Unterschied ist: Man akzeptiert die Menschen als Menschen.

Was mich in diesen Diskussionen stört: Sehr schnell werden Gruppen aufgrund äusserer Merkmale stigmatisiert. Das ist hässlich und es bringt nichts. Das Problem liegt nicht in den Menschen, sondern in ihrem Verhalten.

Was heisst das konkret für uns Anwohnende?

Es braucht Gegengewichte. Also unterschiedliche Nutzungen und vielfältiges Verhalten im Park. Sobald alle nur Drogen konsumieren, kippt die Stimmung. Das habe ich oft erlebt: Wird eine Szene zu gross, entwickelt sie eine Eigendynamik, die man fast nur noch mit Repression eindämmen kann.

Die Stadt hat vergangene Woche eine neue Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige (K&A) angekündigt – diesmal auch für Menschen, die nicht aus Zürich kommen. Finden Sie das sinnvoll?

Grundsätzlich ja. Früher wäre das undenkbar gewesen. In den 1990er- und 2000er-Jahren war die Vorstellung, eine Anlaufstelle auch für Auswärtige zu öffnen, politisch völlig tabu. Die Erinnerung an die offenen Drogenszenen damals war zu traumatisch. Menschen kamen aus Deutschland, Österreich und der ganzen Schweiz nach Zürich. Dass das heute möglich ist, mit wenig Aufregung und ohne grosses politisches Getöse, ist ein gutes Zeichen.

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Kommentare

Baracuda
25. September 2025 um 05:05

Zentrumsgruppen

Randgruppen wollen immer ins Zentrum statt an den Rand. Da seit ein paar Jahren eine positive Rückkehr auch von jungen Familien in die Innenstadt zu verzeichnen ist, gibt's Konflikte. Das die Gentrifizierung herhalten muss als Argument, finde ich falsch.