Angela: «Als Helmut eingezogen ist, war das eine Umgewöhnung»

In Zürich leben aktuell so viele Menschen wie zuletzt im Jahr 1963. Wir haben einige von ihnen zu Hause besucht. Angela lebt seit 40 Jahren in ihrer 4-Zimmer-Wohnung im Kreis 6. Der Gedanke, raus zu müssen und auf dem regulären Markt eine Wohnung finden zu müssen, beunruhigt sie.

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Der Gedanke, dass sie irgendwann aus ihrer Wohnung raus muss, bereitet ihr Sorgen. Gerne würde die 72-Jährige eine Hausgemeinschaft mit Freund:innen gründen. (Bild: Noëmi Laux)

«Fangsch?» – tönt es aus dem Fenster im dritten Stock, bevor ein kleines Etui geflogen kommt und im Gebüsch neben dem Hauseingang landet. In der kleinen Stofftasche liegt der Hausschlüssel. Einen Türöffner oder eine Freisprechanlage gibt es nicht. Doch das stört Angela nicht. Ebenso wenig, dass es keinen Lift gibt.

Als Angela jung war, wollte sie Schauspielerin werden. Sie träumte von der Bühne, dem Theater. Am Zürcher Bühnenstudio begann sie ihre Ausbildung, die sie jedoch nach einem Jahr abbrechen musste. Mit Mitte 20 holte sie die Matura nach und liess sich zur Primarlehrerin ausbilden. Es folgte die erste Anstellung an einer Primarschule in Schwamendingen, wo sie später Schulleiterin und mit 63 Jahren pensioniert wurde. Sieben Jahre später, mit 70, heiratete sie Helmut. Die beiden lernten sich zehn Jahre zuvor übers Internet kennen.

Ihre Zeit auf der Bühne liegt weit zurück, Schauspielerin ist Angela dennoch geblieben, zumindest in ihrem Auftritt. Die 72-Jährige wirkt elegant und eloquent, sie strahlt etwas Glamouröses aus. Wenn sie läuft, setzt sie sachte einen Fuss vor den anderen, wobei die Fussspitze den Boden jeweils zuerst berührt. Bevor sie fotografiert wird, zieht sie die Brille ab und den Lippenstift nach. Den roten Lippenstift trägt sie, seit ihr Haar ergraut ist. «Mir gefällt der Kontrast», sagt sie und betrachtet sich im Spiegel.

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Ein Blick in den Spiegel, die Haare richten und den Lippenstift nachziehen. «Ich bin eitel», sagt Angela über sich selbst. (Bild: Noëmi Laux)

Wo und wie wohnst du?

Ich wohne seit fast 40 Jahren in dieser Wohnung im Kreis 6. Bevor mein Mann vor neun Jahren bei mir eingezogen ist, lebte ich die meiste Zeit allein. Ich habe übergangsweise immer wieder mit Freund:innen oder Bekannten gewohnt, manchmal ein paar Monate, manchmal auch einige Jahre. Doch war immer klar: Die Wohnung gehört mir. Als Helmut eingezogen ist, war das am Anfang eine Umgewöhnung. Plötzlich war es nicht mehr nur meine, sondern unsere Wohnung. Er wollte zum Beispiel einen grösseren Fernseher. Oder auch diese Pflanze hier (zeigt auf die deckenhohe Monstera neben dem Sofa) hat er mitgebracht. Die ist toll, oder?

Wie hoch ist dein monatlicher Mietzins?

Wir bezahlen 1947 Franken Miete im Monat.

Belastet dich die Miete finanziell?

Nein. Wir können zum Glück gut von unserer Rente leben. Seit drei Jahren mieten wir zusätzlich zur Stadtwohnung ein altes Bauernhaus im Appenzellischen. Dieser Wunsch kam von Helmut. Sein Traum war es immer, ein Haus zu kaufen. Ich wollte das nie. Mit dem Miethaus im Appenzell haben wir einen guten Kompromiss gefunden. Von Frühling bis Herbst ist mein Mann sehr oft dort, viel mehr als ich. Er kümmert sich um den Garten und unsere Katzen. Ich bin noch viel mehr mit der Stadt verbunden, wo ich schon seit 53 Jahren lebe, meinen Projekten nachgehe und meine sozialen Kontakte pflege.

Wie bist du zu deiner Wohnung gekommen?

Durch ein Inserat im damals noch täglich erscheinenden Tagblatt. Ich war Anfang 30 und habe gerade meine erste Stelle als Primarlehrerin bekommen. Endlich hatte ich genug Geld für eine grössere Wohnung. Denn meine damalige war klein und dunkel, die Dusche war in der Küche und ich musste mit Holz heizen. Der Vermieter ging mir auch immer mehr auf die Nerven. So kam ich zu dieser Wohnung. An die Besichtigung erinnere ich mich noch gut. Ich trug einen selbstgestrickten zyklamroten Pullover, der gefiel der Eigentümerin. Ihrem Mann mein Job. Also bekam ich die Zusage. So einfach war es damals, eine Wohnung zu bekommen.

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Bei der Besichtigung trug sie einen selbstgestrickten Pullover, dieser gefiel der Eigentümerin. Deren Mann gefiel ihr Job. «So einfach war es damals, eine Wohnung zu bekommen.» (Bild: zVg)

Seit wann wohnst du hier?

Seit dem 1. Januar 1984 – nächstes Jahr sind es 40 Jahre. 

Was magst du an deiner Wohnung – und was nervt?

Ich mag fast alles, vor allem den Balkon und die beiden Zimmer mit Abendsonne. In der Küche fühle ich mich auch wohl, denn ich koche gerne und lade häufig Freund:innen ein. Die Küche wurde vor zehn Jahren etwas renoviert, der Heisswasserboiler aus dem Jahre 1935 blieb erhalten und funktioniert immer noch tadellos. Die alte Klospülung nervt mich, weil bei jeder Spülung zehn Liter Wasser verschwendet werden. 

Wie hat sich das Quartier verändert, seit du hier eingezogen bist?

In meiner Strasse hat sich äusserlich wenig verändert. Einige Häuser wurden teuer saniert und die Mieten entsprechend erhöht. Das Quartier wird anonymer. Das finde ich schade. Gut finde ich, dass viele Lindenbäume in der Strasse gepflanzt wurden und dass die zulässige Geschwindigkeit auf 30 km/h reduziert wurde.

Wie gut kennst du deine Nachbar:innen?

Gut bis sehr gut. Die meisten im Haus wohnen schon lange hier. Die eine Nachbarin kenne ich seit meinem Einzug, habe vieles von ihrem bewegten Leben mitbekommen, daraus ist eine gewisse Verbundenheit entstanden. 

Warum?

Vor vier Jahren bekamen wir Post von den damaligen Eigentümer:innen, mit der Nachricht, dass das Haus verkauft werden soll. Ich fiel aus allen Wolken. Doch zum Glück konnte der Nachbarssohn der Frau, zu der ich einen sehr guten Kontakt habe, das Haus dank gewisser finanzieller Mittel erwerben, sodass wir bleiben konnten.

Hast du Angst davor, aus deiner Wohnung zu müssen? 

Die Frage ist, was mit dem Haus passiert, wenn die Mutter des Eigentümers stirbt. Wird er verkaufen? Sanieren? Ich weiss es nicht. Doch die Frage, wie und wo es für Helmut und mich in Zukunft weitergeht, rückt generell immer näher. Das ist uns bewusst. Wir haben beide ein gewisses Alter, das Haus keinen Lift. Ganz in das alte Bauernhaus zu ziehen, ist keine Option. Es ist nicht isoliert und verschlingt grosse Heizkosten im Winter. Zudem hat es keine Zufahrt zum Haus.

«Der Gedanke, dass wir hier raus müssen und keine neue Wohnung in der Stadt finden, beunruhigt mich.»

Angela, lebt seit fast 40 Jahren in derselben Wohnung im Kreis 6

Wenn du wählen könntest: Wie und wo in Zürich würdest du am liebsten wohnen?

Am liebsten in einer Hausgemeinschaft. Entweder hier oder in einem grösseren Haus. Ein Garten wäre toll. Und es müsste katzenfreundlich sein. Denn die würde ich natürlich mitnehmen.

Viele sagen, in Zürich herrscht aktuell Wohnungsnot – wie nimmst du das wahr?

Ich lese viel darüber, war aber bislang nie selbst betroffen. Der Gedanke, dass wir hier raus müssen und keine neue Wohnung in der Stadt finden, beunruhigt mich. Ich wohne gerne hier, möchte nicht in die Agglo ziehen. Helmut sieht das gelassener. Ich glaube sogar, dass er sich freuen würde, wenn wir aufs Land ziehen.

Dein ultimativer Tipp für die Wohnungssuche?

Nicht die Hoffnung verlieren, allen Freund:innen sagen, sie sollen sich umhören, frühzeitig mit dem Suchen beginnen, Genossenschaften kontaktieren… Wenn das alles nichts bringt, bleibt einem wohl nichts übrig als der Wohnungsnot zu weichen und aus der Stadt zu ziehen.

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In ihrer Wohnung sammeln sich Erinnerungen. Postkarten, Geschenke, Erinnerungsstücke verschiedener Reisen. (Bild: Noëmi Laux)

Wohnzimmer oder Balkon?

Beides.

Ämtliplan oder Putzpersonal?

Selber putzen.

Mieten oder kaufen?

Mieten.

Trampelnde Kinder oder tanzende Erwachsene?

Weder noch.

Gross-WG oder 1-Zimmer-Wohnung?

Hausgemeinschaft.

Angeschriebenes Essen oder alles für alle?

Weder noch.

Serie «Wohnen in Zürich»

Im April 2023 lebten in Zürich 445'323 Menschen – so viele wie seit 1963 nicht mehr. Der Platz ist eng, der Bedarf nach Wohnraum hoch und die Sorge vor einer Kündigung bei vielen omnipräsent. Deshalb haben wir uns auf die Suche gemacht. Nach Städter:innen, die uns nicht nur die Tür zu ihrem Zuhause öffnen, sondern auch über ihre Zukunftsängste und Hoffnungsschimmer sprechen. Entstanden sind fünf Homestorys von Zürcher:innen, die ganz unterschiedlich mit der drohenden Wohnungsnot umgehen.

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