Winterrede Sandra Betschart: «Das grosse Fussballfest im Sommer – hinsetzen und geniessen.»

Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 13. bis 24. Januar 2025 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

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Sandra Betschart gibt in ihrer Winterrede Ausblick auf den Sommer. (Bild: David Taddeo)

Hier geht's zum weiteren Programm.

Rede: Sandra Betschart

Guten Abend zusammen,

der Winter ist eine Zeit der Ruhe und Besinnung, aber auch der Vorfreude.

Vor dreissig Jahren habe ich als 6-jähriges Mädchen in meinem Dorf begonnen, Fussball zu spielen und ich wusste nicht, wohin mich diese Leidenschaft zum Ball bringen wird. Ich habe damals nicht verstanden, weshalb es etwas Besonderes war, dass ich als Mädchen Fussball spiele. Mir hat es einfach Spass gemacht. Klar, mir war bewusst, dass ich das einzige Mädchen unter Jungs im Team bin und es mussten immer überall Spezialangebote für mich geschaffen werden. Ein Beispiel dafür ist das Duschen in der Schiri-Kabine nach einem Spiel. Ich erinnere mich heute daran, dass mich meine Mitspieler unterstützt und verteidigt haben. Diese Zusammengehörigkeit und gegenseitige Unterstützung machen für mich auch heute noch den Fussball aus.

Heute möchte ich über ein Ereignis sprechen, das diesen Sommer die Herzen vieler Menschen höher schlagen lassen wird: die UEFA Frauenfussball-Europameisterschaft 2025 in der Schweiz. Als ich von der Vergabe des Turniers an die Schweiz erfahren habe, schossen mir Tränen in die Augen und ich habe mir vorgestellt, was dies für den Fussball und die Frauen hier im Land bedeutet. Dieses Turnier wird nicht nur Fussballbegeisterte, sondern auch Skeptiker mitreissen. Es ist eine Bühne für den Frauenfussball, die Chancen und Herausforderungen zugleich bietet, und ein Moment, den wir gemeinsam feiern sollten.

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«Dieses Turnier wird nicht nur Fussballbegeisterte, sondern auch Skeptiker mitreissen.» (Bild: David Taddeo)

Die Frauenfussball-EM ist das grösste Turnier, das die Schweiz je für Frauen ausgerichtet hat. Lara Dickenmann, eine Legende des Schweizer Fussballs, hat in einem Interview betont, dass dieses Turnier eine riesige Chance ist – eine Bühne, um den Frauenfussball sichtbarer zu machen und längst überfällige Veränderungen anzustossen. Es geht hierbei um weit mehr als nur Sport: Die EM wird zur gesellschaftlichen Plattform, um die Bedeutung von Gleichberechtigung und die Entwicklung des Frauenfussballs zu unterstreichen.

Die Schweiz als Gastgeberland bietet dabei eine einmalige Kulisse. Austragungsorte wie Luzern, Zürich, Bern und Thun, die sich in unmittelbarer Nähe der Berge befinden, oder das eher flache Basel zeigen die Vielfalt des Landes. Die kurzen Entfernungen zwischen den Städten machen es den Fans leicht, mehrere Spiele live zu erleben, ähnlich wie bei der erfolgreichen Frauen-EM 2017 in den Niederlanden. Doch die EM ist nicht nur ein sportliches Highlight, sie wird auch ein kulturelles Fest. Rund um die Stadien sind zahlreiche Veranstaltungen geplant, die das Gemeinschaftsgefühl und die Begeisterung zusätzlich fördern.

Trotz dieser verheissungsvollen Aussichten steht der Frauenfussball in der Schweiz noch vor grossen Herausforderungen. Ich möchte darauf hinweisen, dass strukturelle Probleme den Fortschritt des Sports hemmen. Aktuell wird der Frauenfussball im Schweizer Fussballverband (SFV) im Amateurbereich vertreten – ein Zustand, der die Professionalisierung erschwert. Es fehlt an klaren Leitlinien und Strukturen für Vereine, an Investitionen und an einer gezielten Förderung einheimischer Talente. Hinzu kommt, dass es keine Obergrenzen für ausländische Spielerinnen gibt, was oft dazu führt, dass Schweizer Spielerinnen weniger Spielzeit erhalten.

Dennoch gibt es Fortschritte. Die Zuschauerzahlen bei Spielen der Nationalmannschaft steigen – Rekorde wurden zuletzt mehrfach gebrochen. Projekte wie «Fussball kann mehr», eine Initiative von fünf motivierten Frauen, setzen sich für Veränderungen ein. Sie fordern mehr Transparenz bei Gehältern, eine bessere Repräsentation von Frauen in den Führungsgremien des Verbands wie auch bei Klubs und nachhaltige Strukturen, die den Frauenfussball langfristig stärken.

Die EM im Sommer 2025 ist eine Gelegenheit, nicht nur sportlich zu glänzen, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Mit dieser Europameisterschaft kann der Frauenfussball in der Schweiz und in Europa insgesamt mehr Sichtbarkeit und Anerkennung gewinnen. Junge Mädchen werden inspiriert, wenn sie in den Stadien ihre Vorbilder anfeuern können. Vereine und Funktionäre bekommen die Chance, in die Zukunft des Sports zu investieren. Eine klare Vision wäre, dass der Frauenfussball auf allen Ebenen des Schweizer Fussballs integriert und ernstgenommen wird. Es ist entscheidend, dass der Hype des Turniers nicht mit dem Schlusspfiff des letzten Spiels endet, sondern nachhaltig in den Alltag getragen wird.

Neben allen Herausforderungen dürfen wir jedoch nicht vergessen, das Positive zu sehen. Die Vorbereitungen für das Turnier laufen auf Hochtouren, die Ticketverkäufe sind vielversprechend und die Vorfreude der Fans ist spürbar. Dies strahlt Optimismus aus: Für uns Fussballerinnen ist dieses Turnier nicht nur ein persönlicher Höhepunkt, sondern ein Neubeginn für den Frauenfussball in der Schweiz.

1971 wurde den Frauen die Tür zum Fussball geöffnet und es wurden erstmals Lizenzen an Frauen vergeben. Viel ist seither passiert. Viele junge Mädchen konnten begeistert und an die Sportart gebunden werden. Viele Freundschaften wurden durch den Fussball geschlossen und vertieft. Aktuell ist Fussball mit 40'000 lizenzierten Spielerinnen die grösste Teamsportart der Frauen. Vom Schweizerischen Fussballverband ist eines der Ziele, diese Zahl auf 80k zu erhöhen.

Lasst uns mit den Europameisterschaften im Sommer nicht nur viele weitere Mädchen und Jungs begeistern.

Lassen Sie uns Teil dieses Festes sein. Ob im Stadion oder vor dem Bildschirm, wir alle können dazu beitragen, dieses historische Ereignis zu feiern und damit den Frauenfussball zu stärken. Im Sommer 2025 wird Europas Frauenfussball seine wahre Stärke zeigen. Wir werden ein Fest voller Freundschaften und Frieden erleben. Die Schweiz hat die einmalige Chance, Sportgeschichte zu schreiben – für den Sport und für die Gleichberechtigung.

Deshalb: Hinsetzen, geniessen und Teil dieses besonderen Moments werden.

Vielen Dank.

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Die ehemalige Nationalmannschaftsspielerin ruft zum gemeinsamen Feiern auf. (Bild: David Taddeo)

Dies ist eine Medienpartnerschaft mit Karl der Grosse. Es fliesst kein Geld.

Alle Winterreden 2025 findest du fortlaufend hier zum Nachlesen

  • Eve Moser: «Selbstbestimmtes Handeln ist ein unverzichtbarer Wert – auch für Menschen in Abhängigkeit. Warum sieht unser emotionaler Reflex das anders?», 13.01.2025
  • Guy Krayenbühl: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken», 14.01.2025
  • Barbara Bosshard: «Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten», 15.01.2025
  • Sandra Betschart: «Das grosse Fussballfest nächsten Sommer in der Schweiz wird uns zeigen, wie weit der Frauenfussball in Europa ist. Hinsetzen und geniessen.», 16.01.2025
  • Prof. Dr. Christoph Sigrist: «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers.», 17.01.2025
  • Jonas Pai: «80 junge Menschen haben ausgearbeitet, wie wir die psychische Gesundheit der Schweizer Jugend verbessern können. Die Umsetzung benötigt nun die Hilfe aller!», 20.01.2025
  • Dina Pomeranz: «Die Welt verbessert sich dank der vielen Menschen, die sich dafür engagieren.», 21.01.2025
  • Karin A. Wenger: «Wie genau, und wie lange, wollen wir wirklich hinschauen?», 22.01.2025
  • Malik El Bay: «Digitalisierung formt die Gesellschaft. Doch wie stellen wir sicher, dass die Gesellschaft die Digitalisierung formt?», 23.01.2025
  • Mandy Abou Shoak: «Sicherheit durch Frieden und Gleichheit durch Solidarität», 24.01.2025
    
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