Winterrede Karin A. Wenger: «Wie genau, und wie lange, wollen wir wirklich hinschauen?»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 13. bis 24. Januar 2025 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Karin A. Wenger
Was für Bilder tauchen in Ihrem Kopf auf, wenn Sie Naher Osten hören? Wenn Sie an Syrien, Libanon, Irak, Israel, Gaza oder das Westjordanland denken?
Ich komme gerade zurück von zwei Wochen in Syrien. An meinem letzten Morgen in Damaskus bin ich mit einem syrischen Kollegen zu einem öffentlichen Park gefahren. Auf einer grünen Wiese breiteten etwa dreissig Leute ihre Tücher und Mätteli vor sich aus. Frauen, Männer, einige Junge, viele Ältere. Sie kommen jedes Wochenende in den Park – für eine gemeinsame Yogastunde.
-
An was denken Sie, wenn Sie Naher Osten hören?
-
Mein Name ist Karin A. Wenger, ich berichte als freie Reporterin vor allem aus dem arabischsprachigen Raum. In den vergangenen eineinhalb Jahren habe ich mich oft gefragt, wie wir der schieren Menge an all dem, was passiert, in unseren Berichten gerecht werden können. Immer wieder habe ich das Gefühl, an der Realität zu scheitern.
Als ich im November gefragt wurde, ob ich eine Winterrede halten würde, war ich überfordert, einen Titel für das Programmheft festzulegen. «Bis Mitte Januar kann so viel passieren», habe ich am Telefon gesagt, «vielleicht wird es einen Waffenstillstand in Gaza geben, vielleicht einen im Libanon, vielleicht auch nicht. Vielleicht wird bis dann der Irak in den Krieg hineingezogen, vielleicht gibt es weitere Raketenangriffe zwischen Israel und Iran. Ich weiss doch nicht, über was ich sprechen werde». Definitiv nicht damit gerechnet habe ich, dass ich im Januar in Syrien unterwegs sein würde, einem Land, das nach 54 Jahren Diktatur seinen Weg in die Zukunft sucht.
Diese riesigen Umwälzungen in so schnellem Tempo sind überfordernd, auch für mich als Journalistin. So viel Neues jeden Tag, über das wir berichten sollten. So viel, was untergeht in der täglichen Brutalität, was selten Platz findet in den Nachrichten, die Journalistinnen erzählen und die Leser anklicken. So viel, was wenig Reichweite erzielt auf Social Media.
Als im Libanon Ende September der grossflächige Krieg ausbrach, rasten Reporter von einer Einschlagsstelle zur nächsten, dokumentierten und fotografierten, fünf Tote hier, achtzehn Tote dort, Dutzende Verletzte, darunter kleine Kinder.
Doch Krieg, das sind nicht nur die Toten. Krieg sind Menschen wie der freundliche Pensionierte, der direkt neben einem Haus in Beirut wohnt, das nun in Trümmern liegt. Die Reporterinnen fotografierten längst an neuen Einschlagsstellen, hielten Kameras und Mikrofone vor die Gesichter schockierter Angehöriger. Doch der Herr stand auch an diesem Tag, eine Woche nach dem israelischen Angriff, wieder dort, neben dem Trümmerberg. Er sagte zu mir, er könne nicht vergessen, wie das Haus, das er von seinem Wohnzimmer aus sah, eines Abends einfach einstürzte. Die Fenster seiner Wohnung zersplitterten durch die Druckwelle – und in einem Staat, der so marode ist, dass er seinen Bürgern kaum wenige Stunden Strom pro Tag liefern kann, muss der pensionierte Libanese selbst schauen, wie er neue Fensterscheiben finanzieren soll.
Krieg sind Menschen im Libanon, die sich Anfang November beim ersten Herbstgewitter fragten, wie sie erkennen können, ob es ein Donnern ist, ein Bombenangriff oder ein Überschallknall eines Militärjets.
Krieg sind die zwei Buben im Norden Israels, deren Vater erzählt, sie könnten nach monatelangem Beschuss zwischen der Hizbollah und der israelischen Armee mittlerweile das Geräusch der Angriffe von dem der Gegenangriffe unterscheiden.
Krieg ist die Libanesin Rhéa, Akademikerin Anfang dreissig, die oberhalb von Beirut wohnt. Nachts konnte sie kaum schlafen, weil sie ständig hörte, wie die südlichen Vororte bombardiert wurden. Ihr Vater habe zu ihr gesagt: «Mach dir keine Sorgen. Wenn du den Knall hörst, hat es dich nicht getroffen.»
Krieg ist die Französischlehrerin Asma, die im südlichen Gazastreifen wohnt und nach über einem Jahr Krieg begann, banale Dinge zu vergessen. Zum Beispiel, wie ihre Stadt Khan Younis vor dem Krieg ausgesehen hat. Häuser und Strassen sind so verwüstet, dass sie sich nicht genau erinnern kann, wo einmal welcher Laden stand. Ihre Schwester, erzählte sie mir via Whatsapp-Sprachnachrichten, habe gesagt, nach einem Jahr ohne Strom und Wasser in der Wohnung habe sie vergessen, wie die Spülmaschine einzustellen wäre.
Krieg sind die hundert Pelikane, die an einem frühen Morgen Ende Oktober in einer V-Formation über die Dächer der südlichen Vororte von Beirut flogen, von denen immer noch Rauch aufstieg von den Bombardierungen in der Nacht zuvor. Ein paar Menschen hielten kurz inne und hoben den Kopf zum Himmel.
Krieg sind Zahlen, über die gestritten wird. Wie viele der Toten gehören zur Hamas, zur Hizbollah? Zehntausende Tote. Können wir uns die Menschen hinter diesen Zahlen überhaupt noch vorstellen? Haben wir mit einem getöteten Kind, dessen Vater Mitglied der Hizbollah ist, weniger Mitleid als mit einem anderen?
Krieg ist, wenn man sich Wahrscheinlichkeiten überlegt. Welche Orte sind vermutlich wie sicher? Auf welchen Strassen im Libanon haben israelische Drohnen wie oft Fahrzeuge angegriffen? Sollten wir diesen Weg benutzen?
Krieg sind Menschen in Gaza und im Libanon, die Fotos von Sonnenuntergängen über dem Meer auf Social Media teilen, um die Welt, und vielleicht sich selbst, daran zu erinnern, wie schön ihre Heimat ist.
Und ja, Krieg sind auch die Angehörigen, die bei einer Einschlagsstelle alle Anwesenden auffordern, still zu sein, und dann die Nummern ihrer Liebsten wählen. Unter den eingestürzten Häusern klingeln manchmal die Telefone. Sie geben den Zivilschützern Hinweise, wo vielleicht die Leichen liegen.
Krieg ist, wenn die Kriegsparteien irgendwann entscheiden, dass nun genug ist. Oft ist der Grund dafür nicht, dass sie finden, zu viele Zivilisten seien gestorben.
Die Kriegsparteien legen dann ein Datum fest, das später in Geschichtsbüchern stehen wird. Journalisten berichten über Waffenstillstände, Leserinnen klicken diese Nachrichten an. Kurze Erleichterung. Doch wann ist ein Krieg wirklich zu Ende?
Vergangene Woche, als der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas verkündet wird, frage ich die Französischlehrerin Asma im Gazastreifen, wie es ihr gehe. Sie schickt mir ein Foto von sich und ihrer besten Freundin, die auch an ihrer Schule gearbeitet hatte. Die beiden sind geschminkt, lächeln in die Kamera. Das Foto ist vor dem Krieg entstanden. «Ich kann mir nicht vorstellen, wieder in die Schule zu gehen ohne sie», sagt Asma. «Sie fehlt mir so sehr». Vergangenen April wurde ihre Freundin bei einem Luftangriff auf ein Nachbarhaus getötet, hatte mir Asma erzählt.
«Wir haben nun etwas Ruhe», sagt sie. «Aber nach eineinhalb Jahren… Wieso das alles? Was haben wir gewonnen? Nichts. Ich bin so wütend, traurig, was soll das alles?»
Ein Arzt aus Gaza sagt: «471 Tage hatten wir nicht den Luxus, zu kollabieren. Da war keine Zeit, um traurig zu sein. Wir beginnen nun zu verstehen, was uns passierte und können trauern. So schrecklich dieser Krieg war, die Vorstellung, dass er endet, ist ähnlich beängstigend».
Befreite israelische Geiseln, die von der Hamas festgehalten wurden, berichten auch Monate nach der Befreiung, sie hätten Mühe, sich im Alltag zurechtzufinden. Wie wird es jenen gehen, die jetzt erst freigelassen werden?
Mütter in Syrien erzählen, sie erkennten ihre Söhne nicht wieder, die aus den überfüllten Folter-Gefängnissen von Assad strömten. Ein Monat nach dem Sturz der Diktatur benutzen viele Syrerinnen immer noch fast automatisch das Wort Krise, wenn sie über den syrischen Bürgerkrieg sprechen, weil das Wort Krieg verboten war.
Wann ist ein Krieg vorbei? Im Vorort von Syriens Hauptstadt Damaskus, al-Hadschar al-Aswad, lebt die 21-jährige Maria mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann zwischen Mauern, die einst ihre Wohnung waren. Der Vorort war im Bürgerkrieg eine Hochburg der Opposition, heute ist er eine Trümmerwüste. Es ist schwer, das Ausmass und die Dimensionen der Zerstörung mit Worten zu beschreiben. Maria zeigt auf ein kleines Stück Teppich in der Mitte des Rohbaus. «Das ist der einzige Ort, der nicht nass wird, wenn es regnet». Sie lächelt. «Möchtet ihr Tee?»
Wann ist ein Krieg vorbei?
Im Irak, wo nach der US-Invasion 2003 fast dauerhaft Krieg herrschte, erzählen junge Menschen ihre Lebensgeschichten manchmal entlang der Konflikte: Geboren während den Sanktionen, Einschulung während der US-Invasion, dann Bürgerkrieg, Vormarsch des selbsternannten Islamischen Staates, Kriege gegen den IS. Vor einigen Jahren sagte ein junger Mann zu mir: Nun, seit die Lage im Irak ruhiger sei, habe er Angst. Er habe immer das Gefühl, er müsse vor etwas flüchten, aber er wisse nicht, vor was – vielleicht, weil er die Ruhe und Abwesenheit von Gefahr nicht kenne.
Wir schauen meistens hin, wenn Kriege ausbrechen. Die Aufmerksamkeit lässt nach, je länger sie dauern. Wir schauen wieder genauer hin, wenn Kriege enden. Und dann?
Haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, dass es Krieg im Nahen Osten gibt? Die Bilder der Trümmer und der Toten sehen irgendwann alle ähnlich aus.
Es braucht Energie, sich nicht abzuwenden. Es braucht offene Herzen, um sich auf Realitäten einzulassen, die anstrengend zum Begreifen und oft schwierig zum Verarbeiten sind. In diesem Sinne: Sehr herzlichen Dank fürs Zuhören.
Vielleicht können Sie in Zukunft, wenn sie Bilder von Trümmern im Nahen Osten sehen, einen Moment innehalten. Und dann versuchen, daran zu denken, dass in Damaskus jeden Freitagmorgen eine Gruppe Menschen in einem grünen Park zusammenkommt und ihre Yogamatten ausrollt. Die Stunde ist gratis, doch am Ende kramen alle einige syrische Liranoten hervor, um dem Yogalehrer das Benzin zu bezahlen.
Dies ist eine Medienpartnerschaft mit Karl der Grosse. Es fliesst kein Geld.
Alle Winterreden 2025 findest du fortlaufend hier zum Nachlesen
- Eve Moser: «Selbstbestimmtes Handeln ist ein unverzichtbarer Wert – auch für Menschen in Abhängigkeit. Warum sieht unser emotionaler Reflex das anders?», 13.01.2025
- Guy Krayenbühl: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken», 14.01.2025
- Barbara Bosshard: «Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten», 15.01.2025
- Sandra Betschart: «Das grosse Fussballfest nächsten Sommer in der Schweiz wird uns zeigen, wie weit der Frauenfussball in Europa ist. Hinsetzen und geniessen.», 16.01.2025
- Prof. Dr. Christoph Sigrist: «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers.», 17.01.2025
- Jonas Pai: «80 junge Menschen haben ausgearbeitet, wie wir die psychische Gesundheit der Schweizer Jugend verbessern können. Die Umsetzung benötigt nun die Hilfe aller!», 20.01.2025
- Dina Pomeranz: «Die Welt verbessert sich dank der vielen Menschen, die sich dafür engagieren.», 21.01.2025
- Karin A. Wenger: «Wie genau, und wie lange, wollen wir wirklich hinschauen?», 22.01.2025
- Malik El Bay: «Digitalisierung formt die Gesellschaft. Doch wie stellen wir sicher, dass die Gesellschaft die Digitalisierung formt?», 23.01.2025
- Mandy Abou Shoak: «Sicherheit durch Frieden und Gleichheit durch Solidarität», 24.01.2025
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!