Winterrede Jonas Pai: «Das drängendste Problem für junge Menschen in der Schweiz ist ihre psychische Gesundheit.»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 13. bis 24. Januar 2025 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Jonas Pai
Liebe Mitmenschen,
Welches Problem beschäftigt die Schweizer Jugend aktuell am meisten? Ist es der Klimawandel? Nein.
Ist es die Frage nach Bildungsgerechtigkeit oder sozialer Ungleichheit? Auch nicht. Das drängendste Problem, das junge Menschen in der Schweiz derzeit bewegt, ist ihre psychische Gesundheit.
Diese Erkenntnis stammt aus einer repräsentativen Umfrage von 20'000 Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz. Über 40 Prozent der Befragten nannten die psychische Gesundheit als ihr wichtigstes Anliegen – weitaus mehr als jedes andere Thema.
Doch warum ist das so? Haben wir es hier mit einer Krise zu tun?
Die 15- bis 24-Jährigen in der Schweiz weisen die schlechteste psychische Gesundheit aller Altersgruppen auf, und der Trend zeigt weiter nach unten. Jeder fünfte meldet mittelschwere bis schwere Depressionssymptome, 23 Prozent bewerten ihre psychische Belastung als mittelhoch oder hoch. Vor fünf Jahren waren es nur etwa 14 Prozent. Viele junge Menschen stehen unter immensem Druck, der aus unterschiedlichen Quellen stammt:
Die Pandemie hat soziale Kontakte eingeschränkt und unseren Alltag nachhaltig verändert. Wir verbringen mehr Zeit zuhause und erledigen viele Tätigkeiten inzwischen am Computer. Schule, Universität und Beruf setzen junge Menschen unter Leistungsdruck, Misserfolge verstärken ihre Selbstzweifel. Der Übergang ins Erwachsenenleben, der ohnehin voller Herausforderungen ist, wird durch Unsicherheiten und Stress noch belastender. Hinzu kommen die sozialen Medien, die uns unrealistische Ideale präsentieren, uns in ständige Vergleiche treiben und nicht selten süchtig machen.
Das Perfide an der Situation ist, dass genau das, was Betroffenen helfen würde – gegenseitige Unterstützung und offene Kommunikation – vom Stigma verschlungen wird. Psychische Krankheiten werden oft nicht als das angesehen, was sie sind: Krankheiten. Stattdessen haftet ihnen ein Schamgefühl an, das Betroffene davon abhält, sich zu öffnen, Hilfe zu suchen und mit anderen darüber zu sprechen. Dieses Schweigen isoliert die Betroffenen und verschärft dadurch ihre Probleme zusätzlich.
Dieses Schamgefühl ist kein unvermeidbarer Bestandteil einer psychischen Krankheit. Es ist rein gesellschaftlich bedingt. Noch vor nicht allzu langer Zeit war es nicht ungewöhnlich, dass Menschen sich auch dafür schämten, an Krebs erkrankt zu sein. Heute ist das unvorstellbar. Es liegt also in unserer Hand, das Stigma zu überwinden. Warum sollte es beschämend sein, über Depressionen, Angststörungen oder Suizidgedanken zu sprechen? Diese Krankheiten sind genauso real, genauso ernst und genauso belastend wie jede andere Krankheit – und sie verdienen dieselbe Offenheit und Unterstützung.
Wie können wir das Stigma abbauen? Und welche weiteren Schritte sind notwendig, um die psychische Gesundheit junger Menschen gezielt zu stärken?
Dafür fragt man die jungen Menschen am besten selber. Eine Gruppe von 80 repräsentativ und zufällig aus der jungen Schweizer Bevölkerung ausgelosten Delegierten hat sich unter dem Namen Zukunftsrat U24 über einen Zeitraum von drei Monaten intensiv mit genau dieser Problemstellung auseinandergesetzt und am Ende demokratisch einen Katalog mit 18 konkreten Handlungsempfehlungen verabschiedet. Organisiert und unterstützt wurde dieser Prozess von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und der schweizerischen UNESCO-Kommission.
Die Handlungsempfehlungen konzentrieren sich auf Aufklärung, Prävention, Unterstützung in der Familie und in der Schule, Schutz in der Arbeitswelt und in den sozialen Medien, sowie darauf, die psychische Gesundheit der jungen Generation zur nationalen Priorität zu machen. Teil eines Vorschlages sieht zum Beispiel die Kennzeichnung bearbeiteter Bilder auf Instagram vor – ein Schritt, der einigen sogenannten Influencern wohl missfallen dürfte.
Diese Empfehlungen richten sich überwiegend an politische und administrative Entscheidungsträger. Um deren Umsetzung zu fördern, wurde der Verein «Zukunftsrat Zentrum» gegründet, der mit gezielter Öffentlichkeitsarbeit und im Dialog mit Entscheidungsträgern an der Realisierung der Massnahmen arbeitet.
Was jedoch den grössten Unterschied machen kann, ist unser tägliches Miteinander. Unser Appell ist simpel: Man sieht den Menschen nicht immer an, welche Herausforderungen sie gerade bewältigen müssen. Darum sollten wir sie zu jedem Zeitpunkt mit Respekt und Mitgefühl behandeln.
Vielen Dank
Dies ist eine Medienpartnerschaft mit Karl der Grosse. Es fliesst kein Geld.
Alle Winterreden 2025 findest du fortlaufend hier zum Nachlesen
- Eve Moser: «Selbstbestimmtes Handeln ist ein unverzichtbarer Wert – auch für Menschen in Abhängigkeit. Warum sieht unser emotionaler Reflex das anders?», 13.01.2025
- Guy Krayenbühl: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken», 14.01.2025
- Barbara Bosshard: «Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten», 15.01.2025
- Sandra Betschart: «Das grosse Fussballfest nächsten Sommer in der Schweiz wird uns zeigen, wie weit der Frauenfussball in Europa ist. Hinsetzen und geniessen.», 16.01.2025
- Prof. Dr. Christoph Sigrist: «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers.», 17.01.2025
- Jonas Pai: «80 junge Menschen haben ausgearbeitet, wie wir die psychische Gesundheit der Schweizer Jugend verbessern können. Die Umsetzung benötigt nun die Hilfe aller!», 20.01.2025
- Dina Pomeranz: «Die Welt verbessert sich dank der vielen Menschen, die sich dafür engagieren.», 21.01.2025
- Karin A. Wenger: «Wie genau, und wie lange, wollen wir wirklich hinschauen?», 22.01.2025
- Malik El Bay: «Digitalisierung formt die Gesellschaft. Doch wie stellen wir sicher, dass die Gesellschaft die Digitalisierung formt?», 23.01.2025
- Mandy Abou Shoak: «Sicherheit durch Frieden und Gleichheit durch Solidarität», 24.01.2025
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