Winterrede Guy Krayenbühl: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken.»

Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 13. bis 24. Januar 2025 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!

Winterreden - Guy Krayenbühl 3 © David Taddeo
Guy Krayenbühl spricht über die Wichtigkeit des Zuhörens. (Bild: David Taddeo)

Hier geht's zum weiteren Programm.

Rede: Guy Krayenbühl

Falls Sie mich nicht kennen oder aufgrund des Plakates nicht erkennen: Mein Name ist Guy Krayenbühl und ich habe während den Festtagen nicht abgenommen.

Es ist mir eine grosse Freude, Sie heute quasi von der Kanzel hier im Karl der Grosse begrüssen zu dürfen. Ein Ort, der wie kein anderer für Debatten, Austausch und Vielfalt steht. Dieses Haus hat sich der Vielfalt verschrieben – nicht nur in den Themen, die hier diskutiert werden, sondern auch in der Zusammensetzung der Menschen, die hier sprechen und debattieren. Es ist ein Ort, an dem Gleichbehandlung gelebt wird, ungeachtet ethnischer oder sozialer Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Staatsangehörigkeit, sexueller Ausrichtung oder politischer Einstellung. Und da ich vis-à-vis der Kirche stehe, in der ich getauft und konfirmiert wurde und dereinst mein Lizentiat erhalten habe, ist es ja ganz passend, dass ich von der Kanzel sprechen darf – obwohl es nie meine Absicht war, Pfarrer zu werden, Politiker ist ja schon genug des Guten.

Ich habe meine Rede heute mit einem Zitat angekündigt: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken.» Dieses Zitat bringt auf den Punkt, was für mich essenziell ist – Reflexion, Achtsamkeit und die Fähigkeit, nicht nur zu sprechen, sondern auch zuzuhören. Oder um es mit einem weiteren passenden Zitat zu sagen: «Nur wenige können diskutieren. Die meisten streiten nur.» Wir leben in einer Zeit der Polarisierung. Die Stimmen werden lauter, aber oft nicht klarer. Und vor allem: Es wird immer weniger zugehört. Doch Zuhören ist die Grundlage jeder funktionierenden Gemeinschaft, und es ist für die Bewohner:innen einer Stadt wie Zürich essenziell. Es hat mit Verständnis zu tun, mit Respekt und mit Rücksichtnahme, und im engen Sozialraum Stadt scheint mir dies besonders wichtig zu sein.

Winterreden - Guy Krayenbühl 10 © David Taddeo
Der Politiker (GLP) und Rechtsanwalt plädiert dafür, die eigene Perspektive zu hinterfragen. (Bild: David Taddeo)

In der Vergangenheit gab es Kritik daran, dass Stimmen aus dem bürgerlichen, liberalen oder konservativen Spektrum bei den Winterreden zu kurz gekommen seien. Das Karl der Grosse betont zurecht die Bedeutung der Diversität und Gleichbehandlung, doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt es manchmal Lücken. Als älterer, weisser CIS-Mann, der ein liberales und nachhaltiges Weltbild vertritt, finde ich es wichtig, diesen Punkt anzusprechen. Denn wahre Diversität bedeutet, dass alle Stimmen, die auf demokratischen Prinzipien und Toleranz basieren, einen Platz haben – unabhängig davon, ob sie dem Mainstream entsprechen oder nicht.

Eine der grossen Stärken des Liberalismus ist die Idee von Immanuel Kant, wonach die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Doch diese Freiheit bringt Verantwortung mit sich – und sie verlangt, dass wir einander zuhören. Nur durch das Zuhören können wir Brücken bauen, gegenseitiges Verständnis fördern und Kompromisse finden.

Zürich ist eine Stadt der Vielfalt. Menschen aus über 170 Nationen leben hier zusammen, bringen ihre Geschichten, ihre Träume und ihre Perspektiven mit. In einer solch diversen Gemeinschaft kann dies nur gelingen, wenn wir einander zuhören. Das bedeutet nicht nur, die Worte des anderen wahrzunehmen, sondern wirklich zu versuchen, die dahinterliegenden Gedanken, Gefühle und Anliegen zu verstehen. Es bedeutet auch, die eigene Perspektive hin und wieder zu hinterfragen und Platz zu machen für andere Sichtweisen. Persönlich wünsche ich mir, dass dereinst alle am politischen Prozess teilnehmen können, egal ob Schweizer:in oder Ausländer:in, frei nach dem Prinzip: «No taxation without representation.»

Als jemand, der in der in der Altstadt aufgewachsen ist, wo man so nah beieinander lebt, dass Gespräche fast unvermeidlich sind, habe ich schon früh gelernt, wie wichtig es ist, mit unterschiedlichsten Menschen in Kontakt zu treten. Dieses Zusammenleben fördert nicht nur den Austausch, sondern zeigt auch, wie entscheidend Dialog für das gegenseitige Verständnis ist. Unsere Demokratie basiert auf dem Prinzip des Dialogs. Und Dialog beginnt mit Zuhören. Hier im Karl der Grosse, einem Ort, der den Austausch und die Debatte fördert, können wir lernen, wie wichtig es ist, nicht nur unsere eigene Meinung zu vertreten, sondern auch die Argumente anderer ernst zu nehmen. In einer polarisierten Welt ist das keine Selbstverständlichkeit mehr. Doch genau das macht uns als freie und demokratische Gesellschaft stark und wir müssen dieser Gesellschaft Sorge tragen.

Zürich hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer Stadt entwickelt, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell und gesellschaftlich eine zentrale Rolle in der Schweiz spielt. Wir sind ein Labor für neue Ideen, ein Ort, an dem Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern von der Mehrheit als Bereicherung gesehen wird. Diese Offenheit ist jedoch keine Selbstverständlichkeit. Sie ist das Ergebnis harter Arbeit, kluger Entscheidungen und einer Kultur, die auf Toleranz und gegenseitigem Respekt aufbaut.

In einer Stadt wie Zürich müssen wir uns immer wieder fragen: Wie schaffen wir es, dass jede und jeder gehört wird? Wie können wir sicherstellen, dass niemand zurückgelassen wird? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten, aber sie sind zentral für den Zusammenhalt unserer Gemeinschaft.

Zürich ist nicht nur eine Stadt in der Schweiz; wir sind Teil einer globalisierten Welt. Unsere Entscheidungen, unsere Haltung, unser Umgang miteinander strahlt über die Stadtgrenzen hinaus. Als grösste Stadt der Schweiz tragen wir eine besondere Verantwortung. Wir müssen ein Vorbild sein – für Toleranz, für Integration und für die Art und Weise, wie wir mit Vielfalt umgehen. Und ich kann Ihnen sagen, dass war in Zürich nicht immer so und deshalb bin ich glücklich und froh, dass sich meine und ihre Stadt in diese Richtung entwickelt hat und hoffentlich weiter entwickeln wird.

In einer Welt, die zunehmend von Konflikten und Spannungen geprägt ist, können wir zeigen, dass ein anderes Modell möglich ist. Ein Modell, das auf Dialog basiert, auf dem Willen, einander zuzuhören, und auf der Einsicht, dass wir gemeinsam stärker sind.

Zum Abschluss möchte ich Sie alle ermutigen: Lassen Sie uns wieder mehr zuhören. In unseren Familien, in unseren Nachbarschaften, in unseren politischen Diskussionen. Lassen Sie uns den Mut haben, die eigene Perspektive zu hinterfragen, und die Geduld, uns auf andere Sichtweisen einzulassen. Denn nur so können wir die Herausforderungen unserer Zeit meistern.

So und jetzt haben Sie genug zugehört – jetzt ist es an der Zeit, dass ich Ihnen zuhöre, deshalb sind alle, die noch wollen, auf ein Glas Glühwein im Bistro eingeladen. Ich wurde ja nicht nur als Gemeinderatspräsident, sondern auch als Staatsanwalt angekündigt, deshalb lassen Sie mich meine Rede wie ein Plädoyer beenden – ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und habe hiermit geschlossen.

Winterreden - Guy Krayenbühl 2 © David Taddeo
«Nur wenige können diskutieren. Die meisten streiten nur.» (Bild: David Taddeo)

Alle Winterreden 2025 findest du fortlaufend hier zum Nachlesen

  • Eve Moser: «Selbstbestimmtes Handeln ist ein unverzichtbarer Wert – auch für Menschen in Abhängigkeit. Warum sieht unser emotionaler Reflex das anders?», 13.01.2025
  • Guy Krayenbühl: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken.», 14.01.2025
  • Barbara Bosshard: «Fremde Türen öffnen, neue Räume betreten.», 15.01.2025
  • Sandra Betschart: «Das grosse Fussballfest nächsten Sommer in der Schweiz wird uns zeigen, wie weit der Frauenfussball in Europa ist. Hinsetzen und geniessen.», 16.01.2025
  • Prof. Dr. Christoph Sigrist: «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers.», 17.01.2025
  • Jonas Pai: «80 junge Menschen haben ausgearbeitet, wie wir die psychische Gesundheit der Schweizer Jugend verbessern können. Die Umsetzung benötigt nun die Hilfe aller!», 20.01.2025
  • Dina Pomeranz: «Die Welt verbessert sich dank der vielen Menschen, die sich dafür engagieren.», 21.01.2025
  • Karin A. Wenger: «Wie genau, und wie lange, wollen wir wirklich hinschauen?», 22.01.2025
  • Malik El Bay: «Digitalisierung formt die Gesellschaft. Doch wie stellen wir sicher, dass die Gesellschaft die Digitalisierung formt?», 23.01.2025
  • Mandy Abou Shoak: «Sicherheit durch Frieden und Gleichheit durch Solidarität», 24.01.2025
    
Ohne deine Unterstützung geht es nicht!

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Medien. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Mittlerweile sind 2000 Menschen dabei und ermöglichen damit den Tsüri-Blick aufs Geschehen in unserer Stadt. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 2500 – und mit deiner Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für Tsüri.ch und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 8 Franken bist du dabei!

Jetzt unterstützen!

Kommentare