Winterrede Eve Moser: «Selbstbestimmtes Handeln – ein unverzichtbarer Wert»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 13. bis 24. Januar 2025 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Eve Moser
Mein Name ist Eve Moser, ich bin Co-Direktorin der Sozialen Dienste der Stadt Zürich und setze mich in dieser Funktion für die Menschen dieser Stadt ein.
Immer wieder werden wir bei unserer Arbeit mit Meinungen und emotionalen Reflexen konfrontiert, die das selbstbestimmte Handeln unserer Klient:innen in Frage stellen. Mit emotionalem Reflex ist eine spontane, automatische Gefühlsreaktion ohne bewusste Kontrolle gemeint, die uns Situationen rein emotional und ohne rationale Korrektur bewerten lässt.
Auch wenn ich das jeweils aus professioneller Sicht ganz anders beurteile, kann ich diese emotionalen Reflexe gut nachvollziehen – die einen ein bisschen besser, die anderen etwas mühevoller. Wenn ich aber rational über die Situationen nachdenke, komme ich immer wieder zum selben Schluss: das selbstbestimmte Handeln ist ein unverzichtbarer Wert, auch für Menschen in Abhängigkeit. Ich möchte Ihnen heute darlegen, was mich zu dieser Überzeugung bringt.
Stellen Sie sich vor, wie Sie irgendwann jenseits der 80 in gewissen Bereichen in eine Abhängigkeit kommen. Natürlich ist Ihr Radius inzwischen etwas eingeschränkt, Ihre Gesundheit nicht mehr in ganz allen Bereichen ohne Beschwerden, mit manchen technischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen tun Sie sich etwas schwer – und ja, Ihr Gedächtnis lässt Sie immer wieder mal im Stich. Aber – obwohl Sie bei der Haushaltsführung, der Körperpflege oder bei der Verrichtung von alltäglichen Handlungen auf Hilfe angewiesen sind, sind Sie noch immer ein denkender, fühlender, handelnder Mensch, mit Ihren Werten, Prinzipien, Vorlieben und Entscheidungen.
Ihre Würde ist unantastbar, Ihre Persönlichkeit ist unverkennbar da – mit allen Ecken und Kanten, die sich allenfalls mit den Jährchen etwas verschärft oder auch abgemindert haben. Und stellen Sie sich vor, wie es sich anfühlt, wenn man in den Bereichen, in denen Sie auf Unterstützung angewiesen sind – und allenfalls darüber hinaus – Entscheidungen für Sie trifft. Man entscheidet beispielsweise, wann Sie was essen. Und obwohl Sie Ihr Leben lang Sauerkraut und Fleischkäse nicht mochten, setzt man Ihnen das regelmässig vor. Und promt fühlen Sie sich in Ihre Kindheit zurückversetzt, als Ihre Eltern darauf bestanden, dass Sie essen, was auf den Tisch kommt. Und nun fühlt es sich als erwachsener Mensch genau gleich an, wenn Sie angewidert das Sauerkraut hinunterschlucken…
Man fragt Sie nicht mehr, welche Kleidung Sie gerne tragen – geschweige denn macht man einen eigenen Einkauf für Sie möglich – sondern kauft Ihnen dieses scheussliche, unförmige Ding und erst noch in beige – wo Sie sich doch nie im Leben ein Kleidungsstück in dieser Farbe gekauft hatten, weil es Sie blass aussehen lässt. Natürlich kommt es zwei Nummern zu gross, denn es soll ja bequem sein für Sie. Was dem unförmigen Ding nicht grad zu mehr Glanz verhilft. Und wenn man Sie zur Ärztin begleitet, spricht diese nicht etwa mit Ihnen, sondern direkt mit Ihrer Begleitung – über Sie. Und wenn Sie Pech haben, entscheiden die beiden auch, welche Behandlungsschritte für Sie am besten sind.
Gefragt oder ernst genommen werden Sie dabei kaum, nur ihr Einverständnis sollen sie noch geben – reine Formsache. Wenn Sie ein neues Handy kaufen möchten, weiss Ihr Enkel natürlich ohne Rücksprache mit Ihnen, welches Gerät für Sie das passendste ist und hat es Ihnen schon in den Briefkasten gelegt; wenn Sie wieder mal eine Reise machen möchten, meldet Ihre Tochter Sie bei einer Senioren-Car-Reise ins Elsass an, weil sie gehört hat, dass das ganz praktisch sei – oder man redet Ihnen die Reise ganz aus, weil viel zu umständlich und zu gefährlich für Sie – in Ihrem Alter.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht bei dieser Vorstellung. Ich jedenfalls würde mich nicht ernstgenommen fühlen und es als klar falsch empfinden, wenn andere über mich entscheiden. Natürlich erkenne ich – wenn ich die Szenerie mit etwas Abstand betrachte – dass alle diese Menschen eines verbindet: Sie meinen es gut. Ihr emotionaler Reflex lässt sie Entscheidungen für mich treffen, weil sie denken, es wäre das Beste für mich, ich müsste vor mir selber geschützt oder zumindest zu meinem Glück geschubst werden. Ihr Handeln entspringt Ihrer Fürsorge oder ihrem Verantwortungsgefühl – und ist damit eben wirklich «gut gemeint». Und doch: Es ist meiner Meinung nach grundlegend falsch, in solchen Situationen Entscheidungen für andere Menschen zu fällen.
Im gleichen Spannungsfeld – hochgradig akzentuiert – bewegen sich die Berufsbeiständinnen und Berufsbeistände der Sozialen Dienste. Als Berufsbeistandsperson übernehme ich von Amtes wegen die Entscheidungsgewalt über eine Person, die einen ausgewiesenen Schutzbedarf hat. Das kann beispielsweise eine fortgeschrittene Demenz, eine psychische Erkrankung oder eine kognitive Beeinträchtigung sein.
Versetzen Sie sich gedanklich nun in die Rolle einer Berufsbeistandsperson. Sie sind zuständig für Simone Weber, eine 70-jährige Frau mit einer psychischen Erkrankung, ohne familiäre oder freundschaftliche Kontakte. Simone Weber hat aufgrund ihrer Erkrankung grosse Mühe, ihre administrativen und finanziellen Angelegenheiten in Ordnung zu halten, Termine wahrzunehmen und ihren Pflichten nachzukommen. Es drohte eine Verwahrlosung und Frau Weber wurde deshalb vor drei Jahren verbeiständet.
Gerade öffnen Sie einen Brief von Frau Weber, der fein säuberlich handschriftlich an Sie adressiert ist. Darin befinden sich – wieder mal – vier Einzahlungsscheine für Spendenorganisationen: 70 Franken für «ein Herz für Tiere», 85 Franken für «Médecins Sans Frontières», …. Frau Weber bittet Sie, die Spenden im Umfang von insgesamt 320 Franken zu tätigen und ihr ausserdem drei Hunderternoten zuzustellen.
Sie verwalten das Geld von Frau Weber und wissen deshalb sehr genau, wie es um ihre finanziellen Mittel steht: Sie hat eine AHV- und eine kleine Pensionskassenrente. In der Summe nicht wirklich üppig, aber sie braucht diese monatlichen Einkünfte nicht auf, weil sie – typisch für die Nachkriegsgeneration – enorm bescheiden lebt. Ausserdem hat sie 30'000 Franken Erspartes, das sie für ihren Lebensunterhalt nicht benötigt. Frau Weber bittet Sie immer wieder, für Hilfsorganisationen zu spenden. Die Hunderternoten steckt sie regelmässig einem jungen Mann zu, der an einer Suchterkrankung leidet. Aus Ihrer Sicht verschenkt Frau Weber ihr Geld wahllos, lässt sich vom jungen Mann ausnützen, der das Geld direkt in Drogen steckt, und sorgt sich dabei viel zu wenig um sich selbst. Sie ernährt sich karg und wenigstens könnte sie sich doch mal einen warmen Wintermantel leisten…
Wie gehen Sie also mit dem Anliegen von Frau Weber um?
Führen wir uns nochmal Ihre Rolle vor Augen: Sie sind von Amtes wegen eingesetzt, weil Frau Weber einen ausgewiesenen Schutzbedarf hat. Ihre Verantwortung ist es, sich «zum Besten» von Frau Weber einzusetzen, weil sie das selber nicht mehr ausreichend kann.
Ist es da nicht naheliegend, dass Sie die Zahlungen an den drogensüchtigen jungen Herrn unterbinden möchten, die wahllosen Spenden zumindest eingrenzen und dafür sorgen möchten, dass Frau Weber sich anständig ernährt und sich einen warmen Wintermantel kauft? Gut möglich, dass Ihr emotionaler Reflex genau zu diesem Schluss kommt. Dass Sie aus Fürsorge oder Verantwortungsgefühl das als «das Beste für Frau Weber» empfinden.
Doch ist es das? Ist es tatsächlich zum Besten von Frau Weber, wenn Sie so entscheiden? Werfen wir einen Blick auf Frau Webers Leben: Sie hat sich ihr Leben lang für Ärmere, Schwächere und für Menschen in Krisenregionen eingesetzt. Sie war engagiert im Tierschutz, hat Spenden für Kriegsopfer gesammelt. Auch in Zeiten von bescheidenem Einkommen hat sie regelmässig grössere Summen gespendet. Sie hat sich auch in ihrem Umfeld immer für andere eingesetzt, geradezu selbstlos. Nicht selten wurde sie dabei ausgenutzt oder verletzt. Man hat jedoch nie gehört, dass sie sich über die anderen beklagt hätte.
Im Gegenteil, sie schien in dieser Rolle aufzugehen. Doch eben: Nicht alle bezahlten das mit gleicher Münze zurück. Heute ist Frau Weber sehr einsam. Einer der wenigen Sozialkontakte besteht aus den Besuchen des jungen Mannes. Sie fühlt sich geschmeichelt, wenn er Zeit mit ihr verbringt und geniesst diese Stunden. Sie weiss, dass das Hunderternötli, das sie ihm jeweils am Ende des Besuches zusteckt, eine grosse Motivation für ihn ist, wieder zu kommen.
Ist es unter diesem Blickwinkel immer noch «das Beste für Frau Weber», ihr diese Handlungen nun zu verweigern? Was meinen Sie?
Natürlich gibt es ein Spannungsfeld zwischen Schutzbedarf und selbstbestimmtem Handeln. Grenzen von selbstbestimmtem Handeln sind beispielsweise gegeben, wenn ein Kind darunter zu leiden hätte. Oder wenn eine akute Krisensituation Menschen zu fatalen Entscheidungen führt. Oder eine kognitive Einschränkung den Menschen die Folgen seines Tuns partout nicht abschätzen lässt. Das selbstbestimmte Handeln steht auch im Spannungsfeld mit sich widersprechenden Anforderungen und Bedürfnissen, beispielsweise Praktikabilität und Finanzierbarkeit als Gesellschaft oder im Austausch mit anderen Menschen. Aber die Grenzen von selbstbestimmtem Handeln sind viel weiter, als unser emotionaler Reflex es meist sieht.
Beispielsweise wenn ein Mensch Sozialhilfe bezieht, empört sich der emotionale Reflex von vielen, wenn er das Geld für Zigaretten, Alkohol und rauschende Partys ausgibt. Emotional ist das nachvollziehbar – bezieht er doch das Geld vom Staat, der ihm damit ein menschenwürdiges Leben und soziale Teilhabe ermöglichen möchte und hat er doch den Rest des Monats kaum mehr Geld für Essen und Kleidung und geht deshalb betteln. Doch haben wir als Gesellschaft wirklich das Recht, diesem Menschen die Entscheidungsgewalt abzusprechen, festzulegen, wofür er sein Geld ausgibt – so wie wir alle auch?
Darf man als Mensch in Abhängigkeit nicht unvernünftig sein? Und was für Zwangsmassnahmen müssten wir auffahren, um seine Verwendung des Geldes zu regeln? Wie verhindern wir, dass er das Geld für Alkohol und Zigaretten ausgibt und wie schreiben wir ihm vor, sich stattdessen gesund zu ernähren? Wäre ein solcher Eingriff mit unseren Grundwerten vereinbar? Wollen wir das als Gesellschaft? Wollen wir Menschen, die nicht für sich selber sorgen oder aufkommen können – und deshalb in Abhängigkeit geraten sind – das Recht auf selbstbestimmtes Handeln absprechen?
In meinen Augen ist selbstbestimmtes Handeln ein unverzichtbarer Wert – auch für Menschen in Abhängigkeit. Und falls Sie Selbstbestimmung für ein ebenso hohes Gut halten wie ich, lade ich Sie ein, Ihre emotionalen Reflexe jeweils zu hinterfragen, bevor Sie sich Ihre Meinung bilden oder zu einer Handlung entscheiden. Auch wenn Ihr emotionaler Reflex absolut nachvollziehbar oder «gut gemeint» ist…
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und hoffentlich ein Leben lang selbstbestimmte Entscheidungen wünsche ich Ihnen.
Eve Moser
Alle Winterreden 2025 findest du fortlaufend hier zum Nachlesen
- Eve Moser: «Selbstbestimmtes Handeln ist ein unverzichtbarer Wert – auch für Menschen in Abhängigkeit. Warum sieht unser emotionaler Reflex das anders?», 13.01.2025
- Guy Krayenbühl: «Wer gut sprechen will, muss erst gut nachdenken.», 14.01.2025
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