Winterrede Christoph Sigrist: «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers»
Das Debattierhaus Karl der Grosse lädt auch dieses Jahr wieder zu den «Winterreden» ein. Verstummt der Glockenschlag des Grossmünsters um 18 Uhr, beginnt vom 13. bis 24. Januar 2025 eine Winterrede. Du hast die Winterrede verpasst? Bei uns kannst du sie nachlesen!
Hier geht's zum weiteren Programm.
Rede: Christoph Sigrist
Liebi Karlas, liebi Karlis die Grosse.
Herzlich willkomme, da vorem Grossmünschter bi de Karl*a und au dihei am Radio, zu minere Winterred.
Ich han während Jahre, det wo sie jetzt schtönd hindedra, s’Fondue-Schtübli meischtens ghasst als gliebt. Wel de Gschtank isch is Grossmünschter inedrunge, und das hät mich irritiert bim Predige.
Dänn hani ich das kehrt und bin usegange, miteme Yak-Glöggli vo Nepal, han underbroche im Fondue-Schtübli i de Adventsziit, han die ganz Crew bi mir gha, und han ihne verzellt, det wo sie jetzt hocked oder sie jetzt schtönd, nämli ufem Grab vo Felix und Regula, han ihne gseit: «Gschpüred sie s’Vibriere underem Bode, wänn sie jetzt da s’Fondue gnüssed zur Adventsziit?».
Das hät so e Schtilli gäh, dass ich dänke, die Gschicht hät’s i sich.
Vor es paar Hundert Jahr, um 800, hät mer a dere Schtell die Legände usem vierte Jahrhundert verzellt, wo Felix und Regula, das ägyptisch-koptischi Paar, mitem Maurizius vo Saint-Maurice über s’Glarnerland dahii cho isch, und i de Ziit vom Diokletian dänn da i de Wasserchile vom Decius, wo de römischi Häscher vom Lindehof gsi isch, gfange gno worde isch.
Sie händ ihre Glaube bekännt, sind standhaft gsi gägenüber em Staat, damals. Dänn sind’s gfolteret worde, und am Schluss köpft. Und 40 Schritt sind’s dänn da duruuf, und genau det, wo sie jetzt schtönd, sind Felix und Regula ebe umgheit.
Drum heisst s’Karl der Grosse au Karla und Karli. Mir händ immer das dopplete Paar, sit 800 nach Christus.
Sit do isch d’Stadt Züri d’Stadt, wo mer Mänsche gsehnd, wo chopflos umenandcheibed. Und die Chopflose, die händ Gheimnis – und ich wet ihne hüt z’Abig drüü vo dene Gheimnis verzelle.
S’erschte Gheimnis.
Macht tuet töte, Machtmisbruuch chunt vor, Macht chan extrem sii, radikal werde, und wänn’s i de Politik, i de Religion, i de Wirtschaft radikal wird, dänn isch’s vom Tüüfel, und dänn git’s Tod, Usgränzig, Diskriminierig, Machtmisbruuch und Instrumentalisierig.
Und wänn Mänsche mit Migrationshindergrund i eusere Stadt oder i Bundesbern instrumentalisiert werded vo de Parteipolitik, dänn isch am Schluss meischtens de Tod oder de Feind s’Resultat devo.
Euseri Stadtheilige Felix und Regula, wo vo Ägypte chömed, händ en Migrationshindergrund. Das heisst, au de Bode vo de Stadt Züri hät en Migrationshindergrund. Unabhängig devo, i welere Partei dass mer isch oder öb mer no i de Chile isch oder nöd: Mir ali schtönd uf Migrationsgrund.
Das heisst, s’erschte Gheimnis vo de Chopflose i eusere Stadt, wo umenandcheibed, isch:
Heimat schtaht immer uf Migrationsbode, heimisch heisst immer Migration.
S’zweite Gheimnis.
De Chopf cha jede und jedi verlüüre.
Und im Verlüüre chunt au jede wieder en neue Chopf gschänkt über, mit de Hoffnig, dass mer doch no en klare Verschtand händ, es offes Ohr, wachi Auge und es Muul, wo no gschiid redt.
Das erläbed mer immer wieder, wänn i eusere Stadt Katastrophe passiered, Terroraschläg, Antisemitismus oder Rassismus, dänn wird uf eimal de Chileruum da vis-à-vis, s’Grossmünschter, interessant, und Hunderti vo Lüüt chömed zäme, tüend Cherzä aazünde und tüend mitenand bätte, ali Religione zäme. Sogar Athetischtinne und Atheischte tüend dänn uf eimal s’Muul halbwegs uf und zue, wänn die andere tütend bätte.
D’Stadtheilige sind vor 500 Jahr vom Ueli Zwingli, em Reformator, mit sine Fründinne und Fründe vom Sockel treit worde, am 14. Dezämber 1524, und am 17. Dezember isch s’Grab, damals vor 500 Jahr, uufghobe worde. Und de Zwingli seit: Statt Goldmäntel um Felix und Regula, die Heilige, git’s jetzt warmi Suppe für die Arme, bi de Predigerchile, i der erschte Stadtchuchi.
S’zweite Gheimnis vo de Chopflose isch also: Jede chan d’Heimat verlüüre, jede chunt Heimat gschenkt über, Heimat isch unverfüegbar, nöd chaufbar, nöd machbar, drum isch s’Zämeläbe dänn guet i eusere Stadt, wänn mer’s uusrichtet am Wohl vo de Schwächschte.
Im Moment rächned mir öppe mit Hundert, wo obdachlos i eusere Stadt under de Brugg oder da under de Münschterbrugg tüend übernachte. D’Heilsarmee, s’Sieber-Werch, d’Solidara sind da, und au d’Stadt, so dass niemert verfrüürt i eusere Stadt.
Und drum heisst’s hüt z’Abig i de Winterred: Stattheiligi – heiligi Stadt vo de Arme. Statt Heiligi im Chileruum git’s e heiligi Stadt vo de Arme da usse, usserhalb vom Chileruum.
S’dritte Gheimnis.
De Chopf träged Felix und Regula immer näbed em Herz da d’Schtäge duruuf. De Chopf näbed em Herz träge: Das hät eine kapiert, wo ganz nöch gsi isch bi mir, nämli de Ernst Sieber, de Obdachlose-Pfarrer. Er hät mer s’Bild gäh, dass eigentlich d’Exischtenz – nöd nur vome Chrischt, sondern vo jedem, wo da isch, wo i eusere Stadt wohnt – d’Exischtenz vome Chopfsalat isch.
Also, liebi Chopfsalätinne und Chopfsalät, herzlich willkomme!
Im Chopfsalat verschmelzed Chopf und Herz zu eim Punkt, und dänn chunt d’Grüenchraft, voll vo Läbe, und dänn gaht’s los. Ja, mir händ de Salat, wänn ali Chopfsalät werded.
Doch das Bild, find ich, isch eis vo dene Bilder, wo sich guet mit Felix und Regula tuet verbinde, wel mir händ ja d’Chöpf vo Felix und Regula z’Andermatt obe, das chönd Sie det gseh. 1988 sind’s undersuecht worde, d’Chöpf, und de Chopf vo de Regula beschtaht us zwei Hirnhälftene; die eint Hirnhälfti isch us em zweite Jahrhundert vor Christus, die ander us em vierte Jahrhundert nach Christus.
Da sind mir Reformierte no froh, wänn mir das so chönd erchäne.. Und so hämer au da also de Chopfsalat als Exischtenz.
Drum sind euseri Stadtheilge hüt all die, wo sich i de Gasse und i de Beize, i de Ratssäl und i de Hörsäl muetig iisetzed für d’Schtimme vo de Stumme, vo dene, wo nöd so chönd rede wie ich jetzt da usem Erker vom Karli.
S’dritte Gheimnis vo de Chopflose isch drum: Heimat klingt meischtens us de Schtilli use.
Die drüü Gheimnis – dass Heimat uf Migrationsbode schtaht, dass mer Heimat immer chan verlüüre und immer chan gwünne, und dass Heimat meischtens us de Schtilli chunnt – bringed mich zum Abschluss, zu me Uusschtiig, wo ich nüme i s’Fondue-Schtübli gane, sondern in Chileruum.
Im Chileruum hät’s ganz en spezielle Altar gha, wo mer im 12. Jahrhundert iigfüehrt hät. Wel wo d’Stadt Züri immer me zur Stadt worde isch, hät mer die beschti Marke, de beschti Brand bruucht für s’Grossmünschter, und das isch de Karl der Grosse gsi. Hüt wär’s vilicht de Roger Federer oder de Odermatt..
Uf all Fäll hät mer das Label gno, Karl der Grosse. Und wel mer öpis bruucht hät zum Verehre, hät mer en Duume gno, und hät de als Reliquie i de Altar inetah. So händ’s bis zur Reformationsziit de Duume vom Karl der Grosse verehrt.
Sit do lueg ich immer min Duume aa, und richte min Kompass uf de Duume. Und wänn sie jetzt min Duume gsehnd: Duume nach ufe, mer druckt d’Duume – und so druck ich d’Duume. Drucked Sie jetzt sälber au mal die Düüme, nämli so, dass i dem Jahr 2025 ali i die heilig Stadt inegönd, und mer, au wänn mer chopflos umenandcheibed, d’Hoffnig nie verlüüred, dass mer immer wieder öpedie chönd s’Brot teile, chönd Suppe für die Arme gäh und i d’Stallwärmi inegah.
Drum chömed Sie i d’Stallwärmi vom Karli, und sind dihei, gnüssed Sie ihri Wärmi, es isch nämli sauchalt da usse, und drum isch die Predigt jetzt au fertig.
Dies ist eine Medienpartnerschaft mit Karl der Grosse. Es fliesst kein Geld.
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